Krieg der Wächter Simon R. Green The Secret History (de) #2 Mein Name ist Bond. Shaman Bond. Na ja, eigentlich stimmt das nicht ganz. Ich heiße Drood. Eddie Drood. Einer der großen und mächtigen Droods. Ihr wisst schon ┤ die Droods? Die harten, höllisch gut aussehenden Kämpfer, die es mit den Monstern der Welt aufnehmen, damit ihr unbeschwert leben könnt. Wir Droods sind die einzigen, die zwischen denen und euch stehen. Wir sind die letzte Hoffnung der Welt. Dummerweise traue ich nicht mal meiner eigenen Familie. Denn wenn ich eines weiß: Vertraue dem Falschen, und alles geht den Bach runter. Und wie es aussieht, steht mir das kurz bevor… Simon R. Green KRIEG DER WÄCHTER MENSCHEN SIND STERBLICH, ABER DÄMONEN SIND UNVERGÄNGLICH Mein Name ist Bond. Shaman Bond. Der total geheime Geheimagent. Einst war alles, was zwischen der Welt, die Sie kennen, und den Mächten der Finsternis stand, meine Familie. Durch unsere goldene Rüstung stark und mächtig, bekämpften wir um Ihretwillen die Monster und beschützten Sie vor ihnen. Von klein auf wurde jedes Mitglied unserer Familie dazu erzogen, unter größter Geheimhaltung den guten Kampf zu kämpfen. Damit Sie nie erfahren mussten, in was für einer gefährlichen Welt Sie wirklich leben. Ich war ein Frontagent, mit der Lizenz zum Treten in übernatürliche Ärsche. Ihr Ritter ohne Furcht und Tadel, der die Wölfe von Ihrer Tür fernhielt. Und dann fand ich heraus, dass alles eine Lüge war. Meine Familie beschützte die Welt nicht - wir regierten sie, aus dem Dunkel heraus. Und die prächtige goldene Rüstung, die aus uns so viel mehr als Menschen machte, forderte einen geheimen Preis, der zu furchtbar war, um ihn weiter zu zahlen. Also brachte ich meine Familie zu Fall. Und für meine Sünden übertrugen sie mir die Leitung. Um die Familie zu führen und ihre Ehre wiederherzustellen. Mein wahrer Name ist Eddie Drood. Ich bin die letzte Hoffnung der Welt. Und die Welt, sie steckt in großen Schwierigkeiten. Kapitel Eins Ganz normale Tage Die Welt ist nicht das, wofür Sie sie halten. Teufel auch, nicht mal London ist das, wofür Sie es halten. Hinter jeder Ecke gibt es Monster, in jedem Schatten lauern Kreaturen und es finden mehr finstere Verschwörungen und geheime Kriege statt als es Dämonen in der Hölle gibt. Natürlich erfahren Sie nie etwas davon, weil die Drood-Familie überall Frontagenten hat, die die Lage unter Kontrolle halten und dafür sorgen, dass alle nett zueinander sind. Sind sie es nicht, töten wir sie. Wir halten nichts von zweiten Chancen; wir halten etwas davon, die Brände auszutreten, bevor sie sich ausbreiten können. Meine Familie kümmert sich seit fast zweitausend Jahren darum, dass die Welt ein sicherer Ort ist. Wir sind sehr gut darin. Und dann entdeckte ich die Wahrheit hinter den Lügen, und nichts ergab mehr Sinn. Als ich das letzte Mal meine nette kleine Wohnung in London besuchte, mein Zuhause in angemessener Entfernung von meinem Haus, schien mein Leben noch einen gewissen Sinn zu ergeben. Ich war ein erfahrener Frontagent, samt Tarnname und Tarnidentität und der wunderbaren goldenen Rüstung, die mich zu so viel mehr als einem Menschen machte. Ich ging hin, wo die Familie mich hinschickte, tat, was mir gesagt wurde, und nie wäre es mir auch nur in den Sinn gekommen, Fragen zu stellen. Es war mein Job, die Welt vor dem zu beschützen, was an finsteren und niederträchtigen Mächten in der jeweiligen Woche gerade ein paar hinter die Löffel brauchte, und ich war dafür bekannt, dass ich diesen Job auch erledigte, egal welche Komplikationen er mit sich bringen mochte. Ich wusste, wer die Guten und wer die Bösen waren. Nichts wusste ich. Meine Wohnung lag in Knightsbridge; ein gemütliches Apartment in einer wirklich netten Gegend, wo niemand wusste, wer ich wirklich war. Ich verdiente genug, um ein sowohl stilvolles als auch sorgenfreies Leben zu führen, und keiner belästigte mich. So sah mein Leben aus, noch vor wenigen Monaten. Bis eines Tages, ohne Vorwarnung, die Familie mich grundlos zum Vogelfreien erklärte und ich mich auf die Flucht begeben musste, um mein Leben zu retten. Auf der Suche nach Antworten fand ich die schreckliche Wahrheit über meine Familie und die Welt heraus, und seitdem ist nichts mehr, wie es einmal war. Und jetzt war ich wieder hier in London und neben mir saß die wilde Waldhexe Molly Metcalf, während ich mein neues Auto durch die zumeist menschenleeren Straßen lenkte. Es war früh am Morgen, die Sonne gerade erst aufgegangen, die Vögel sangen sich die kleinen Herzen aus dem Leib und in der Luft lag diese erwartungsfrohe Alles-kann-passieren-Atmosphäre, die von allen großen Städten am Beginn des Tages ausgeht. Molly Metcalf, Anarchistin, Terroristin und eine ganze Anzahl anderer -istinnen, die damit zu tun hatten, den maßgeblichen Regierungsstellen Scherereien zu machen, rekelte sich zufrieden auf dem Beifahrersitz und trommelte auf dem Armaturenbrett mit beiden Händen einen Rhythmus, um das Breed 77-Album zu begleiten, das über die Musikanlage des Wagens lief. Eine Frau wie eine kleine und zerbrechliche China Doll mit kurz geschnittenen schwarzen Haaren, riesigen dunklen Augen und großen Brüsten. Sie trug einen schwarzen, hautengen einteiligen Lederanzug, dazu ein Hexenmesser, das an einer langen Silberkette um ihren Hals hing. Molly gehörte früher zu den Bösen … Sie gehörte vermutlich immer noch dazu, je nach dem, wie man es betrachtete. Wir haben eine Menge gemeinsamer Vergangenheit und versuchten früher sogar einige Male, uns gegenseitig umzubringen, wenn wir auf verschiedenen Seiten einer Mission gelandet waren. Inzwischen unterhalten wir eine feste Beziehung und ich wäre in schwerer Bedrängnis, wenn ich sagen müsste, wen von uns das mehr überraschte. Ich, ich bin nur ein weiteres Gesicht in der Menge, dazu ausgebildet, unauffällig mit ihr zu verschmelzen. Und ich habe noch nie im Leben einen Wodka-Martini - geschüttelt, nicht gerührt! - bestellt. Unter völliger Missachtung von Ampeln, Verkehrsvorschriften und jeglichen Formen von Anstandsregeln für den Straßenverkehr ließ ich den neuen Wagen durch die Straßen donnern. Genau genommen war es allerdings gar kein neuer Wagen. Meinen geliebten Hirondel hatte ich während meiner Zeit auf der Flucht aufgeben und zerstören müssen, aber ich hatte den Waffenmeister, unseren Familienexperten für Waffen und anderes Agentenspielzeug, dazu bewegen können, mich mit einem neuen Satz Räder zu versorgen. Ich fuhr jetzt ein liebevoll restauriertes 1933er-Viereinhalb-Liter-Bentley-Cabrio mit Stoffverdeck in Renngrün mit Lederinterieur und einem Amherst-Villiers-Kompressor unter der langen, glänzenden Motorhaube. Der Wind schlug nach meinen Haaren, während wir dahinbrausten, und ich schaltete öfter, als streng genommen nötig war, nur um anzugeben. Es war eine großartige grüne Bestie von einem Auto, höllisch elegant und gelassen glamourös auf jene Art, die moderne Autos nicht einmal mehr anstreben. Ich knallte den nächsten Gang rein, trat aufs Gas, und der Bentley schoss vorwärts wie ein Jagdhund, den man von der Leine gelassen hatte. Molly jauchzte vor Freude und genoss die Geschwindigkeit und die Beschleunigung. »Das ist ein Wahnsinnswagen, Eddie! Wo hast du ihn geklaut?« »Er hat einmal meinem Onkel Jack gehört«, schrie ich über das Dröhnen des Motors zurück. »Damals in den Fünfzigern, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, als er in Osteuropa tätig war und ohne Rücksicht auf Verluste Buschfeuer austrat. Es heißt, er habe persönlich drei Weltkriege verhindert und um ein Haar selbst einen ausgelöst, als er mit der Frau eines Politikers im Bett erwischt wurde. Und seiner Geliebten. Onkel Jack ging in der Folge natürlich zu schnelleren und protzigeren Wagen über, aber seine Zuneigung zu diesem hier hat ihn nie verlassen, und deshalb hat er ihn jahrelang in Schuss gehalten. Selbstverständlich hat er ihn mit Spezialanfertigungen vollgepackt; als Waffenmeister der Familie musste er immer das beste Spielzeug haben.« »Was zum Beispiel?« Ich grinste. Ich musste einfach. »Kugelsicheres Chassis, kugelsichere Scheiben, mit Silikon-Gel gefüllte Reifen, die nicht plattzukriegen sind, Maschinengewehre vorn und achtern, die zweitausend Explosivnadelgeschosse pro Minute abfeuern können. EMP-sicher, zauberspruchsicher, fluchsicher, dazu all die üblichen versteckten Extras. Die Bedienungsanleitung ist so dick wie das Londoner Telefonbuch. Als Kinder studierten wir sie früher alle eifrig in der Bibliothek und träumten von dem Tag, wo wir Frontagenten sein und solche Autos fahren würden. Ach und übrigens - versuch nicht, den Zigarettenanzünder zu benutzen: Flammenwerfer.« »Klasse! Lass ihn uns ausprobieren!« »Lieber nicht. Wir sollen keine Aufmerksamkeit erregen, schon vergessen? Warte, bis wir eine Politesse sehen. Oder einen Straßenpantomimen.« Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder in London zu sein und durch die vertrauten Straßen zu fahren, nachdem so viel passiert war. Die Straßen sahen noch genauso aus, und ohne Zweifel lebten die Menschen ihr alltägliches Leben weiter, als ob sich nichts geändert hätte. Aber es hatte sich alles geändert. Jetzt, wo die Familie weg vom Fenster war, war die ganze Welt für jeden zu haben, auch wenn es noch niemand wusste. Meine Familie leitete die Welt nicht mehr, und der einzige Grund, weshalb die Welt sich noch nicht zerfleischte, um das neue Machtvakuum auszufüllen, war - dass alle maßgeblichen Mächte darauf warteten, dass die anderen losschlugen. »Warum fahren wir nochmal in deine alte Wohnung?«, fragte Molly. »Das hab ich dir doch schon gesagt. Und wenn du noch ein Mal Sind wir schon da? fragst, dann drücke ich den Knopf für den Schleudersitz!« »Dieses Auto hat keinen Schleudersitz!« »Es könnte einen haben. Das weißt du nicht.« »Rede mit mir, Eddie! Du erzählst mir nie, was du denkst!« »Hey, ich bin an dieses ganze Beziehungskistending nicht gewöhnt, okay? Wenn du als Frontagent arbeitest, lernst du ziemlich schnell, dass du niemandem vertrauen kannst.« »Nicht einmal denjenigen, die dir nahe stehen?«, fragte Molly und betrachtete mich ernst mit ihren großen dunklen Augen. »Denen ganz besonders nicht. Bei einem Feind weißt du immer, woran du bist; verraten können dich nur Freunde und Menschen, die du liebst.« Ich holte tief Luft und starrte durch die Windschutzscheibe. »Falls ich die Familie führen werde - und es sieht so aus, als bliebe mir keine andere Wahl, weil sonst niemand da ist -, dann muss ich im Herrenhaus wohnen. Und sei es auch nur, weil es immer noch viel zu viele Familienmitglieder gibt, denen ich nicht gefahrlos den Rücken zuwenden kann. Die Wahrheit mag befreiend sein, aber niemand hat behauptet, dass man dafür dankbar sein muss. Ich muss Herr der Lage sein. Aber wenn ich schon wieder in diesem zugigen alten Gebäudekomplex leben muss, dann will ich einige meiner Lieblingssachen bei mir haben. Nur ein paar Sachen, die mir wichtig sind, damit sich das Herrenhaus wenigstens wie ein Zuhause anfühlt.« »Häng dich nie an Besitztümer!«, sagte Molly energisch. »Das sind nur Gegenstände, und Gegenstände kann man immer kriegen.« »Du hast keinen einzigen sentimentalen Knochen im Körper, was?« »Hätte ich einen, würde ich ihn mir operativ entfernen lassen. Ich sehe immer nach vorn und nie zurück.« »Nun ja«, meinte ich. »Aber du lebst ja auch in einem Wald. Was würdest du denn ins Herrenhaus mitnehmen? Deinen Lieblingsbaum?« »Du vergisst, Eddie, dass ich eine Hexe bin! Ich könnte mich dafür entscheiden, den ganzen Wald mitzubringen.« Ich beschloss, das Thema zu wechseln, bevor sie sich in die Idee verrannte. Bei Hexen kann man nie wissen. »Und«, sagte ich so beiläufig, wie ich konnte, »wie kommst du mit der Familie zurecht? Wirst du von allen anständig behandelt? Was hältst du von den mächtigen und mysteriösen Droods, jetzt, wo du die Möglichkeit gehabt hast, uns persönlich und aus der Nähe zu erleben?« »Schwer zu sagen«, meinte Molly. Die Musik hatte aufgehört; ich hatte die Geschwindigkeit gedrosselt, und auf einmal schien es sehr still im Bentley zu sein. Molly förderte eine kleine, silberne Schnupftabakdose aus der Luft zutage, schnupfte eine Prise von etwas Grünem und Leuchtendem, nieste unordentlich und ließ die Dose wieder verschwinden. »Die meisten aus deiner Familie sprechen nicht mit mir. Entweder, weil sie denken, ich hätte dich auf Abwege gebracht, oder weil ich in der Vergangenheit so viele Pläne deiner Familie vereitelt habe. Dabei habe ich doch gar nicht so wahnsinnig viele von euren Leuten getötet! Sie müssen darüber hinwegkommen und nach vorn blicken - damals war damals, und heute ist heute. Na schön, dann habe ich früher halt die schwarzen Künste praktiziert, Aufruhr verbreitet, Aliens entführt und Vieh verstümmelt; ich war eben jung! Ich musste mich austoben! Das ist doch kein Grund, schreiend wegzulaufen, wenn ich mich nur mit den Leuten unterhalten will!« »Sie kennen dich eben nicht so gut wie ich«, sagte ich beruhigend. »Hast du denn gar keine Freundschaften geschlossen?« »Dein Onkel Jack ist in Ordnung«, räumte Molly widerstrebend ein. »Aber er hat immer in der Waffenkammer zu tun. Und Jacob ist ein guter Gesellschafter. Für einen Geist. Und ein alter Lustmolch! Aber abgesehen von den beiden gibt es nur kalte Schultern und gehässige, anzügliche Bemerkungen gerade noch in Hörweite. Ein paar davon waren echt richtig unfreundlich.« Ich nahm die Augen gerade lange genug von der Straße, um ihr einen wirklich ernsten Blick zuzuwerfen. »Bitte sag mir, dass du sie nicht getötet hast!« »Natürlich nicht! Ich habe sie in Sachen verwandelt.« »Was für … Sachen?« Molly lächelte reizend. »Erinnerst du dich noch daran, wie wir letzte Woche Fasan zu essen hatten und du bemerktest, dass eigentlich gar keine Jagdzeit dafür ist?« Ich umklammerte das Lenkrad so fest, dass meine Fingerknöchel weiß wurden. »O mein Gott! Du hast doch nicht -« »Selbstverständlich habe ich nicht! Entspann dich, Eddie! Du kannst manchmal so naiv sein! Ich habe sie bloß alle in Kröten verwandelt und sie für eine Weile im Steingarten ausgesetzt, um ihnen Gelegenheit zum Nachdenken zu geben. Es geht ihnen wieder gut. Bis auf eine leichte Neigung, nach vorbeikommenden Fliegen zu schnappen.« Ich seufzte schwer. Mir schien, als täte ich das viel öfter, seit Molly in mein Leben getreten war. »Falls es dir ein Trost ist: Die meisten Familienmitglieder sind mit mir auch nicht warm geworden«, gestand ich ihr. »Sie respektieren dich«, sagte Molly. »Nur weil sie Angst vor mir haben. Ich habe ihr kostbares Herz vernichtet, den Ursprung ihrer wunderbaren goldenen Rüstung. Der einen Sache, die sie zu etwas Besserem als alle anderen machte. Ich habe bewiesen, dass das Herz böse und die Rüstung eine Scheußlichkeit war, aber noch mehr hassen sie mich dafür, dass ich sie gezwungen habe, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Dass wir nicht die Guten sind und es auch seit Jahrhunderten schon nicht mehr gewesen sind. Obendrein fühlen sich jetzt alle hilflos und verwundbar ohne ihre Rüstung, wehrlos angesichts der zahlreichen Feinde der Familie.« »Du hast ihnen doch neue silberne Torques versprochen, neue Rüstungen. Alle applaudierten und jubelten dir zu! So war es, ich war dabei.« »Die Begeisterung des Augenblicks. Nein, falls ich die Familie führen werde, muss ich es von der Front aus tun. Ich muss sie dazu beflügeln, wieder großartig zu sein; muss mich mit Taten beweisen, nicht bloß mit Worten und guten Absichten. Ich muss beweisen, dass ich würdig bin, die Familie zu führen!« »Es deiner Familie beweisen«, fragte Molly, »oder dir selbst?« Knightsbridge war eine sehr stille und kultivierte Gegend, in der niemand wusste, wer ich war oder was ich tat. Man kannte mich nur als Shaman Bond, einen finanziell unabhängigen Mann, der es vorzog, für sich zu bleiben, nie irgendwelchen Ärger zu machen und immer daran zu denken, am richtigen Tag seinen Müll rauszustellen. Deshalb war es, als ich mich meiner ruhigen und abgelegenen Wohngegend näherte, auch eine gewisse Überraschung für mich, so viele Leute in den Straßen herumlaufen zu sehen, die nicht dorthin gehörten. Ich entdeckte Spione und Agenten aus einem Dutzend verschiedener Länder und Organisationen, die alle eifrig vorgaben, ganz normale Leute zu sein und ihren ganz normalen Beschäftigungen nachzugehen. Aber einen Drood kann man nicht zum Narren halten. Ich verlangsamte den Wagen und sah mir die Sache genauer an. Die Zeichen waren nicht gut. Jeder Zugang zu meiner Wohnung wurde von Leuten beobachtet, die nicht einmal hätten wissen dürfen, wo sie war. Nachrichten verbreiten sich rasch in Geheimdienstkreisen. Ich konnte also nicht einfach zu meiner Wohnung fahren und parken; das hätte alle möglichen Unannehmlichkeiten nach sich ziehen können. Ich musste irgendwie in meine alte Bleibe schlüpfen, ein paar Habseligkeiten zusammenraffen und schleunigst wieder das Weite suchen, ohne dass jemand überhaupt mitbekam, dass ich da gewesen war. Ich lenkte den Wagen in einiger Entfernung von meiner Wohnung an den Straßenrand und hielt an. Molly schaute mich fragend an. Ich machte sie unauffällig auf ein paar der Feinde aufmerksam, hielt sie davon ab, einen sofortigen Präventivschlag zu landen, und überredete sie dazu, ruhig sitzen zu bleiben, während ich die Lage mithilfe des Blicks einer genaueren Untersuchung unterzog. Genau wie mein alter Halsreif gestattete auch mein neuer silberner Torques es mir, viel mehr von der Welt, so wie sie wirklich ist, zu sehen, als es mit den beschränkten Sinnen der Menschheit möglich ist. Die Welt ist ein viel größerer Ort, als den meisten Menschen klar ist, voll der Seltsamen und Schrecklichen, die ungesehen und ungeahnt neben ihnen existieren. Da war ein Elbenpaar, groß und stolz und hochmütig. Elben leben jetzt woanders und tauchen nur in unserer Welt auf, wenn sie eine Chance sehen, uns übers Ohr zu hauen oder uns einen Tritt zu verpassen, wenn wir schon am Boden liegen; das ist heutzutage alles, was ihnen noch geblieben ist. Da waren Aliens: Graue und Echsenähnliche sowie ein paar Wesen, deren Gestalt überhaupt keinen Sinn ergab. Sie wandeln wirklich unter uns - Touristen, meistenteils - und wenn sie Anstalten machen, aufmüpfig zu werden, versohlt die Familie ihnen normalerweise einfach den Hintern und schickt sie nach Hause. Hier und da trieben Gespenster vorbei, gefangen in sich wiederholenden Zeitschleifen. Und es gab Geschöpfe, die durch Wände gingen oder an ihnen hinaufkletterten oder oben am Himmel schwebten. Viel zu viele, als dass es sich bloß um einen Zufall handeln konnte. Nachrichten verbreiten sich rasch in der übernatürlichen Gemeinschaft. Ich stellte den Blick ab. Man kann sich die Welt nicht lange anschauen, wie sie wirklich ist: Der menschliche Verstand hat nicht das nötige Rüstzeug, um damit klarzukommen. Zum Glück konnte keiner von denen mich sehen, solange ich den Torques trug. Sie mussten darauf warten, dass ich mich zu erkennen gab. Ich grinste. Es war an der Zeit, eine der wirklich ganz speziellen Besonderheiten des Bentleys zu erproben. »Eddie, was hast du vor?«, fragte Molly. Ich lächelte sie glückstrahlend an. »Mach dich auf was gefasst, Süße! Jetzt werde ich dir mal zeigen, was alles in diesem Auto steckt.« Ich trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und ließ die Kupplung los: Der Motor heulte auf wie ein Wolf auf der Jagd und der Bentley brauste vorwärts. Während ich die Gänge malträtierte, schossen wir in wenigen Sekunden an der Hundertermarke vorbei, dann legte ich den versteckten Schalter um und haute die Maschine in den Overdrive. Die fürchterliche Beschleunigung presste Molly und mich in die Sitze, und um uns herum verschwamm die Welt, als wir sie hinter uns ließen. Der Bentley durchbrach die Mauern der Welt und ganz plötzlich waren wir irgendwo anders. Befreit von den gewöhnlichen Beschränkungen von Zeit und Raum raste der Bentley durch die Dimensionen; Tage und Nächte flimmerten wie stroboskopische Erscheinungen. Sterne leuchteten in auf der Erde nie gesehenen Konstellationen an Nachthimmeln eines Anderswo. Da waren seltsame Klänge und strahlende Lichter und eine Stadt, die mit einer Million unmenschlicher Stimmen sang. Anblicke und Ausblicke, substanzlos und nicht greifbar, flackerten auf und erloschen, während wir wie eine Kugel durch sie hindurchschossen; doch ob sie oder wir die Geisterbilder waren, ist wahrscheinlich reine Ansichtssache. Molly schrie und kreischte vor Entzücken, und nur die Notwendigkeit, mich aufs Lenken zu konzentrieren, hielt mich davon ab, es ihr gleichzutun. Trunken vor Geschwindigkeit und vernarrt ins Tempo bretterten wir durch die Dimensionen, bis ich das Zeichen sah, nachdem ich Ausschau gehalten hatte, und scharf nach rechts zurück in unsere Realität abbog. Verschiedene Welten dopplerten an uns vorbei, als ich in die Eisen stieg. Als der Bentley schließlich zitternd zum Stehen kam, saßen wir in der Garage unter meiner Wohnung. Ich stellte schnell den Motor ab und nahm die Hände vom Lenkrad. Sie zitterten, und das nicht nur in freudiger Erregung: Abstecher durch angrenzende Dimensionen zu machen, ist immer eine riskante Sache. Man kann nie sagen, was einen dort vielleicht bemerkt und beschließt, einem nach Hause zu folgen. Auf etwas unsicheren Beinen stieg ich aus dem Auto und überprüfte es gründlich, um sicherzugehen, dass wir keine unerwünschten Anhalter aufgegabelt hatten. Meine besondere Aufmerksamkeit ließ ich dabei dem Fahrgestell zukommen. Auch Molly war schon ausgestiegen; sie tanzte um das Auto herum und vollführte Faustschläge in der Luft. »Das war fantastisch! Lass es uns nochmal machen! Was war das?« »Eine Abkürzung«, antwortete ich, während ich argwöhnisch unter die vordere Stoßstange spähte. »Du nimmst mich auf die tollsten Fahrten mit, Eddie!« Ich richtete mich auf und sie schlang die Arme um mich und drückte mich an sich. Ich ließ es zu. »Willkommen in meiner Garage!«, sagte ich. »Sie ist klein, aber schäbig. Und jetzt komm nach oben und schau dir meine Wohnung an. Versuch bitte, nicht zu unterwältigt zu sein - es kann eben nicht jeder in einem Wald wohnen!« Ich musterte die Tür zu meiner Wohnung sorgfältig. Es schien alles normal zu sein. Nichts war nicht am richtigen Platz, aber die Tür war nicht verschlossen. Das konnte ich erkennen. Und ich schließe immer hinter mir zu, wenn ich weggehe. Geheimagenten können es sich wirklich nicht leisten, solche Sachen zu vergessen. So stand ich also in sicherer Entfernung von meiner Tür und betrachtete sie nachdenklich, während Molly mich betrachtete. »Was ist los?« »Jemand ist hier gewesen.« »Deine Feinde?« »Eher meine Familie. Nachdem sie mich für vogelfrei erklärt hat, hat die Matriarchin mit Sicherheit ein Team hierher geschickt, um meine Wohnung auf den Kopf zu stellen und nach Belastungsmaterial gegen mich zu suchen. Und meine Familie geht in solchen Dingen nie subtil vor.« »Du denkst, sie haben eine versteckte Bombe zurückgelassen?« »Nein. Eine Falle würde ich sehen. Es ist wahrscheinlicher, dass sie nur alles demoliert haben, um eine Nachricht zu hinterlassen. Das hätte ich jedenfalls getan, als ich noch Frontagent war.« Ich holte tief Luft, stieß die Tür auf und ging hinein. Sie hatten mein Zuhause tatsächlich demoliert - und waren dabei sehr gewissenhaft vorgegangen. Sämtliche Möbel waren umgekippt, sofern sie nicht zertrümmert waren. Sie hatten die Teppiche herausgerissen, um die Dielen aufstemmen zu können. Meine Besitztümer waren in der ganzen Wohnung herumgeworfen worden, alle Schubladen herausgezogen und ausgeleert und ihr Inhalt überall verstreut worden. Meinen Computer hatten sie zerlegt, um an die Festplatte zu kommen, den Bildschirm eingeschlagen. Selbst die Poster hatten sie von der Wand gerissen und zerfetzt. In jedem Zimmer war es dasselbe; nichts war verschont geblieben. Im Schlafzimmer hatten sie sogar die Laken vom Bett gezerrt, die Matratze aufgeschnitten und durchwühlt. Und auf die Wand über dem Kopfende hatte jemand VERRÄTER gesprüht. Das Wort traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Eine kalte Faust schloss sich um mein Herz, und ich konnte nur noch nach Luft schnappen. Molly kam herein, stellte sich neben mich und sah das Wort an der Wand. Sie nahm meinen Arm und drückte ihn an sich. »Ach Eddie, es tut mir so leid! Ich bin sicher, dass das hier vorher eine ganz reizende Wohnung war!« »Ich war nie ein Verräter«, sagte ich und erkannte meine eigene Stimme nicht wieder. »Ich war der Einzige, der dem treu geblieben ist, was die Familie eigentlich sein sollte.« »Das weiß ich doch, Eddie. Lass uns hier weggehen!« »Schon in Ordnung«, sagte ich. »Schon in Ordnung.« Das war es zwar nicht, aber ich ließ mich von ihr wegführen. Wieder im Wohnzimmer, schaute ich mich um und versuchte, mir einen Reim auf das Durcheinander zu machen. Sie hatten gar nicht einmal so viel kaputt gemacht - wahrscheinlich weil ihnen die Zeit gefehlt hatte. »Die haben wirklich ganze Arbeit geleistet!«, stellte Molly fest. Sie gab sich alle Mühe, nicht auf irgendwelche Sachen zu treten; das war zwar unmöglich, aber allein für den Versuch liebte ich sie. »Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte ich. »Ich habe es zu meiner Zeit als Frontagent schlimmer getrieben, wenn ich den Unterschlupf irgendeines Schurken auseinandernahm, um nach Hinweisen oder Beweismaterial zu suchen. Oder auch nur, weil ich es konnte. Damals gehörte alles dazu. Aber … Die kosmische Gerechtigkeit ist scheiße. Glaubst du an Karma, Molly?« »Karma nich sagen«, antwortete Molly munter. »Hast du dich nicht mal mit dem Gedanken getragen, irgendwelche Schutzvorrichtungen um deine Bleibe herum anzubringen?« Ich schnaubte verächtlich. »Ich habe Tonnen von den verdammten Dingern; du hättest bessere Chancen, in Bill Gates' privates Pornoversteck als in meine Wohnung einzubrechen! Aber nichts, womit meine Familie nicht fertig würde. Ich habe eben nie gedacht, dass ich mich einmal vor meiner eigenen Familie schützen müsste.« Molly runzelte die Stirn. »Müssten denn die Nachbarn nichts gehört und die Polizei gerufen haben?« »Die Menschen hören nie einen Drood bei der Arbeit«, erwiderte ich. »Und wenn doch, dann sorgen wir dafür, dass sie es wieder vergessen.« »Selbstverständlich zu ihrem eigenen Besten!« »Größtenteils ja. Ah, ich verstehe - das war ironisch gemeint! Tut mir leid, im Aufspüren von Ironie bin ich oft nicht besonders gut.« »Du und deine ganze Familie«, brummte Molly. »Was?« »Nichts. Was meinst du, was sie wohl hier gesucht haben?« »Das Übliche«, sagte ich. »Gegenstände der Macht, unerlaubte Grimoires und verbotene Texte, Informationen, zu denen ich keinen Zugang gehabt haben sollte. Möglicherweise sogar Aufzeichnungen über gezahlte Summen von außerhalb der Familie - alles, womit sie mich verdammen, unter Druck setzen oder erpressen könnten. Meine Familie hat es schon immer vorgezogen, aus einer Position der Stärke heraus zu verhandeln. Idioten! Als ob ich irgendetwas so Wichtiges einfach hier rumliegen lassen würde, damit es jeder finden kann.« »Stimmt!«, pflichtete Molly mir bei und grinste schelmisch. »Wo bewahrst du eigentlich dein wirklich geheimes Zeugs auf, Eddie? Deine peinlichen Fotos von dir als Kind, deine alten Teenagerschwarmliebesbriefe und deine persönlichen unanständigen Filme? Gibt es da irgendwelche Lieblingsstücke, die du vielleicht mitnehmen möchtest? Ich kann sehr tolerant sein …« »Ich habe keine solchen Sachen«, erwiderte ich mit einiger Würde. Molly seufzte und schüttelte den Kopf. »Für einen Geheimagenten hast du ein sehr behütetes Leben geführt. Aber keine Angst, Eddie; ich werde deine Pornografie sein.« Ich lächelte. »Und da sagen die Leute, heutzutage gäbe es kein romantisches Gesäusel mehr.« Ich brauchte nicht lang, um die wenigen Dinge aufzusammeln, die ich mitnehmen wollte. Ein paar lädierte alte Meister Petz und die Seeziege-Bücher, die ich als Kind am liebsten gemocht hatte. Ein gerahmtes Foto meiner Eltern, aufgenommen unmittelbar bevor sie fortgingen, um bei einem letzten Auftrag für die Familie zu sterben. Neugierig betrachtete Molly das Foto. »Sie sehen so jung aus«, sagte sie schließlich. »Nicht mal so alt wie wir jetzt. Ungefähr im selben Alter wie meine Eltern, als sie von den Droods ermordet wurden.« »Wir haben so viel gemeinsam«, sagte ich und warf das Foto zusammen mit den Büchern in eine Tragetasche. »Ich verspreche dir: Ich werde die Wahrheit darüber herausfinden, was wirklich mit deinen Eltern passiert ist - und mit meinen.« »Wenn du willst«, meinte Molly. »Ich hab's dir ja schon gesagt: Ich halte nichts davon, zurückzublicken.« Ich rettete ungefähr ein Dutzend meiner Lieblings-CDs aus dem Durcheinander auf dem Boden. (Molly zog die Grenze bei allen meinen Enya-Alben, was mir ein bisschen gemein vorkam. Ich habe ja schließlich auch nichts dagegen, wenn sie ihre Iron Maidens im Auto abspielt.) Und das … war es. Ich schaute um mich, aber es gab sonst nichts, was ich mitnehmen wollte. Ich blickte nach unten auf die Tragetasche: Nicht viel vorzuweisen für ein Leben. »Ich hatte schon ein paar wirklich gute Tage hier«, sagte ich. »Aber sicher doch!«, meinte Molly. »Ich wette, du warst an den Wochenenden ein richtiger Partylöwe!« »Nein«, entgegnete ich. »Ich habe so gut wie nie Leute mit hierher gebracht. Denn die Leute kannten mich nur als Shaman Bond, und das hier war der einzige Ort, wo ich Eddie Drood sein konnte. Die Familie sieht es nicht gerne, wenn Frontagenten zu gute Freunde oder dergleichen haben: Enge Freundschaften könnten unsere Loyalität der Familie gegenüber verwässern. Und man kann ohnehin nie jemandem wirklich nahestehen, wenn das gemeinsame Leben auf einer Lüge beruht. Agenten an der Front führen einsame Leben, das müssen wir. Denn wenn man jemanden gern hat, dann will man ihn nicht in Gefahr bringen.« »Und deine Familie hat das unterstützt?«, fragte Molly. »Selbstverständlich! Sie wollte, dass die Familie das Wichtigste in unserem Leben ist, damit wir nie in Versuchung kämen, uns von ihr abzuwenden. Ich hatte mehr Freiheit als die meisten, und dennoch unterwarf ich mich der Familienrichtlinie - bis zu dem Punkt, wo sie sich gegen mich wandte. Ich hatte Freunde, aber ich konnte ihnen nie etwas erzählen, was mir wichtig war. Ich hatte Verhältnisse, aber ich hatte nie Beziehungen. Es war nicht gestattet. Alles, was ich hatte, war die Arbeit.« »Wenn du mir jetzt weinerlich kommst«, sagte Molly bestimmt, »werde ich dir eine runterhauen, und die wird dir wehtun! Ich hab's dir doch gesagt: Nie zurückblicken! Alles, was du dort zu sehen bekommst, sind Fehler, Misserfolge und verpasste Gelegenheiten. Konzentriere dich aufs Hier und Jetzt! Du führst deine Familie, du hast die besten Sachen zum Spielen und du hast mich! Was könnte sich ein sterblicher Mann noch mehr wünschen?« »Meine Enya-CDs.« »Die erste Ohrfeige ist unterwegs.« Wir lachten beide. Ich nahm sie in die Arme und drückte sie fest an mich. Sie schmiegte ihr Gesicht an meine Schulter und fuhr mir mit den Händen über den Rücken. Ich beugte meinen Kopf über ihren und atmete tief den Duft ihres Haares ein. Ich hatte das Gefühl … ewig so bleiben zu können. Aber ich hatte Dinge zu erledigen. »Meine Welt war früher so unkompliziert«, sagte ich. »Ich wusste, wer ich war und was ich war und was ich mit meinem Leben anfangen sollte.« »Nein«, widersprach Molly, ohne ihren Kopf von meiner Schulter zu heben. »Du dachtest nur, du wüsstest es. Willkommen in der echten Welt, Eddie! Abscheulicher Ort, nicht wahr?« »Nein«, widersprach ich. »Sie hat dich in sich.« Wir verließen die Wohnung und begaben uns nach unten in den umschlossenen Hof - und blieben prompt stehen, als uns zu Bewusstsein kam, dass das schmiedeeiserne Tor weit offen stand. Ich blickte hinaus auf die Straße, und eine ganze Armee schwer bewaffneter und gepanzerter Männer erwiderte meinen Blick. Molly kam zu mir und stellte sich dicht neben mich. Zwei schwarze Kampfhubschrauber erfüllten den frühen Morgen mit ihrem Lärm, während sie oben in Stellung gingen. Ich hob den Kopf und straffte die Schultern. Erste Regel eines Frontagenten: Niemals Angst zeigen. Ich schlenderte zum offenen Tor hinüber, um mir die Sache genauer anzuschauen. Es mussten mindestens fünfzig Bewaffnete sein, anonym in Körperpanzerung und Helmen mit dunklen Visieren, von denen jeder Einzelne seine überdimensionierte Waffe genau auf mich gerichtet hatte. Automatische Waffen, die neuesten Modelle - sie wollten kein Risiko eingehen. Ich sah die Straße hoch und runter: Sie hatten beide Enden mit gepanzerten Fahrzeugen blockiert. Verängstigte Gesichter spähten durch geschlossene Fenster die Straße hoch und runter: Im kultivierten Knightsbridge erwartete man keine Anblicke wie diesen. Eine gepanzerte Gestalt kam vor, um mir entgegenzutreten, wobei sie allerdings einen Sicherheitsabstand einhielt. Der Mann schob sein Visier gerade so weit hoch, dass er ein elektrisches Megaphon darunter bekam. »Edwin Drood, Molly Metcalf! Wir befehlen Ihnen, sich zu ergeben. Der Nichtbefolgung dieses Befehls wird mit aller gebotenen Gewalt begegnet werden.« Ich schaute Molly an. »Und? Wie möchtest du das gern spielen?« Sie lächelte liebreizend. »Ach, wie üblich, denke ich. Jeden Einzelnen mit extremer Brutalität und Unerfreulichkeit heimsuchen, plötzlich und gemein und überall.« »Eine Frau nach meinem Geschmack!«, lobte ich. »Ergeben Sie sich oder sterben Sie!«, donnerte der Wortführer durch sein Megaphon. »Ich muss doch sehr bitten!«, sagte ich mit einem vernichtenden Blick zu ihm. »Wir unterhalten uns hier! Wir werden in einem Moment für Sie da sein.« Ich wandte mich wieder Molly zu. »Es widerstrebt mir ein wenig, mich hier draußen auf einen Nahkampf mit ihnen einzulassen; mitten im Freien, umgeben von unschuldigen Zuschauern.« Molly zuckte die Achsel. »Den Ort haben die ausgesucht. Wir könnten zum Bentley rennen, nehm' ich an, und über eine deiner Abkürzungen von hier abhauen, aber mit dem Abhauen hab ich's eigentlich nicht so.« »Geht mir genauso«, sagte ich. »Es hat die ach so starke Tendenz, einen falschen Eindruck zu erwecken. Diese Drecksäcke müssen daran erinnert werden, was es heißt, einen Drood herauszufordern.« »Und die wilde Waldhexe, Liebling!« »Wenn Sie sich nicht noch in dieser Minute ergeben …« Ich musste lachen. »Der kennt uns nicht besonders gut, was? Was glaubst du, wer die sind?« »Protzige Zurschaustellung von Stärke, noch protzigere Waffen und kein Funke gesunder Menschenverstand in dem ganzen Haufen … muss Manifestes Schicksal sein. Die Ich-Kann-Nicht-Glauben-Dass-Sie-Keine-Faschisten-Sind-Brigade. Truman muss wieder die Kurve gekriegt haben. Wer hätte gedacht, dass er immer noch sauer auf uns ist, bloß weil wir seine unterirdische Basis zerstört und seine gesamte widerliche Organisation in alle Winde zerstreut haben?« »Allmächtige Sektenführer mit Gottheitswahn sind in der Beziehung oft sonderbar«, stimmte ich ihr zu. Der Wortführer warf sein Megaphon auf den Boden und kam steifbeinig nach vorn, um uns gegenüberzutreten. Molly und ich drehten uns um. Wir starrten ihn gedankenvoll an, und er blieb jählings stehen. Er achtete geflissentlich darauf, seine Automatikwaffe nicht auf uns zu richten. Noch nicht jedenfalls. »Hören Sie«, sagte er in dem gezwungenen Tonfall eines Menschen, der versucht, unter sehr schwierigen Umständen vernünftig zu sein. »Wir wissen beide, dass Sie Ihre goldene Rüstung nicht mehr haben, Eddie. Kein Drood hat sie noch. Wenn ich meinen Männern befehlen muss, das Feuer zu eröffnen, werden Sie von so vielen Kugeln durchlöchert werden, dass Ihre Familie Ihre Leiche als Sieb benutzen kann. Sie werden so viel Blei in sich haben, dass Ihr Sarg als Giftmüll deklariert und sogar Ihre DNA in Einzelteilen enden wird. Wenn Sie sich also bitte einfach vernünftig verhalten würden und sich ergeben, dann könnten wir alle von hier verschwinden!« »Ich finde, Sie haben es mit diesen Metaphern ein bisschen zu weit getrieben«, sagte ich. »Am Ende hat er's eindeutig vermasselt«, meinte Molly zu mir. »Niemand hat heutzutage mehr richtig gute schurkische Drohungen drauf«, pflichtete ich ihr bei. »In den alten Tagen konnte ein wahrer Schurke dir mit einem bloßen Lächeln das Blut in den Adern gefrieren lassen!« »Ha, ich konnte mit einem einzigen unheilvollen Blick die Leute dazu bringen, sich in die Hosen zu machen!«, sagte Molly. »Tut uns leid«, sagte ich zu dem Wortführer. »Wir verhalten uns nicht vernünftig. Oder, Schatz?« »Ganz bestimmt nicht!«, bekräftigte Molly. »Ist schlecht fürs Image. Hey, was wollen wir wetten, dass ich diesen Kriecher in irgendeine rotztriefende Kreatur verwandeln kann, bevor er den Befehl geben kann, das Feuer zu eröffnen?« »Sie können es nicht mit einer ganzen Armee aufnehmen!«, sagte der Wortführer. Seine Stimme wurde ein klein wenig hysterisch. »Es sind extreme Maßnahmen genehmigt worden!« »Nun«, meinte ich, »das hört man immer gerne! Dann brauchen wir uns nicht zurückzuhalten. Ich zähle siebenundfünfzig Bewaffnete, Molly.« »Wahrscheinlich halten sich noch mehr versteckt, als Verstärkung«, sagte Molly. »Er scheint mir so einer von der hinterhältigen Art zu sein. Schön zu wissen, dass sie uns wenigstens ernst nehmen.« »Wer sind Sie eigentlich?«, fragte ich den Wortführer unverblümt und beugte mich vor, um durch sein dunkles Visier zu spähen. »Ihre Stimme kommt mir bekannt vor …« »Codename Alpha!«, blaffte er, wobei er tatsächlich ein bisschen zurückschreckte. »Werden Sie jetzt friedlich mitkommen oder nicht?« »Oh, ganz bestimmt nicht!«, erwiderte Molly. »Wir haben einen Ruf, dem wir gerecht werden müssen.« Ich deutete auf die beiden schwarzen Helikopter, die über uns schwebten und uns die Haare mit ihrem Abwind zausten. »Die zwei da oben kann ich wirklich nicht gutheißen, Alpha. Man erwartet von uns, dass wir geheime Kriege führen, hinter den Kulissen der Welt. Die breite Öffentlichkeit sollte nie von uns und den Dingen, die wir tun müssen, erfahren.« Alpha zuckte mit den Schultern. »Es ist jetzt eine neue Welt; dafür haben Sie selbst gesorgt. Ergeben Sie sich! Jetzt! Das ist Ihre letzte Chance!« Ich sah Molly an. »Mir ist nach ein bisschen leichter Bewegung zumute«, sagte ich. »Was meinst du?« »Mir ist danach zumute, ein paar Schädel einzutreten und auf ein paar Kehlköpfen rumzutrampeln«, sagte Molly. »Ich habe nie erlebt, dass das einmal anders bei dir gewesen wäre«, sagte ich. »Lass uns ein Tänzchen wagen!« Binnen eines einzigen Augenblicks rüstete ich hoch. Ich sprach innerlich die alten aktivierenden Worte, und die silberne fremde Materie, die in dem Ring um meinen Hals enthalten war, floss plötzlich heraus und umhüllte meinen ganzen Körper von Kopf bis Fuß. Alpha glotzte mich einen Moment lang verdutzt an, und dann schrie er tatsächlich, bevor er sich umdrehte und schnell zu seinen Männern zurückwich. Man hatte ihm gesagt, dass ich meine Rüstung nicht mehr hätte, und das war offensichtlich falsch. Ich hatte sogar aufgerüstet. Ich wusste wie ich aussah: eine glänzende silberne Statue, nahtlos, ohne jede Gelenke oder verwundbare Stellen - die vollkommene Schutzrüstung. Sogar mein Gesicht war eine nichtssagende silberne Maske, durch die ich vollkommen normal sehen, hören und atmen konnte. Ich beugte und streckte die Arme und die silberne Rüstung folgte meinen Bewegungen geschmeidig. Ich fühlte mich stärker, schneller; meine Sinne waren geschärft, als ob ich plötzlich aus einem langen Dösen erwacht wäre. Dies war das große Geheimnis der Drood-Familie: die wunderbare Rüstung, die aus uns so viel mehr als Menschen macht; die es uns ermöglicht, unsere Arbeit zu tun, egal was die Bösen nach uns werfen. Einst war sie aus Gold; jetzt ist sie aus Silber. Die Einzelheiten ändern sich, aber der Krieg geht weiter. Ich ballte meine Hände zu gepanzerten Fäusten, und als ich mich konzentrierte, wuchsen schwere Dornen auf den silbernen Knöcheln. Ich freute mich darauf zu erfahren, was die neue Rüstung unter Kampfbedingungen leisten konnte. Endlich brüllte Alpha einen Befehl durch sein Megaphon, und alle gepanzerten Männer eröffneten gleichzeitig das Feuer und zielten dabei auf mich. Ich war schon vor Molly getreten, um ihr Deckung zu geben, und stand ruhig da, während ein Kugelhagel auf mich niederprasselte. Statt dass die Geschosse harmlos von meiner gepanzerten Gestalt abprallten, wie es früher bei meiner goldenen Rüstung der Fall gewesen war, absorbierte die silberne fremde Materie sowohl die kinetische Energie der Kugeln wie auch die Kugeln selbst. Schluckte sie einfach, so schnell wie sie kamen. War wohl sicherer für unschuldige Passanten, nahm ich an, aber ich fragte mich, ob die Rüstung die Kugeln später wohl wieder ausscheißen musste. Ich nahm mir vor, darauf zu achten, dass Molly nicht hinter mir stand, wenn der Kampf zu Ende war. Die gepanzerten Männer erkannten, dass ihre Kugeln keine Wirkung auf mich hatten, und der Kugelhagel legte sich nach und nach. Sofort trat Molly hinter mir hervor, hob die Arme in Beschwörungshaltung und rief die Elemente herab. »Erwachet, erwachet, ihr Winde des Nordens …« Ein mächtiger Sturmwind kam dahergeheult; er ergriff die gepanzerten Männer und ließ sie kopfüber über die gesamte Länge der Straße purzeln. Einige versteckten sich in Hauseingängen oder hinter Autos und konzentrierten ihr Feuer auf Molly. Die Kugeln durchschlugen den tobenden Wind, nur um zu Rosenblättern zu werden, bevor sie auch nur in Mollys Nähe kamen. Sie wurde von allen Magien des wilden Waldes beschützt, und nichts aus der materiellen Welt konnte ihr etwas anhaben. Sie ließ sich nur deshalb von mir beschützen, weil sie wusste, dass ich mich dann besser fühlte. Sie winkte in einer scharfen Geste, und Blitze stießen aus dem immer dunkler werdenden Himmel herab, fanden gepanzerte Männer in ihren Verstecken und verbrannten sie. Aus verborgenen Stellungen trafen neue Männer mit schwereren Waffen ein. Sie kämpften sich gegen den heulenden Wind vorwärts, Schritt für Schritt. Molly stieß mit dem Finger nach ihnen, und plötzlich war die Straße voll von zirka einem Dutzend sehr verwirrt aussehender Lamas. Molly war in ihrem Element. Aber diese Art von Zauberei erschöpfte sie. Also beschloss ich, dass es Zeit war, mit anzupacken. Angetrieben von der unnatürlichen Kraft meiner gepanzerten Beine stürmte ich mit Bewegungen von übermenschlicher Schnelligkeit in die Menge der übrigen Soldaten vor. Schneller als sie reagieren konnten, war ich mitten unter den gepanzerten Männern und hieb mit entsetzlicher, potenzierter Kraft nach ihnen. Meine dornigen Silberknöchel schlugen in verstärkte Helme und rissen durch Kevlar, als ob es Papier wäre. Blut spritzte durch die Luft und Männer fielen schreiend. Sie lebten noch. Ich ziehe es vor, nicht zu töten, wenn ich nicht muss. Ich bin ein Agent, kein Mörder. In der Hoffnung, mich überwältigen und durch ihre schiere, zahlenmäßige Übermacht zu Boden zerren zu können, drängten sie sich um mich. Sie schlugen mit Gewehrkolben nach mir und schossen mir aus kürzester Entfernung ins Gesicht. Ich hob sie hoch und warf sie hierhin und dorthin, ließ sie mit meiner mehr als menschlichen Stärke durch die Straße fliegen. Männer krachten gegen Mauern, die unter der Wucht des Aufpralls rissig wurden. Immer mehr gepanzerte Männer kamen angerannt, um sich mir entgegenzuwerfen, und wenn sie auch dumm handelten, so musste ich doch ihren Mut bewundern. Ich ging, um ihnen zu begegnen, mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Lied im Herzen. Das Gute daran, wenn man gegen richtige Drecksäcke wie die Leute vom Manifesten Schicksal kämpft, ist, dass man wegen der schrecklichen Dinge, die man ihnen antut, kein schlechtes Gewissen zu haben braucht. Und es war ein gutes Gefühl, gegen geballte Feindmassen zurückschlagen zu können, weil man die Frustrationen des laufenden Tages an ihnen auslassen konnte. Ich ging mitten in sie hinein und ließ die Fäuste fliegen. Die armen Schweine hatten keine Chance. Gepanzerte Wagen kamen die Straße heruntergerollt und schossen mit wirklich großen Gewehren aus Schießscharten. Molly verwandelte das Gewehrfeuer in hübsche Schmetterlinge und brachte anschließend mit einer Handbewegung die Räder sämtlicher Wagen zum Schmelzen. Stahlfelgen gruben sich in die Straße und die Wagen kamen quietschend zum Stehen. Auf Mollys Stirn standen tiefe Falten der Konzentration; sie war so vertieft in das Unheil, das sie anrichtete, dass sie den gepanzerten Mann nicht einmal sah, der sich an sie heranarbeitete. Irgendwie hatte er sich durch den tobenden Wind vorgekämpft und näherte sich ihr in ihrem toten Winkel. Er hob eine Pistole, um ihr aus kürzester Entfernung in den Kopf zu schießen, und sie wusste nicht einmal, dass er da war. Ich packte den nächstbesten Mann und warf ihn nach dem Bewaffneten, der sich an Molly heranschlich. Schreiend und mit unnatürlicher Geschwindigkeit flog der Mann durch die Luft, angetrieben von der schrecklichen Kraft meines gepanzerten Arms. Durch die Reibung der Luft fing er sogar Feuer und krachte als Flammenmasse in den Mann, der Molly bedrohte. Dem Bewaffneten blieb gerade noch Zeit sich umzublicken, dann traf der brennende Mann ihn so hart, dass ich unter dem Aufprall Knochen brechen hörte. Molly schaute auf die beiden Körper, die in einiger Entfernung auf dem Boden hinter ihr lagen, und dann auf mich. »Ich wusste, dass er da war.« »Aber sicher wusstest du das«, sagte ich. »Meinst du, du könntest mit dem Wind ein bisschen zarter machen?« Molly runzelte die Stirn. »Das ist nicht mein Wind.« Wir blickten beide nach oben: Die zwei schwarzen Kampfhubschrauber stürzten sich auf uns herab. Sie kamen von beiden Enden der Straße gleichzeitig herangedonnert und bestrichen uns mit Maschinengewehrfeuer, Explosivnadelgeschossen und langen Brandgeschossen. Ich blieb einfach stehen und ließ es über mich ergehen, unangetastet von den Kugeln oder den Explosionen oder den Flammen, die um mich herum emporstiegen. Den gepanzerten Männern um mich herum erging es weniger gut; schreiend und auf ihre brennenden Schutzwesten schlagend stürzten sie fort. Molly drehte sich kurz zur Seite aus der Welt hinaus, und alles ging geradewegs durch sie hindurch wie durch einen Geist. Aber solange sie sich derart auf halbem Weg zwischen den Dimensionen hielt, konnte sie nichts tun, um sich zur Wehr zu setzen. Also war es an mir, etwas gegen die Hubschrauber zu unternehmen. Um mich herum zerkauten Kugeln die Straße, auf allen Seiten sprangen grimmige Flammen hoch. Tausend Schuss pro Minute knallten gegen meine silberne Brust und verschwanden einfach. Ich schwankte nicht einmal. Die Explosionen bewegten mich nicht und die Feuer konnten mich nicht erreichen. Ein Drood in seiner Rüstung ist eine unaufhaltsame Macht und ein Schrecken für seine Feinde. Ich packte den nächsten verletzten Mann, hob ihn von der Straße hoch und warf ihn nach dem nächsten Helikopter. Er sauste schreiend durch die Luft und krachte in den Heckrotor. Sein Schreien verstummte abrupt, als Blut und Innereien durch die Luft flogen. Der Hubschrauber taumelte hin und her, denn sein Rotor war zertrümmert, und stürzte dann wie ein verkrüppelter Vogel auf die Erde zu. Der Pilot unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, den abstürzenden Hubschrauber direkt auf mich zu lenken. Ich rührte mich nicht von der Stelle und machte mich auf den Aufprall gefasst. Der Hubschrauber tauchte drohend vor mir auf, Rauch und Flammen hinter sich herziehend. Ich konnte direkt ins Cockpit sehen, konnte sehen, wie die Piloten mir ihren Trotz und Hass entgegenschrien. Und dann krachte die Maschine frontal in mich und explodierte. Lange Momente lang gab es nur Feuer und Lärm und schwarzen Qualm, aber nichts davon berührte mich. Ich stand unversehrt inmitten des Infernos und schritt dann gelassen aus ihm heraus, wobei ich Trümmerteile beiseite trat. Ich sah nach oben, und der andere Helikopter kam im Tiefflug für einen erneuten Bordwaffenbeschuss herein. Inzwischen feuerten sie wild drauflos, halb von Sinnen vor Schock und Verzweiflung. Die Kugeln zersiebten die Straße und die Häuser und auch einige ihrer eigenen Leute. Und dann feuerten die Dreckskerle eine Höllenfeuerrakete auf mich ab. Mitten in Zivilgebiet! Ich rührte mich nicht von der Stelle, machte mich auf den Aufprall gefasst und fing die Rakete in meinen Armen. Die Rüstung absorbierte die gesamte Wucht des Aufpralls, und ich beugte mich nach vorn und drückte die Rakete an meine Brust. Sie explodierte und meine Rüstung absorbierte den Großteil der Energie. Um mich herum zersprangen jede Menge Fenster, aber es wurde niemand verletzt. Ich funkelte den Helikopter an: Ich hatte genug von diesen Idioten; die drehten ja völlig am Rad! Als der Helikopter auf mich zugejagt kam, sprang ich. Angetrieben von der Stärke meiner gepanzerten Beine schnellte ich hoch in die Luft, packte die Front des Cockpits und hielt mich daran fest. Der Hubschrauber taumelte und schlingerte heftig unter dem zusätzlichen Gewicht. Ich holte mit einer silbernen Faust aus und durchschlug geradewegs das Panzerglas des Cockpits. »Raus hier!«, sagte ich kalt zu den beiden Piloten. Sie stießen die Cockpittüren auf und sprangen. Ich konnte es ihnen nicht verübeln; alle Ausbildung der Welt kann einen nicht darauf vorbereiten, einem Drood-Frontagenten in seiner Rüstung entgegenzutreten. Der Hubschrauber krachte auf die Straße, rutschte weiter und warf Rauch und Funken in die Luft. Ich ritt auf ihm über den Asphalt und wartete, bis er endlich mit kreischenden Kufen zum Stehen kam. Dann stieg ich gelassen von dem zertrümmerten Cockpit herunter. An manchen Tagen ist es gut, ein Agent zu sein. Molly kam zu mir herübergeschlendert. »Angeber!« Ich schaute mich in der Straße um. Die meisten gepanzerten Männer lagen am Boden, verletzt oder eingeschüchtert oder bewegungslos. Die wenigen, die sich noch auf den Füßen hielten, hatten die Waffen weggeworfen und standen mit hinter den Helmen verschränkten Händen da. Fast hätten sie mir leid tun können: Sie meinten, sie kämen, um einen unbewaffneten Frontagenten und dessen Freundin zu verhaften; und wahrscheinlich hatten sie geglaubt, die Größe der Operation sei bloß typischer militärischer Overkill. Der Wind, den Molly heraufbeschworen hatte, legte sich allmählich, blies aber immer noch wütende kleine Böen hierhin und dorthin, als sei er verärgert darüber, gegen seinen Willen gestört worden zu sein. Hier und da brannten Feuer die Straße hoch und runter, und von den Trümmern der beiden Helikopter stieg in Ringen dichter, schwarzer Rauch hoch. Alpha kam langsam nach vorn, Megaphon und Waffe hatte er aufgegeben. Genau vor mir blieb er stehen, und zu seiner Ehre musste man zugeben, dass er zwar besiegt, aber nicht geschlagen aussah. Er nahm den Helm ab, und als ich das Gesicht mittleren Alters erkannte, wurden mir auf einmal eine ganze Menge Dinge klar. Ich schickte meine Rüstung wieder in den Torques zurück, sodass er auch meins sehen konnte. »Philip MacAlpine!«, sagte ich. »Dachte ich's mir doch, dass mir die Stimme bekannt vorkommt. Früher wären Sie zu vernünftig gewesen, um sich in eine Desaster-Operation wie diese hier hineinziehen zu lassen.« »Du kennst diesen Widerling?«, fragte Molly. »Er ist beim MI5, britischer Inlandsgeheimdienst«, klärte ich sie auf. »Oder wenigstens war er das immer. Hat in den guten alten Tagen mit Onkel James an vielen Fällen gearbeitet. Ich habe ihn oft im Herrenhaus gesehen, als ich noch ein Kind war.« »Bitte!«, sagte MacAlpine. »Sie geben mir das Gefühl, alt zu sein.« »Was machen Sie hier draußen im Feld, Phil?«, fragte ich. »Und wann sind Sie Soldat beim Manifesten Schicksal geworden?« MacAlpine schüttelte schnell den Kopf. »Ich habe nichts mit Trumans Privatarmee zu tun! Das hier ist eine MI5-Operation - wenn sie es auch, genau genommen, offiziell natürlich nicht ist. Das hier läuft unter DDT.« Molly sah mich an. »Schädlingsbekämpfung?« »Department für Dreckige Tricks«, klärte ich sie auf. »Ministerien innerhalb von Ministerien, die offiziell nicht existieren. Sorgt für maximale Bestreitbarkeit. Wer hat das angeordnet, Phil?« Er lächelte kurz und zuckte die Schulter. »Sie wissen, dass ich Ihnen darauf keine Antwort geben kann, Eddie.« »Molly«, sagte ich ruhig, »willst du ihn in etwas Kooperativeres verwandeln?« »Das Ganze war die Idee des Premierministers«, sagte MacAlpine rasch. »Er wollte, dass wir feststellen, ob die Droods wirklich so verwundbar sind, wie unser Geheimdienst behauptet. Damit wir es ausnutzen könnten, solange ihr noch schwach wärt.« Er sah auf die Trümmer und Leichen rings um ihn. »So viele gute Männer, verletzt und tot. Früher waren Sie nicht so bösartig, Eddie.« »Ich töte nur, wenn ich muss«, erwiderte ich. »Das wissen Sie.« MacAlpine blickte mich mit undurchdringlicher Miene an. »Ich weiß gar nichts mehr über Sie, Eddie.« »Die Politiker werden unruhig«, sagte ich zu Molly. »Ich nehme an, etwas wie das hier war unvermeidlich, als die Neuigkeit erst einmal die Runde machte. Nur zu gern würden die Politiker einmal einen Drood in die Finger kriegen und ein paar richtige Geheimnisse aus ihm herausquetschen. Wir sollten besser wieder zurück ins Herrenhaus; mal sehen, was sonst noch so vor sich geht.« Ich schaute wieder MacAlpine an. »Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen, Phil. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass man Sie wegen übertriebener Gewaltanwendung aus den Special Operations hinausgeworfen hat.« »Seien Sie nicht albern, Eddie!«, entgegnete er. »So kommen die meisten von uns hinein! Sie müssen übrigens wissen - das hier wird nicht hier enden. Der Premierminister hat sich über die Jahre hinweg zu viel Scheiße von den Droods gefallen lassen müssen, um jetzt, wo er eine Gelegenheit sieht, nicht zurückzuschlagen. Sämtliche unserer Agenten werden gegenwärtig hereingerufen, um einen Präventivschlag gegen Ihre Familie vorzubereiten - sogar die alten Dreckskerle wie ich. Alle Sünden vergeben, wenn auch nicht vergessen. Und es werden nicht nur wir sein: Von jetzt an wird euch die ganze Welt an der Gurgel hängen!« Ich betrachtete ihn nachdenklich. »Wie habt ihr eigentlich herausgefunden, dass die Droods ihre goldene Rüstung nicht mehr haben?« »Seien Sie doch nicht so naiv, Eddie! Wir haben ein ganzes Ministerium, das ausschließlich damit befasst ist, jeden Schritt zu analysieren, den Ihre Familie unternimmt. Aus der ganzen Welt sind Berichte über Drood-Frontagenten hereingekommen, die ihren Posten plötzlich verlassen haben und auf schnellstmöglichem Wege heimgerannt sind. Wir wissen, dass etwas Einschneidendes in der Familie passiert ist, Eddie. Ihr könnt nicht hoffen, es lange geheim zu halten. Wir werden es herausfinden.« »Sie würden es mir nicht glauben, wenn ich es Ihnen sagte«, erwiderte ich. MacAlpine zuckte die Achsel und fing an, sich umzudrehen, dann sah er wieder zurück. »Ist es wahr? Das mit James?« »Ja«, sagte ich. »Er ist tot.« Langsam nickte MacAlpine. »Der alte Graue Fuchs ist nicht mehr. Ich dachte, er würde uns alle überleben. Wie ist es passiert?« »Tut mir leid«, sagte ich. »Familienangelegenheit. Und jetzt sagen Sie dem Premierminister, er soll die Füße stillhalten! Erzählen Sie ihm, was hier geschehen ist. Erzählen Sie ihm von der silbernen Rüstung. Und erzählen Sie ihm, dass die Familie nicht schwach ist! Nur … in der Neuordnung begriffen.« »Ohne Zweifel darf er mit einem Anruf der Matriarchin rechnen?«, fragte MacAlpine. »Irgendwann einmal«, sagte ich. »Molly und ich gehen jetzt. Sie und Ihre Leute können hierbleiben und die Sauerei aufräumen, bevor Sie verschwinden. Wir sollen geheime Kriege führen, nicht unschuldige Zivilisten in Gefahr bringen! Was haben Sie sich dabei gedacht?« »Ich habe es Ihnen vorhin schon gesagt«, entgegnete MacAlpine. »Wir leben inzwischen in einer anderen Welt. Alle alten Regeln haben sich geändert - dank Ihnen.« Im Bentley begaben Molly und ich uns zurück zum Herrenhaus. Molly sang zufrieden ihre Ramones-Zusammenstellung mit, während ich nachdachte. Niemand in der zerstörten Straße würde darüber sprechen, was sie direkt vor ihrer Haustür gesehen hatten; dafür würde die übliche Mischung aus Bestechungsgeldern, Drohungen und den Zauberworten Terroristen und nationale Sicherheit sorgen. Sämtliche Kamerarekorder und Kamerahandys würden konfisziert werden, und falls sich jemand unbelehrbar zeigen und versuchen sollte, mit den Medien zu sprechen, würde die Regierung so viele Nachrichtensperren wie nötig rausschicken, um sie mundtot zu machen. Alle wirklichen Unruhestifter würden dazu gebracht werden, zu vergessen. Es ist ein geheimer Krieg in einer unsichtbaren Welt, und die Menschen müssen in Unwissenheit gehalten werden, wenn wir sie beschützen sollen. Es blieben immer noch viele unbeantwortete Fragen. Woher hatte MacAlpine so genau gewusst, wann er meine Wohnung überwachen lassen musste? Die Hubschrauber, die gepanzerten Wagen, das Menschenpotenzial - das bedurfte einer Menge Organisation im Voraus. Jemand musste geredet haben, und die Einzigen, die Bescheid wussten, waren - Familie. Ich hatte gewusst, dass es noch Mitglieder der Null-Toleranz-Fraktion gab, die hofften, mich zu sabotieren und zu unterminieren, um die Kontrolle über die Familie wieder an sich reißen zu können - aber mit Außenstehenden reden? Mit Politikern? Das ging zu weit! Feinde draußen, Feinde mitten drin. Als ob ich nicht schon genug Probleme gehabt hätte. Kapitel Zwei Familien: Du kannst nicht mit ihnen leben, Du kannst sie nicht alle in Säcke stecken und ertränken Das Herrenhaus ist seit Generationen das Zuhause der Droods. Obwohl es, offiziell, gar nicht existiert. Sie werden es auf keiner Landkarte finden und Sie können es über keine normale Straße erreichen. Das Herrenhaus steht alleine da, abgesondert von der Welt, und so gefällt es ihm auch. Begeben Sie sich nicht auf die Suche nach uns, oder es wird Ihnen etwas wirklich Unangenehmes zustoßen; wir werden von Wissenschaften und Zaubereien beschützt, und von Albträumen, die noch schlimmer sind als das. Die Familie hat ihre Zurückgezogenheit und ihre Sicherheit immer sehr ernst genommen. Besonders nachdem die Chinesen versuchten, uns mit Kernwaffen zu vernichten, damals in den Sechzigern. Dass wir die Welt beschützen, heißt noch lange nicht, dass die Welt uns immer dankbar dafür ist. Jahrhundertelang hat das Herrenhaus Droods ernährt, großgezogen und indoktriniert. Uns unnachgiebig dazu ausgebildet, den guten Kampf zu kämpfen und uns alles gelehrt, was wir über die Welt wissen mussten, außer wie man darin lebt. Die meisten Droods verlassen das Herrenhaus ihr ganzes Leben lang nicht. Nur erprobte Frontagenten kommen dazu, in die Welt hinauszuziehen und in ihr hin und her zu gehen und unsere endlosen, geheimen, unsichtbaren Kriege zu führen und die Gottlosen heimzusuchen, bis sie wie die kleinen Kinder weinen. Das Herrenhaus ist uns allen Mutter und Vater; das Herrenhaus ist Familie. Ich war bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ausgerissen und hatte nie zurückgeblickt. Und jetzt, zur Strafe für meine vielen Sünden, war ich wieder zu Hause. Angeblich, um die Familie in ihrer Stunde der Not zu führen und ihre Seele vor den üblen Gewohnheiten zu bewahren, denen sie über die langen Jahrhunderte hinweg verfallen war, seit wir uns von den Beschützern der Welt zu ihren Herrschern erhoben hatten. Das Herrenhaus steht allein inmitten seiner weitläufigen Parkanlagen, eifersüchtig über seinem idyllischen Reich brütend. Ich lenkte den Bentley über den langen, gewundenen Kiesweg, und zu beiden Seiten stiegen Maschinengewehre geräuschlos aus ihren verborgenen Stellungen und folgten uns im Vorbeifahren, bevor sie sich widerwillig wieder unters Gras zurückzogen. Sprinkler breiteten ihre sanften Dunstschleier über die ausgedehnten Rasenflächen aus, und herumwandernde Pfauen schrien ihr Willkommen und ihre Warnungen hinaus. Greifen patrouillierten durch die Parkanlagen und hielten den Blick starr auf die nahe Zukunft gerichtet; sie waren die perfekten Wächter und Wachhunde - wenn sie nicht gerade auf der Suche nach etwas richtig Faulem und übel Riechendem waren, um sich darin zu wälzen. Ich konnte Kraftschilde und magische Schutzschirme spüren, die sich vor und hinter uns ein- und ausschalteten, als die Sicherheitssysteme des Herrenhauses Molly und mich erkannten und passieren ließen. Niemand kommt ungeladen herein. Ich drosselte die Geschwindigkeit, damit Molly sich an den Heckenlabyrinthen, den Blumenbeeten und den Schwänen, die friedlich auf dem See schwammen, erfreuen konnte. Es gefiel mir, mit meinem Zuhause vor ihr anzugeben, auch wenn sie sich immer größte Mühe gab, unbeeindruckt zu wirken. Und außerdem hatte ich es ganz und gar nicht eilig, wieder zum Herrenhaus und der ganzen Arbeit und den Verpflichtungen, die dort auf mich warteten, zurückzukommen. Was glauben Sie denn, wieso ich damals überhaupt erst ausgerissen bin? Das Herrenhaus ragte drohend vor uns auf und beherrschte den Horizont - der Wächter an den Toren der Realität: der seit langer Zeit bestehende Wohnsitz der Drood-Familie und das letzte Bollwerk der Menschheit gegen die Mächte der Finsternis. Um die Wahrheit zu sagen, ist es eine elende alte Bruchbude, zugig wie ein Kuhstall und gänzlich frei von modernen Neuerungen wie beispielsweise einer Zentralheizung. Ich wuchs in dem Glauben auf, von September bis April lange Unterwäsche zu tragen, sei normal. Das Herrenhaus ist ein riesiger, wuchernder alter Gebäudekomplex, der zu Tudorzeiten schnell zusammengezimmert und über die Jahrhunderte hinweg häufig erweitert wurde. Gegenwärtig ist es das Zuhause von ungefähr dreitausend Seelen, alles Droods. Man kann in die Familie einheiraten, aber nicht aus ihr heraus. Wir sind wie die Mafia: einmal drin, nie mehr raus. Es sei denn, man möchte mit einem Einhornkopf neben sich im Bett aufwachen. Ich stieg auf die Bremse und parkte den Bentley in einem Sprühregen aus fliegendem Kies direkt vor der Vordertür des Herrenhauses, hauptsächlich, weil ich wusste, dass ich das eigentlich nicht sollte. Fang an, wie du vorhast weiterzumachen, sage ich immer. Molly sprang über die geschlossene Beifahrertür aus dem Wagen, während ich noch den Motor abstellte. Ich kletterte ihr schnell hinterher, bevor sie anfangen konnte, irgendwelche Scherereien zu machen. Wenn jemand anfing, Scherereien zu machen, dann wollte ich das sein. Erste Eindrücke sind sehr wichtig. Wir hatten es kaum durch den Haupteingang in die Vorhalle geschafft, als auch schon ein Mob aufgebrachter Familienmitglieder über uns herfiel. Es hatte den Anschein, als hätten sie einige Zeit darauf gewartet, ein entschlossenes Wörtchen mit mir zu reden, und sie waren nicht bereit, Nein oder Nicht jetzt und nicht einmal Fahr zur Hölle! als Antwort zu akzeptieren. Im selben Moment, in dem sie mich zu Gesicht bekamen, fingen alle an, mir Fragen und Forderungen entgegenzurufen, wobei sie ständig lauter wurden, um sich Gehör zu verschaffen, und einander in ihrem Eifer, zuerst zu mir zu gelangen, sogar schubsten und stießen. Was beinahe beispiellos war in dem disziplinierten, streng strukturierten und fast feudalen System, dem unsere Familie seit Jahrhunderten folgte. Es sah so aus, als hätte ich, als ich die Autorität infrage gestellt hatte und damit davongekommen war, eine Flut von unterdrücktem Unmut entfesselt. Die Familie wollte Veränderungen und sie wollte sie jetzt, aber unglücklicherweise konnte sie sich nicht darüber einigen, was genau geändert werden sollte und wie. Molly und ich standen dicht zusammen, den Rücken gegen die geschlossene Eingangstür gepresst, während jeder in der Menge sein Bestes gab, um lauter zu schreien als die anderen. Der Lärm war entsetzlich und die Gesichter vor mir angespannt und hässlich vor Arger, Ungeduld und Entschlossenheit. Ich gab mir die größte Mühe, mich zu konzentrieren und etwas von dem herauszufiltern, worüber sie unaufhörlich schwatzten. Manche hatten Fragen über die neue Familienpolitik, andere wollten wissen, wann sie die neuen silbernen Torques bekommen würden, und eine ganze Menge wollte andere Leute denunzieren, denen sie unterstellten, gegen den Fortschritt oder für die falsche Art von Fortschritt oder einfach nur schuldig der Sünde zu sein, nicht mit den Vorstellungen des Sprechers konform zu gehen. Manche der Fragen und Forderungen waren schlichtweg unmöglich umzusetzen und ohne Zweifel dazu gedacht, mich in Verlegenheit zu bringen und vor der Familie schwach aussehen zu lassen. Habe ich schon erwähnt, dass ich Feinde innerhalb der Familie habe? Traditionalisten vom harten Kern und überlebende Mitglieder der Null-Toleranz-Fraktion, die immer noch fuchsteufelswild waren, weil ihr kleiner Putsch misslungen war, und sich nun entschlossen erwiesen, mich zu sabotieren und zu unterminieren. Die Hölle kennt keinen größeren Zorn als einen Drood mit einem Groll. Ich versuchte, höflich zu sein und die Fragen derjenigen zu beantworten, die am nächsten standen, aber in dem allgemeinen Stimmenchaos konnte mich niemand hören, und niemand in der Menge war bereit, sich zugunsten eines anderen zu beruhigen. Es sind Momente wie dieser, wo ich mir wünschte, meine Rüstung wäre mit Pfefferspray ausgestattet. Oder mit einem Wasserwerfer. Am Ende sah ich Molly an, und sie grinste spitzbübisch. Sie murmelte ein paar Worte und vollführte eine scharfe Gebärde, und plötzlich war jeder in der ganzen Menge völlig nackt und wunderte sich, wo die kalte Brise herkam. Schnell wich das Stimmenchaos schockiertem Schweigen, dem ein paar Quiekser und Schreie folgten, als ungefähr hundert nackte Droods sich Mühe gaben, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken oder sich hintereinander zu verstecken. Molly feuerte funkelnde Blicke in die Menge ab, und ihr Lächeln war ganz und gar nicht freundlich. »In Ordnung; jetzt hört ihr alle mal schön zu, oder ich werde euch dorthin schicken, wo ich eure Kleider hingeschickt habe! Und eure Kleider werden nicht zurückkommen - wenigstens nicht in einem Zustand, in dem ihr noch hoffen könnt, sie noch einmal zu tragen. Mein liebes Lottchen, schaut euch bloß mal an! Der lebendige Beweis dafür, dass die meisten Menschen besser aussehen, wenn sie Kleider anhaben. Nun seid brave kleine, nackte Leute und lauft furchtbar schnell weg, bevor ich noch auf die Idee komme, etwas wirklich Amüsantes mit euch anzustellen. Etwas, wobei wahrscheinlich Möbius-Bänder und eure Geschlechtsorgane eine Rolle spielen würden.« Noch nie hatte ich so viele Leute so schnell verschwinden sehen - oder so viele völlig unattraktive Ärsche auf einmal. Ich schaute Molly an, und sie lächelte süß. »Siehst du - man muss nur wissen, wie man mit den Leuten redet!« »Von Diplomatie hast du auch noch nichts gehört, stimmt's?« »Nö. Und, bist du nicht froh?« »Naja, schon.« Und das war der Moment, als der Seneschall endlich geruhte aufzutreten. Er hätte eigentlich die Vordertür bewachen müssen. Das war sein Job: Das erste und letzte Gesicht zu sein, das ein Außenstehender jemals zu sehen bekommt, falls er ungeladen durch die Vordertür käme. Der Seneschall ist für die Sicherheit und Familiendisziplin des Herrenhauses verantwortlich, was so viel heißt wie, dass er oft dazu kommt, Leute zu schlagen; und nie ist er glücklicher, als wenn er eine Entschuldigung dafür gefunden hat, jemandem neue Vorschriften zu machen. Er hatte mir das Leben zur Hölle gemacht, als ich ein Kind war, mich für den kleinsten Regelverstoß geschlagen, bis das Blut spritzte, und als ich schließlich ins Herrenhaus zurückkehrte, um die Familie in Ordnung zu bringen, war eine der ersten Dinge, die ich tat, ihm die Scheiße aus dem Leib zu prügeln. Und dann hatte er noch die Frechheit zu sagen, das alles habe er nur getan, um mich abzuhärten und auf die Welt draußen vorzubereiten. Sagte tatsächlich, er sei stolz auf mich, bevor er in Ohnmacht fiel. Das werde ich ihm nie verzeihen! Der Seneschall war hochgewachsen und breit und hatte Muskeln an Stellen, wo Sie und ich nicht einmal Stellen haben. Und wenn er auch eine Vorliebe für die steife, schwarz-weiße Uniform eines viktorianischen Butlers hatte, ließ sich davon niemand auch nur einen Moment lang zum Narren halten. Der Mann war ein Schläger und Tyrann und stolz darauf - und deshalb perfekt geeignet für seinen Job. Er hatte jenes steifrückige, stahläugige militärische Aussehen, das einem für die Zukunft Blut, Schweiß und Tränen verspricht, und alles dein eigenes. Sein ausdrucksloses Gesicht wirkte immer, als sei es aus Stein gemeißelt, aber jetzt sah es aus, als hätte es jemand noch dazu mit dem Presslufthammer bearbeitet. Das letzte Mal, als wir Mann gegen Mann aneinander geraten waren, hatte Molly ihn mit einer Rattenplage geschlagen, und jetzt war eine seiner Gesichtshälften ein Narbenklumpen und ihm fehlte das linke Ohr. Ich warf ihm einen strengen Blick zu. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst dein Gesicht in Ordnung bringen lassen! Die Schönheitszauberer könnten dich an einem Nachmittag wieder herrichten, und das weißt du.« »Ich mag die Narben«, entgegnete der Seneschall ruhig. »Sie geben mir mehr Persönlichkeit. Und sie sind hervorragend geeignet, Leute einzuschüchtern.« »Was ist mit dem Ohr?« »Wie bitte?« Ich blickte ihn finster an. »Wo zum Teufel hast du gesteckt, als uns dieser Mob aus dem Hinterhalt überfallen hat?« »Genau!«, sagte Molly. »Hast's dir bestimmt in deiner Zelle mit der neuesten Ausgabe von Große Titten gut gehen lassen und die Tür abgesperrt, was?« Der Seneschall ignorierte sie und hielt seinen kalten Blick auf mich gerichtet. »War Zeit, dass du zurückgekommen bist, Junge. Mit dem ganzen Haus geht es den Abort runter, seit du weg bist. Ohne die alten Gewissheiten, die sie bei der Stange gehalten haben, fällt die Disziplin der Familie auseinander. Sie brauchen dich hier, damit du ein Beispiel gibst; es hilft ihnen nicht, wenn du dich in Privatangelegenheiten in der Welt herumtreibst!« »Weißt du, nur ein einziges Mal wäre es nett, ein Willkommen zu Hause! zu hören, wenn ich durch die Tür komme«, meinte ich sehnsüchtig. »Also hör auf, mir auf den Wecker zu fallen, Seneschall, oder ich werde dich von Molly in einen kleinen, dampfenden Haufen von irgendwas verwandeln lassen. Du willst mir doch nicht erzählen, dass der wütende Mob sich einfach so zusammengerottet hat. Ohne deine Mitarbeit hätten sie nicht mal in die Nähe der Vordertür kommen können!« »Ich wollte nur, dass du siehst, wie schlimm die Dinge geworden sind«, antwortete der Seneschall gelassen. »Sobald es unschön geworden wäre, wäre ich eingeschritten.« »Ich finde mich nur mit dir ab, damit du mir diese Nervensägen vom Hals halten kannst«, sagte ich rundheraus. »Es ist schon schlimm genug, dass ich gerade vor meiner alten Wohnung von einem Haufen MI5-Trottel angegriffen worden bin, auch ohne dass meine eigene Familie mich überfällt, kaum dass ich durch die Tür gekommen bin! Wenn du das noch einmal zulässt, werde ich dich gegen die nächste Wand klatschen, bis deine Augen die Farbe wechseln! Habe ich mich klar ausgedrückt?« Eins musste man dem Mann lassen: Obwohl es seit Jahrzehnten niemand mehr gewagt hatte, so mit ihm zu reden, und obwohl er wusste, dass ich jedes Wort so meinte, zuckte er nicht einmal mit der Wimper. »Ich musste sehen, wer handeln würde, statt nur zu reden«, sagte er. »Jetzt, wo sie sich selbst als Unruhestifter entlarvt haben, kann ich mich hinter sie klemmen, und es wird Prügel setzen. Versuch nicht, mir meinen Job beizubringen, Junge! Du magst vielleicht jetzt die Familie leiten, aber ich leite das Herrenhaus! So, was war das jetzt mit dem MI5 und dem Angriff auf dich? Niemand greift uns an und kommt damit davon!« »Glaub mir«, sagte ich, »das sind sie auch nicht. Aber sie haben genau gewusst, wo und wann sie mich finden können, was bedeutet, dass jemand aus der Familie mich an den Premierminister verpfiffen hat. Also mach dich nützlich und finde heraus wer!« Seine kalten Augen leuchteten bei dem Gedanken an genehmigte Gewaltanwendung auf. »Irgendwelche Einschränkungen bei meinen Methoden?« »Ich will Antworten, keine Leichen«, klärte ich ihn auf. »Ansonsten geht alles. Bring sie zum Weinen, bring sie zum Reden! Gerade im Augenblick kann es sich die Familie nicht leisten, gespalten zu sein.« »Hardcore, Eddie!«, sagte Molly. »Was kommt als Nächstes - Treueschwüre und öffentliche Hinrichtungen?« Der Seneschall neigte den Kopf leicht in meine Richtung. »Willkommen zu Hause, Sir. Willkommen zurück bei der Familie.« »Ruf meinen Inneren Zirkel zusammen!«, wies ich ihn an. »Sie sollen im Sanktum auf mich warten. Wir haben dringende neue Angelegenheiten zu besprechen; ich werde da sein, so schnell ich kann. Zuerst muss ich aber mit der Matriarchin reden. Wie geht es ihr?« »Immer noch in Trauer«, berichtete der Seneschall. »Alistair ist nicht tot«, sagte ich. »Könnte es aber ebenso gut sein.« Der Seneschall verbeugte sich steif vor mir, ignorierte Molly, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand mit ausgreifenden Schritten in den labyrinthischen Tiefen des Herrenhauses. Er würde sich nie für mich erwärmen, und ich hätte auch gar nicht gewusst, was ich tun sollte, wäre es anders gewesen. »Du hängst dich in diese Anführersache richtig rein, was?«, bemerkte Molly. »Befehle bellen und Prügel verteilen. Ich schätze, die Erziehung kommt eben irgendwann ans Licht. Du bist jeder Zoll ein Drood, Eddie!« Ich zuckte entschuldigend die Achsel. »Ich schwöre, dass ich sehr viel ruhiger und gelassener war, bevor ich ins Herrenhaus zurückgekehrt bin. Mich mit meiner Familie befassen zu müssen, bewirkt bei mir einfach irgendwie, dass ich spucken und fluchen und mit Sachen um mich schmeißen will. Vorzugsweise mit Sprengkörpern. Aber man muss sehen, dass ich das Sagen habe, Molly. Ich muss hart mit der Familie umspringen und dafür sorgen, dass sie sich der neuen Linie unterwirft, oder ihre Mitglieder werden sich gegeneinander wenden und die Familie wird sich selbst vernichten. Ich habe ihnen alles genommen, worauf sie angewiesen waren; jetzt liegt es an mir, ihnen etwas anderes zu geben, wofür es sich zu leben lohnt. Eine neue Sache, der sie folgen können.« Ich seufzte müde. »Ich hasse all das, Molly - nicht zuletzt, weil ich den schrecklichen Verdacht habe, dass ich der Aufgabe nicht gewachsen bin. Aber ich muss es tun … weil sonst niemand da ist.« Molly legte mir eine tröstende Hand auf die Schulter. »Ich kann jederzeit noch mehr Leute für dich in Tiere verwandeln.« »Könntest du sie auch in vernünftige Menschen verwandeln?« »Sei realistisch, Schatz; ich bin eine Hexe, keine Wundertäterin.« Wir rangen uns beide ein kleines Lächeln ab. »Mir gefällt nicht, was ich tun muss«, sagte ich. »Mir gefällt nicht, was aus mir wird. Aber ich muss um jeden Zentimeter Fortschritt kämpfen. Es liegt nicht an mir; es liegt an ihnen. Meine Familie könnte Mutter Teresa in einer Woche dazu bringen, direkt aus der Flasche zu trinken und nach der Wiedereinführung der Hinrichtung durch den Strang zu verlangen. Hör zu, ich muss los und die Matriarchin sehen, und du kannst nicht mitkommen. Es wird für mich allein schon schwierig genug werden, zu ihr vorgelassen zu werden. Also schaust du auf einen Sprung im Sanktum vorbei und beschäftigst die anderen, bis ich nachkommen kann.« »Ich verstehe«, sagte Molly süß und sehr gefährlich. »Ich bin jetzt also dein Hofnarr, richtig?« »Entschuldige!«, lenkte ich ein. »Ich bin immer noch dabei, den Dreh mit diesem Beziehungskistending rauszukriegen. Ich meinte natürlich, nimm die Sache in die Hand, bis ich nachkommen kann. Wir sind schließlich gleichberechtigte Partner!« »Nun«, meinte Molly, »damit kann ich mich vielleicht abfinden. Aber nur, weil ich dich so gern habe.« Mit großen Schritten durchmaß ich die langen Gänge und Korridore, die großen, kreisrunden Versammlungsräume und weitläufigen, luftigen Zimmer und steuerte auf die Privatgemächer der Matriarchin im Westflügel zu. Leute hörten auf mit dem, was sie gerade taten, um mir hinterherzuschauen. Ich lächelte denjenigen zu, die mir zulächelten, und funkelte alle andern böse an, um dafür zu sorgen, dass sie Abstand hielten. Ich war nicht in der Stimmung, noch mehr Fragen zu beantworten, insbesondere nicht, da ich kaum Antworten hatte. Jahrhundertealte Holzvertäfelungen glänzten auf allen Seiten mit einer tröstlichen Patina aus Alter und Bienenwachs; Gemälde berühmter Maler hingen an jeder Wand. Wohin ich auch blickte standen uralte Statuen und Büsten und Ornamente von großem Wert - die angehäuften Tribute an die Droods, uns übereignet von den Regierungen der Welt; natürlich weil sie uns so dankbar waren und nicht etwa, weil sie uns so fürchteten. Der ganze Flügel strahlte jene ruhige Zuversichtlichkeit aus, die entsteht, wenn er Generation um Generation seine Zimmer und Korridore bevölkern sieht. Diese leicht blasierte Gelassenheit, die sagt: Ich werde noch hier sein, wenn ihr schon lange tot seid. Von frühester Kindheit an wird jedem Drood eingebläut, dass wir nur hier sind, um der Familie bei ihrem unaufhörlichen Kampf gegen das Böse zu dienen. Soldaten in einem Krieg, der niemals endet. Unser Wahlspruch lautet: Alles für die Familie. Und ich glaubte daran. Wir hatten eine heilige Sache und eine heilige Pflicht, und unsere Feinde waren wahrlich finster und schrecklich. Auch nach all den Lügen, die ich im dunklen und verborgenen Herzen der Familie aufgedeckt hatte, glaube ich noch daran. Die Droods müssen weitermachen, weil die Menschheit ohne uns nicht überleben kann. Ich musste die Familie einfach wieder zu dem machen, was sie einmal war, was sie ursprünglich hatte sein sollen: Schamanen unseres Stammes, stehen zwischen den Menschen und den Mächten, die sie bedrohen. Schamanen, die für sie kämpfen, für sie sterben. Die Beschützer, nicht die Herrscher der Menschheit. Die Matriarchin bewohnte natürlich die allerbesten Räumlichkeiten im Herrenhaus: eine ganze Zimmerflucht nur für sie und ihren Mann im obersten Stockwerk des Westflügels. Eine ganze Zimmerflucht, wo die meisten von uns mit nur einem Zimmer auskommen mussten und die jüngsten Familienmitglieder sogar in gemeinschaftlichen Räumen und Schlafsälen untergebracht waren. An einem Ort, der so vollgestopft war, dass er aus allen Nähten platzte, ist der einzige wirkliche Luxus Platz. Das Herrenhaus ist groß, aber die Familie ist noch größer. Als neues Familienoberhaupt hätte ich die Matriarchin hinauswerfen und mir die Zimmerflucht für mich selbst und Molly nehmen können, aber das brachte ich nicht übers Herz. Nicht nach dem, was ich dem Mann der Matriarchin, Alistair, angetan hatte. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug und sich meine Kehle zuschnürte, als ich mich der Tür der Matriarchin näherte. Ich war vorher erst einmal hier gewesen, damals, mit gerade zwölf Jahren. Ich war von der Matriarchin höchstpersönlich für eine private Befragung zu ihr zitiert worden - ein beispielloser Vorfall. Der Seneschall hatte mich hingebracht, eine große Hand stets bereit, mir eine Ohrfeige zu geben, falls ich trödelte. Ich war halb von Sinnen vor Lampenfieber. Was hatte ich diesmal falsch gemacht? Alle möglichen Dinge schossen mir durch den Kopf, aber nichts davon war schlimm genug, um die persönliche Aufmerksamkeit der Matriarchin zu rechtfertigen. Der Seneschall klopfte an die Tür, öffnete sie und stieß mich hinein. Und da war sie, Martha Drood, und saß kerzengerade auf einem Stuhl und fixierte mich mit ihrem unnachgiebigen Blick. Sie hatte mein letztes Schulzeugnis in der Hand, und sie war sehr enttäuscht von mir. Offenbar war es voller Bemerkungen wie Muss sich mehr Mühe geben, Könnte besser sein und, am vernichtendsten von allen, Intelligent, lässt es aber an Disziplin fehlen. Schon mit zwölf war meine Persönlichkeit fast fertig ausgebildet. Die Matriarchin schalt mich mit ihrer kältesten Stimme, während ich schmollend und starrsinnig vor ihr stand. Es war nicht mein Fehler, wenn ich Fragen stellte, die die Lehrer nicht beantworten konnten oder wollten. Wissen Sie, ich ließ mir eben nichts befehlen. Ich hätte alles getan, wenn man mich gefragt hätte, aber ich machte nichts, was man mir befahl, wenn ich keinen guten Grund dafür erkennen konnte. Und eine Familie, die auf Verantwortung und Pflicht aufgebaut ist, konnte eine derartige Haltung niemals akzeptieren. Sie hatten versucht, mir Respekt einzuprügeln, und als das nicht funktionierte, gaben sie der Matriarchin Nachricht, die mich jetzt als faul und widerspenstig tadelte und mir prophezeite, mit mir würde es ein schlimmes Ende nehmen. Ich denke, sie war hauptsächlich aus dem Grund ärgerlich, dass wir so eng verwandt waren und mein Versagen ein schlechtes Licht auf sie warf: Es wurde mehr von mir erwartet. Schon mit zwölf war ich alt genug, um zu fühlen, dass das ausgesprochen unfair war, aber ich hatte noch nicht das Zeug dazu, es in Worte zu fassen. Also stand ich nur mürrisch vor ihr und sagte nichts, selbst als sie versuchte, mich zu befragen. Am Ende warf sie mich raus und lieferte mich wieder den Lehrern und dem Seneschall aus. Ich glaube, sie nahm es mir übel, Zeit von wichtigeren Angelegenheiten abziehen zu müssen, nur um sich mit mir abzugeben. Ich war ihr nie wichtig gewesen, und da fragte sie sich, warum sie mir nicht wichtig war. Ich blieb vor der Tür der Suite stehen, atmete tief durch, stieß sie auf und ging ohne anzuklopfen hinein. Fang an, wie du vorhast weiterzumachen, oder du wirst untergebuttert. Das luxuriös eingerichtete Vorzimmer war voller Menschen, die auf einmal alle schwiegen und mich mit kalten und unfreundlichen Mienen anstarrten. Es sah so aus, als sei ich nicht der Einzige, der die Matriarchin sprechen wollte, nun, da sie sich in die Abgeschiedenheit ihrer Räume zurückgezogen hatte, um ihren verletzten Alistair zu pflegen. Niemand im Vorzimmer wirkte auch nur im Geringsten erfreut, mich zu sehen, aber daran gewöhnte ich mich allmählich. Ich blickte einfach finster zurück und schritt forsch vorwärts, als ob ich beabsichtigte, auf jedem herumzutrampeln, der mir nicht schnell genug aus dem Weg ging. Normalerweise funktioniert das, aber diesmal wich niemand auch nur einen Zentimeter zur Seite. Sie rührten sich einfach nicht von der Stelle und blockierten den Weg zwischen mir und der Tür zum Schlafzimmer der Matriarchin auf der anderen Seite des Vorzimmers. Sie trotzten mir, sodass ich nicht an ihnen vorbeikam. Manche waren ihre Freunde, manche ihre Verbündeten; die meisten waren einfach nur fest entschlossen, mir so viel zu verweigern, wie sie nur konnten. Sie waren alle Leute von Rang und Macht gewesen, bevor ich alles über den Haufen geworfen hatte. Ich blieb stehen - entweder das, oder ich hätte Zuflucht zu fliegenden Fäusten und Kopfnüssen nehmen müssen, und so weit war ich noch nicht. Noch nicht ganz. »Nun sieh mal einer an, wer hier ist!«, sagte ich. »Die ganzen vollwertigen Mitglieder der Lass-uns-die-Uhr-zurückdrehen-und-so-tun-als-ob-nichts-geschehen-wäre-Gesellschaft! Es sind Momente wie dieser, wo ich mich frage, ob wir nicht ein bisschen zu lasch im Umgang mit den für die Inzucht maßgeblichen Bestimmungen geworden sind. Alle mal die Hand heben, die an ihren Zehen bis elf zählen können!« Ein Frau unbestimmten Alters trat vor, um mich herauszufordern. Ich kannte sie nicht, aber ich erkannte die Sorte. »Wie kannst du es wagen?«, fragte sie laut. »Nach allem, was du der Familie und Martha und Alistair angetan hast! Wie kannst du es wagen, dein Gesicht hier zu zeigen?« »So ist's richtig, Liebes! Sag's ihm!«, sagte ein Mann direkt hinter ihr. Es musste sich um ihren Ehemann handeln; er hatte diesen gut dressierten Blick. »Hast du gar kein Schamgefühl, Edwin?« »Tut mir leid, nein«, antwortete ich. »Ist im Moment aus. Da werde ich wohl jemand in den Laden schicken müssen, um welches zu besorgen. Und schafft euch mir verdammt noch mal aus dem Weg, oder …« »Oder was?«, fauchte die Frau mich an und verschränkte die Arme vor ihrer imposanten Brust. »Du kannst uns nicht herumkommandieren!« »Ich glaube, ihr werdet feststellen, dass ich genau das kann«, entgegnete ich. »Vergesst nicht, ich habe einen Torques und ihr nicht! Aber was ich eigentlich sagen wollte war: Schafft euch mir aus dem Weg, oder ich werde den Seneschall reinrufen, um eure Namen festzustellen und Schädel einzutreten.« Es war ein Bluff, aber das wussten sie nicht. Alle blickten zu der Tür hinter mir, als ob sie damit rechneten, jeden Moment den Seneschall ins Zimmer platzen zu sehen, und man konnte beobachten, wie der Trotz ihnen langsam abhanden kam. Dennoch empörte sich die Frau unbestimmten Alters noch einmal. »Na hör mal!« Aber sie war nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache. Ihr Mann war schon im Begriff, sich hinter ihr zu verstecken. Ich schritt vorwärts, und die Menge teilte sich vor mir wie das Rote Meer. Ich hielt den Rücken gerade, den Kopf erhoben und den Blick geradeaus gerichtet. Wenn man durch eine Meute gefährlicher Tiere geht, darf man keinen Moment lang Schwäche zeigen, oder sie gehen einem an die Kehle. Ich öffnete die Tür zum Schlafzimmer, trat hindurch und schloss sie hinter mir ruhig, aber fest. Ich seufzte innerlich. Es ärgerte mich, dass sie mich nicht so respektierten, wie sie den Seneschall respektierten. Daran würde ich arbeiten müssen. Das Schlafzimmer der Matriarchin war überraschend freundlich und anheimelnd, trotz aller Größe. Behagliche Möbel, viel Licht von den großen Fenstern, überall Blumen. Karten und Briefe, die Unterstützung zusicherten, standen auf jeder Oberfläche. Eine Handvoll Leute hielt sich im Zimmer auf, um ihre Aufwartung zu machen und Trost zuzusprechen. Sie hatten nicht erwartet, mich hier zu sehen, aber keiner sagte etwas. Sie blickten Martha an, um einen Anhaltspunkt für ihr Verhalten zu bekommen, doch die schien von meiner Anwesenheit nicht einmal Notiz zu nehmen. Alistair saß, von Kissen gestützt, in dem großen Himmelbett. Er sah nicht gut aus. Selbst jetzt noch, Wochen nach dem, was vorgefallen war, war er in Verbände eingepackt wie eine Mumie. Er hatte die Decken bis zur Brust hochgezogen, als ob ihm kalt sei, obwohl ein loderndes Kaminfeuer für Temperaturen wie in einer Sauna sorgte. Die Verbände, die ich sehen konnte, waren mit Blut und anderen Flüssigkeiten befleckt, die durch sie durchsickerten. Sein rechter Arm war verschwunden. Die Chirurgen hatten ihn nicht retten können, deshalb hatten sie ihn ganz oben am Schulteransatz amputiert. Sein komplettes Gesicht war in Gaze eingewickelt, nur dunkle Löcher für Mund und Augen waren freigelassen worden. Ich konnte seinen Mund oder seine Augen nicht sehen. Das kommt dabei heraus, wenn man sich mit Höllenfeuer einlässt. Er hätte nie versuchen sollen, die Salem Special zu benutzen: Diese Waffe tat nie irgendwem gut. Und vielleicht hätte sein Zustand mir mehr Mitgefühl abgenötigt, hätte ich nicht gewusst, dass genau das es war, was er meiner Molly hatte antun wollen. Martha saß auf der Bettkante neben ihrem Mann und fütterte ihn mit Suppe aus einer Schüssel, ein Löffel nach dem andern. Als ob er ein Kind sei. Ich konnte mich daran erinnern, dass sie das auch einmal für mich getan hatte, ein Mal, als ich sehr klein war und die Ärzte glaubten, das Fieber würde mich dahinraffen. Tag und Nacht hatte sie bei mir gesessen und mich mit Suppe gefüttert, und ich hatte überlebt. Vielleicht hatte Alistair auch so viel Glück. Martha war ganz in Schwarz gekleidet, als ob sie in Trauer sei. Normalerweise war sie groß, stolz, aristokratisch und beängstigend beherrscht. Jetzt wirkte sie irgendwie … kleiner, als sei etwas Wichtiges in ihr zerbrochen. Es gefiel mir nicht, sie so sehen zu müssen. Ihr langes graues Haar, das sie sonst auf dem Kopf aufgetürmt trug, durfte jetzt einfach hinfallen, wo es wollte, und verdeckte den größten Teil ihres Gesichts. Aber ihre Hand war ruhig, als sie Alistair seine Suppe zuführte, und der Rücken, den sie mir so entschieden zuwandte, war fast schmerzlich gerade. Ich musste mit ihr reden, aber ich war noch nicht so weit. Also betrachtete ich die anderen Leute im Zimmer. Einige erkannte ich als bekannte oder mutmaßliche Anhänger der Null-Toleranz-Fraktion - schwerlich eine Überraschung, dass sie hier anzutreffen waren. Ihre einzige Chance, erneut Einfluss, wenn nicht sogar Kontrolle über die Familie zu gewinnen, bestand darin, die Matriarchin zu überreden, sich ihrer Sache anzuschließen. Ich nickte ein paar vertrauten Gesichtern ruhig zu und hielt dann jäh inne, als ich ein sehr vertrautes Gesicht sah. »Penny?«, sagte ich. »Eddie«, sagte sie mit ruhiger, kühler und völlig neutraler Stimme. »Schön dich wiederzusehen, Penny!« »Ich wünschte, ich könnte dasselbe sagen, Eddie.« Was ganz normal war. Penny war meine offizielle Kontaktperson in der Familie gewesen, als ich noch Agent im Außendienst war. Nach jeder Mission lieferte ich ihr meinen Bericht ab, und sie leitete alle Instruktionen oder Informationen an mich weiter, die die Familie für nötig erachtete. Ich habe Penny immer gemocht. Sie hat mir nie etwas durchgehen lassen. Penny Drood war eine hochgewachsene, kühle Blonde in einem eng anliegenden weißen Pullover über ebenso eng anliegenden grauen Hosen. Mit ihren kühlen blauen Augen und ihren blassrosa Lippen war Penny süß, gescheit und sexy und kultiviert wie ein sehr trockener Martini. Sie war ungefähr in meinem Alter, aber ich hatte keine Erinnerung aus Schultagen an sie. Wir waren viele damals. Auch nach zehn Jahren als meine Kontaktperson hätte ich Ihnen nicht sagen können, ob sie mich mochte oder nicht. Derartige Informationen teilte Penny nie mit jemandem. »In Ordnung, Leute!«, sagte ich laut. »Nett, dass ihr reingeschaut habt, aber, Mensch, seht nur, wie spät es geworden ist - ihr müsst jetzt gehen! Die Besuchszeit ist vorbei, bis ich hier fertig bin. Hoffentlich seid ihr intelligenter als die Menge draußen, sodass wir auf die üblichen Drohungen verzichten können. Schön, schön. Begebt euch zur Tür, Einerreihe, kein Schieben oder Schubsen, oder es werden vor der Schlafenszeit noch Tränen fließen!« Mit erhobenen Häuptern und in die Luft gereckten Nasen verließen sie das Zimmer, wobei sie mich so gründlich ignorierten, wie sie konnten. Penny machte Anstalten, ihnen zu folgen, aber ich hielt sie mit einer Gebärde auf. »Bleib noch einen Augenblick da, Penny! Ich will mit dir reden.« »Was bringt dich auf den Gedanken, dass ich mit dir reden will?« »Weil du, anders als die meisten in diesem Verein, tatsächlich ein Gehirn in deinem Kopf hast. Weil dir immer das Wohl der Familie am Herzen gelegen hat. Und weil das, was ich zu sagen habe, direkt mit dem Fortbestand der Drood-Familie zu tun hat. Interessiert?« »Möglicherweise. Du hast immer den Klang deiner eigenen Stimme zu sehr gemocht, Eddie.« »Du verletzt mich zutiefst!« »Ich stelle fest, dass du es nicht leugnest.« »Wie geht es der Matriarchin?«, wechselte ich schnell und geschickt das Thema. »Den Umständen entsprechend gut.« »Und Alistair?« »Was glaubst du denn?« Es war offensichtlich, dass sie nicht einen Zentimeter nachgeben würde, deshalb bedeutete ich ihr zu bleiben, wo sie war, während ich hinüberging und mich neben die Matriarchin stellte. Ich wartete darauf, dass sie mir wenigstens einen flüchtigen Blick zuwürfe, aber sie löffelte einfach weiter Suppe in die dunkle Öffnung in Alistairs Verbänden. Ich konnte kein Anzeichen dafür erkennen, dass er sie schluckte. Wäre nicht das leichte, aber unverkennbare Heben und Senken seines Brustkorbs gewesen, ich hätte mich gefragt, ob er nicht vielleicht tot sei und niemand es übers Herz gebracht hatte, Martha das zu sagen. »Hallo, Großmutter«, sagte ich schließlich. »Ich wäre schon früher gekommen, aber ich hatte sehr viel zu tun. Arbeit für die Familie. Wie geht es ihm?« »Was glaubst du denn?«, entgegnete Martha Drood mit ausdrucksloser Stimme und drehte sich immer noch nicht um. Sie klang müde, aber immer noch kalt wie Stahl, scharf wie eine Rasierklinge. »Sieh ihn dir an! Verstümmelt. Verkrüppelt. Entstellt. Mein wunderschöner Alistair! Und das hat er alles dir zu verdanken, Edwin.« »Wie hat er bloß die Salem Special in die Finger gekriegt?«, fragte ich. »Eine schreckliche Waffe; wir hätten sie schon längst zerstören sollen. Und Alistair hat nie etwas von Waffen verstanden; also muss sie ihm jemand gegeben haben. Hast du ihm die Pistole gegeben, Großmutter, damit er sie gegen meine Molly gebraucht?« Zum ersten Mal sah sie mich an, und ihre Miene war kalt und unnachgiebig wie Stein. »Natürlich nicht! Alistair war nie ein Kämpfer; er hat Feuerwaffen immer verabscheut. Das war eines der Dinge, die ich am meisten an ihm liebte. Nein, er wollte mich einfach nur beschützen. Also hat er Initiative gezeigt, zum ersten Mal in seinem Leben. Er muss gewusst haben, wie gefährlich die Salem Special war, aber sein einziger Gedanke war … dass ich in Gefahr schwebte.« »So hat sich letzten Endes herausgestellt, dass du doch recht gehabt hast, was ihn betrifft, Großmutter«, sagte ich. »Er war ein guter Mann und treu, wenn's darauf ankam. Aus diesem Grund hast du ihm auch nie das Geheimnis der goldenen Torques eröffnet. Hast ihm nie von den Generationen von Drood-Babys erzählt, die dem Herzen geopfert wurden, damit wir die goldene Rüstung tragen konnten. Du hast es ihm nie erzählt, weil du wusstest, ein guter Mann wie er hätte eine solche Abscheulichkeit niemals geduldet!« »Er brauchte es nicht zu wissen! Es war meine Bürde, nicht seine! Und ich tat, was getan werden musste, um die Familie stark zu halten. Stärker als alle Feinde, die uns in einem einzigen Moment heruntergezogen hätten, wenn wir je gestolpert wären!« »Martha?« Alistairs bandagierter Kopf drehte sich langsam, blindlings, hin und her, aufgeschreckt von ihrer gehobenen Stimme, oder vielleicht auch nur, weil die Suppenzufuhr aufgehört hatte. Seine Stimme war nur ein leichter Hauch. »Ist jemand hier, Martha?« »Es ist alles in Ordnung, Liebling!«, sagte Martha rasch. Sie schickte sich an, ihm die Schulter zu tätscheln, und hielt dann inne, aus Angst ihm wehzutun. »Sei jetzt wieder ruhig, Schatz. Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.« »Mir ist kalt. Und mein Kopf tut weh. Ist jemand hier?« »Es ist nur Edwin.« »Er ist wieder da, um uns zu besuchen?« »Ja, Liebling. Bleib du schön ruhig liegen, dann bekommst du gleich noch mehr gute Suppe.« Sie sah mich an. »Er erinnert sich an nichts mehr. Wahrscheinlich ist es am besten so. Außer … dass er sich überhaupt an kaum noch etwas zu erinnern scheint. Er weiß, wer er ist, und er weiß, wer ich bin, und das war es so ziemlich. Vielleicht wird er eines Tages sogar das vergessen haben, um zu vergessen, was du ihm angetan hast. Der Teufel soll dich holen, Edwin, was hast du hier verloren? Hast du nicht schon genug Unheil angerichtet? Du hast meinen Sohn James umgebracht! Den Allerbesten von uns - und ein besserer Mann, als du es je sein wirst! Du hast meinen Mann zugrunde gerichtet. Und du hast die Familie kastriert, indem du ihr die Torques weggenommen hast! Hast uns wehrlos im Angesicht unserer Feinde zurückgelassen und die ganze Menschheit ohne Verteidigung. Ich hätte meine Tochter nie diesen Mann heiraten lassen dürfen. Hätte dich nie von zu Hause fortgehen lassen dürfen. Und ich hätte dich schon vor langer Zeit töten sollen, Edwin!« »Kann nicht behaupten, dass irgendwas davon besonders überraschend für mich kommt, Großmutter«, sagte ich nach einer Weile. »Ich wusste immer, dass du mir gegenüber mehr Verpflichtung als Liebe empfindest. Kinder merken so was.« »Was willst du, Edwin?« »Ich will deine Hilfe, Großmutter. Ja, dachte ich mir, dass das deine Aufmerksamkeit weckt. Ich brauche deine Hilfe und Mitarbeit, um die Familie wiederaufzubauen und wieder stark zu machen. Stark und einig. Eine geteilte Familie kann sich nicht behaupten, und die Geier versammeln sich bereits. Ich tue, was ich kann, um für Führung zu sorgen, aber wohin mein Blick auch fällt, entsteht eine neue Splittergruppe. Deine Billigung wäre ein großer Schritt auf dem Weg zu dem Ziel, die Familie hinter mir zu einen. Deshalb bitte ich dich, allen Groll und alle Kränkungen, alte und neue, zu vergessen und mir zu helfen. Um der Familie willen.« »Nein«, sagte Martha völlig ruhig und genoss die Enttäuschung in meinem Gesicht. »Ich werde nicht gegen dich kämpfen, Edwin, aber ich werde dir auch nicht helfen. Ich werde dich diese Familie führen lassen, und wenn du alles vermasselt und die Familie zugrunde gerichtet hast, dann werden sie zu mir kommen und mich anbetteln, die Familie wieder zu führen - und ich werde ihnen ihren Wunsch erfüllen. Und ich werde alles rückgängig machen, was du getan hast, und wieder das aus der Familie machen, was sie vor dir war. Das, was sie sein soll.« »Menschen werden sterben, Martha.« »Sollen sie doch! Sollen sie den Preis für ihre Treulosigkeit zahlen!« Penny trat vor; sie wirkte tatsächlich schockiert. »Aber … Matriarchin? Was ist mit alles für die Familie?« »Lasst mich allein!«, sagte Martha Drood. »Ich bin müde.« Penny und ich gingen zurück durch das Vorzimmer, Seite an Seite. Die wartenden Leute schienen verblüfft, uns beide zusammen zu sehen, hatten aber genug Verstand, um nichts zu sagen. Diejenigen, die ich aus dem Schlafzimmer geschmissen hatte, hatten nichts Eiligeres zu tun, als an mir vorbeizustürzen, begierig darauf, die Matriarchin zu fragen, was gerade vorgefallen war. Ich fragte mich, wie viel sie ihnen wohl erzählen würde. Wieder auf dem Gang, schloss ich die Tür zur Suite fest hinter mir und setzte an, mit Penny zu sprechen, hielt dann aber inne und führte sie ein Stück weiter den Korridor hinunter. Nur für den Fall, das jemand das Ohr an die Tür gedrückt haben sollte. Ich hätte es ihnen zugetraut - ich an ihrer Stelle hätte es auch getan. »Penny«, begann ich, »du siehst ja, wie die Dinge liegen. Ich brauche deine Hilfe. Ich bitte dich aus demselben Grund darum, aus dem ich die Matriarchin gebeten habe: weil ich das nicht allein machen kann. Hilf mir, die Angelegenheiten zu führen - um der Familie willen!« Penny betrachtete mich nachdenklich, und ihr kühler Blick war so unleserlich wie immer. »Was genau hast du dir da vorgestellt? Soll ich deine Sekretärin sein?« »Tritt meinem Inneren Zirkel bei! Hilf, die Politik zu bestimmen! Hilf, Entscheidungen zu treffen, auf die es ankommt!« Einen Moment lang wirkte sie richtig schockiert, und ich musste lächeln. Was sie auch zu hören erwartet hatte - das war es nicht gewesen. Eine Zugehörigkeit zum Inneren Zirkel würde ihr wirkliche Macht innerhalb der Familie geben und eine echte Chance, mich zu beeinflussen. Sie holte tief Luft, was interessante Sachen mit ihrem engen weißen Pullover anstellte, und war sofort wieder ihr altes, kühles und beherrschtes Selbst. »Warum zum Teufel solltest du jemand wie mich wollen, eine Hardliner-Traditionalistin?« »Um dafür zu sorgen, dass ich redlich bleibe«, sagte ich. »Um mir die Dinge zu erzählen, die ich wissen muss, ob ich sie hören will oder nicht. Um mich im Zaum zu halten, wenn ich zu weit gehe; wenn ich versuche, Änderungen zu rasch durchzusetzen. Oder um mich anzuspornen, wenn ich anfange zu zweifeln. Du warst immer die Vernünftige, Penny. Das hört sich schrecklich an, ich weiß, aber Fakten sind Fakten. Wenn ich dich nicht davon überzeugen kann, dass etwas richtig oder notwendig ist, dann ist es das möglicherweise nicht. Und … du weißt verdammt viel mehr über das Führen solcher Angelegenheiten und die Organisation von Menschen als ich.« »So ziemlich jeder weiß mehr über diese Dinge als du«, bemerkte Penny. »Ich musste Stunden damit zubringen, deine Missionsberichte in Ordnung zu bringen, bevor ich sie weiterleiten konnte.« »Also, was sagst du? Bist du dabei?« »Hätte ich einen offiziellen Titel? Ich wollte schon immer einen offiziellen Titel!« »Wie wäre es mit Mein Gewissen?« »Ja«, meinte Penny, »damit könnte ich leben.« »Aber zuerst«, fuhr ich fort, »muss ich dich etwas fragen, Penny: Warst du ein Teil der Null-Toleranz-Fraktion?« »Nein«, antwortete Penny sofort. »Sie hatten ein paar gute Ideen, aber ich halte nichts von Splittergruppen innerhalb der Familie.« »Noch ein guter Grund, weshalb ich dich auf meiner Seite haben will.« »Was führt dich zu der Annahme, dass ich auf deiner Seite bin?« Jetzt war die Reihe an mir, sie nachdenklich zu betrachten. »Du bist jahrelang meine Kontaktperson gewesen«, sagte ich endlich. »Du kennst mich besser als die meisten. Du kennst die Dinge, die ich für die Familie gemacht habe; die Aufträge, die sie mir gegeben haben, weil sie zu gefährlich oder zu schmutzig für jemand anders waren. Du weißt, dass ich immer an das geglaubt habe, wofür diese Familie ursprünglich stehen sollte. Ich will die Familie nach ihrem eigenen Leitbild wiederaufbauen, nicht nach meinem.« »Wider bessere Einsicht denke ich, dass ich dir das glaube«, sagte Penny. »Ich bin mir aber nicht sicher, dass ich an dich glaube; wir werden abwarten müssen, was passiert. Aber ich bin … bereit, mich überzeugen zu lassen. Jemand muss diese Familie zusammenschweißen, und wenn die Matriarchin nicht will … Aber lass mich eins ganz klarstellen, Eddie: Ich mochte dich noch nie.« »Natürlich nicht!«, sagte ich. »Du kennst mich besser als die meisten.« Wir rangen uns beide ein schwaches Lächeln ab. Ich sah auf die Uhr und zuckte zusammen. »Der Innere Zirkel wartet im Sanktum schon auf mich«, sagte ich. »Komm mit, und ich werde dich einführen.« »Da gibt es einen anderen Ort, wo wir zuerst hinmüssen«, erklärte Penny bestimmt. »Vertrau mir, Eddie; du musst unbedingt sehen, was unten im Lageraum vor sich geht.« »Oh, verflucht!«, sagte ich. »Das wird wieder einer von diesen Tagen, stimmt's?« Also gingen wir nach unten in den Lageraum. Was so viel hieß wie, die ganze Strecke bis zum Nordflügel zu gehen, dann unter die Erde und an den ganzen Sicherheitsvorkehrungen und den Goblinwachhunden vorbei und schließlich in den gewaltigen, mit Stahl ausgekleideten Steinsaal zu gelangen, in dem der Lageraum der Familie untergebracht ist. Es ist jedes Mal ein Anblick, der einen fast aus den Latschen kippen lässt: das Nervenzentrum all unserer geheimen Kriege und der unsichtbaren Armeen, die am Tag und in der Nacht zusammenprallen. Riesige Bildschirme bedeckten die Wände und zeigten jedes Land und jede größere Stadt auf der Welt, dazu einen ganzen Haufen Orte, deren Wichtigkeit nur Leuten wie uns bekannt ist. Helle bunte Lichter zeigten Personen an, die wir beobachteten, und aktuelle Probleme, für die wir uns interessierten. In langen Reihen saßen Familienmitglieder an ihren Bildschirmarbeitsplätzen und konzentrierten sich auf ihre Tätigkeit, um mich nicht ansehen zu müssen. Hellseher beobachteten potenzielle Unruheherde mit ihren Gedanken, während Techniker an Computern, die mehr als nur dem neuesten technischen Standard entsprachen, für den hypermodernen Nachrichtendienst arbeiteten. Die meisten unserer geheimen Kriege werden in diesem Raum aufgrund unserer überlegenen Planung und Kenntnisse gewonnen, bevor auch nur ein einziger Schuss abgegeben wird. Und dennoch war etwas entschieden nicht in Ordnung im Lageraum. Ich ging langsam um die Arbeitsplätze herum, guckte den Leuten über die Schulter und betrachtete mit finsterer Miene die Bildschirme an den Wänden. Penny schlenderte neben mir einher und sagte nichts, sondern ließ es mich selbst herausfinden. »Es ist nichts los!«, stellte ich schließlich fest. »Die Karten an den Wänden müssten strahlen wie die Weihnachtsbäume und am Operationsplanungstisch müsste es summen wie in einem Bienenstock, aber es ist nichts los! Das … hat es noch nie gegeben!« »Weshalb ich wollte, dass du es mit eigenen Augen siehst«, sagte Penny. »Damit du eine Vorstellung davon bekommst, wie die Welt zurechtkommt, wenn die Familie ihr nicht über die Schulter guckt. Die Monitore sind dunkel, weil alle zu verwirrt und zu verängstigt sind, um etwas zu unternehmen: Sie wissen nicht, wieso wir so ruhig geworden und wieso so viele unserer Frontagenten plötzlich von der Bildfläche verschwunden sind. Haben wir Schaden genommen, sind wir schwach - oder führen wir bloß eine unserer teuflisch komplizierten und ausgeklügelten Operationen durch, die dazu gedacht sind, die Leute hinters Licht zu führen und dann hart gegen sie vorzugehen, sobald sie törichterweise den Köder geschluckt haben? Es wäre schließlich nicht das erste Mal. Aber schau dich mal um, Eddie; siehst du, wie angespannt alle sind?« »Ich dachte, das läge nur an meiner Anwesenheit.« »Ach, bild dir nur nichts ein! Hier stehen alle unter heißem Tee und Adrenalin und warten darauf, dass die Bombe platzt. Sie warten ab, welches Land oder welche Organisation oder welches Individuum endlich etwas anfängt, einfach nur um herauszufinden, wie viel man sich erlauben kann.« »Keins der Lichter zeigt Agenten im Außeneinsatz!«, bemerkte ich plötzlich. »Keine laufenden Operationen.« »Weil es keine gibt«, erklärte Penny. »Nachdem du der Familie die goldenen Torques weggenommen hattest, blieb den Agenten im Außendienst nichts anderes übrig, als unterzutauchen; andernfalls wären sie ohne ihre Rüstung hilflos und verwundbar zurückgeblieben. Wir können uns nicht leisten, dass irgendeiner unserer Feinde davon Wind bekommt. Noch nicht. Bisher ist noch keiner getötet worden, aber es ist nur eine Frage der Zeit.« Es kam mir zu Bewusstsein, dass die Leute rings um mich von ihren Arbeitsplätzen aufgeschaut hatten und mich anklagend anstarrten. Ich starrte wütend zurück, und sie widmeten sich schnell wieder ihrer Arbeit. Ich stand still da, blickte finster drein und dachte fieberhaft nach. Dies war alles meine Schuld; ich hatte es nicht durchdacht. Als ich entdeckt hatte, dass die goldene Rüstung der Familie von den gefangenen Seelen geopferter Kinder gespeist wurde, hatte ich keinen anderen Gedanken mehr gehabt, als dem ein Ende zu bereiten. Keinen Moment lang hatte ich innegehalten und berücksichtigt, dass ich damit anderer Leute Leben aufs Spiel setzte. Ich glaube zwar nicht, dass diese Erwägung mich aufgehalten hätte, aber ich hatte nicht nachgedacht. Und seitdem war ich zu sehr darin vertieft gewesen, das Herrenhaus zu leiten, als über das große Bild nachzudenken - dass die Welt auf Frontagenten angewiesen ist, um sie sicher zu halten, und dass die Agenten aufs Herrenhaus angewiesen sind. »In Ordnung«, sagte ich zu Penny. »Lass die Order ergehen: Alle Frontagenten sollen nach Hause kommen!« »Das könnte für manche gefährlich sein«, wandte Penny ein. »Außer Sicht zu bleiben ist das Einzige, was sie am Leben hält.« »Nun, dann sag ihnen, sie sollen nach bestem Ermessen handeln!«, sagte ich ungeduldig. »Aber wenn sie nicht ins Herrenhaus zurückkommen, um sich auf Sicherheitsrisiken hin überprüfen zu lassen, werden sie bei der Vergabe der neuen Silbertorques nicht berücksichtigt. Sag ihnen, sie können die alten Schleichwege benutzen; ich genehmige die zusätzlichen Ausgaben.« Ich ging zum Hauptoperationstisch hinüber, nahm ein Bündel der jüngsten Berichte in die Hand und blätterte sie schnell durch. Rings um den Tisch erntete ich entrüstete Blicke: Derartige Unterlagen waren ausschließlich für die Augen der Matriarchin bestimmt. Alle wussten, dass ich Martha als Oberhaupt der Familie ersetzt hatte, aber eine Menge Leute hatten sich offensichtlich noch nicht daran gewöhnt. »Wo ist Truman?«, erkundigte ich mich schließlich. »Ich sehe hier nichts von ihm. Haben wir keine aktuellen Meldungen übers Manifeste Schicksal? Sie müssen inzwischen doch mit der Neugruppierung beschäftigt sein, wieso sehe ich also hier nichts über ihre neue Basis, ihr neues Operationszentrum? Kommt schon, Leute; ich würde mich ja schon mit einer guten Schätzung zufriedengeben! Eine Organisation dieser Größe kann nicht wieder anlaufen, ohne alle möglichen verräterischen Spuren zu hinterlassen. Folgt dem Anführer, folgt dem Geld, folgt den Threads in den Internetforen - aber findet sie! Sie können nicht einfach verschwunden sein!« »Der Nachrichtendienst arbeitet daran«, sagte Penny ruhig. »Wir haben nicht vergessen, wie wir unsere Arbeit zu machen haben, nur weil du nicht hier warst und unser Händchen gehalten hast. Aber es deutet alles darauf hin, dass das Manifeste Schicksal in ein tiefes Loch gestiegen ist und es dann hinter sich zugezogen hat. Sie mögen geschwächt sein, nach dem, was du ihnen zugefügt hast, und das hast du auch gut gemacht, aber ihre Sicherheitsabteilung ist nach wie vor erstklassig. Und Truman, der war und ist ein Genie. Du hättest ihn töten sollen, als du die Gelegenheit dazu gehabt hast.« »Diese Gelegenheit hatte ich nie«, brummte ich. »Was meinst du, was er jetzt tun wird?« »Schwer zu sagen. Er ist ein echter Fanatiker und engagierter Verfechter seiner Sache; er will die Welt so führen, wie sie seiner Ansicht nach geführt werden sollte, und alle, die in dieses Bild nicht hineinpassen, werden eliminiert. In der Vergangenheit hat ihn die Null-Toleranz-Fraktion im Zaum gehalten. Nachdem die inzwischen die Zügel aus der Hand gegeben hat, weiß Gott allein, welche Gräueltaten er jetzt plant.« »Seine alte Basis unter dem U-Bahnnetz ist völlig verlassen«, sagte Penny. »Wir haben ein paar Leute dort, die sich umschauen, in der Hoffnung, etwas Brauchbares zutage zu fördern.« »Augenblick mal!«, fiel ich ihr ins Wort. »Es gab nur zwei Frontagenten in London: mich und Matthew. Ich bin hier, und er ist tot - wen habt ihr also unter London rumrennen?« »Freiwillige«, versetzte Penny. »Die Arbeit muss weitergehen, auch wenn du … sagen wir, abgelenkt bist. Nicht jeder will sich hier im Herrenhaus verstecken, bis du dazu kommst, neue Torques auszugeben. Manche von uns wissen immer noch über Pflicht und Verantwortung Bescheid!« »Halt mir keinen Vortrag!«, sagte ich. »Lass es einfach; dazu habe ich zu viel gesehen und getan. Aber du hast natürlich völlig recht: Die Arbeit hier muss wirklich weitergehen. Die Welt wird nicht stillstehen, nur weil wir gerade eine Krise in der Familie haben. Freiwillige, soso. Gut zu wissen, dass uns noch ein paar tapfere Seelen geblieben sind. Haben sie schon etwas Lohnendes ausgegraben?« »Frag sie selbst«, antwortete Penny. »Wir haben einen direkten Videofeed eingerichtet. Völlig gesichert selbstverständlich.« »Oh, selbstverständlich«, sagte ich. »In Ordnung, schalt mich zu!« Penny nickte zur Kommunikationskonsole hin, und bemerkenswert schnell zeigten sich auf einem der großen Kontrollschirme Bilder eines dunklen, schattigen Raums, in dem hier und da im Schein hüpfender Taschenlampenstrahlen Einzelheiten zu erkennen waren. Als Silhouetten erkennbare Gestalten bewegten sich ruckartig zwischen Reihen stummer Apparaturen. Es dauerte einen langen Moment, bis ich die normalerweise hellen, glänzenden Stahlkorridore des Hightech-Hauptquartiers des Manifesten Schicksals wiedererkannte. Sämtliche elektrischen Lichter waren aus und alle Geräte abgeschaltet. Hier und da flatterten lose Papierblätter, zurückgelassen in der Eile des Aufbruchs. Es war wie der Blick in eine vor Kurzem geöffnete Gruft in einer Ausgrabungsstätte im Tal der Könige. Eine schattenhafte Gestalt näherte sich der Kamera. »Würdet ihr bitte aufhören, mir auf den Wecker zu gehen?«, sagte eine schroffe Stimme. »Wir werden uns mit euch in Verbindung setzen, wenn wir etwas haben, das es wert ist gemeldet zu werden. Der ganze Ort ist ein Saustall. Wir müssen uns vorsichtig bewegen, weil die Dreckskerle noch Zeit gefunden haben, einen ganzen Haufen versteckter Sprengladungen zurückzulassen, bevor sie verduftet sind; Stolperdrähte und Granaten hauptsächlich. Wäre uns ja egal, wenn wir unsere Torques hätten, aber so … Wir dringen augenblicklich tiefer ins Herz des Bunkers vor, aber es sieht so aus, als ob sie alles von Wert mitgenommen und den Rest demoliert hätten. Ein örtlich beschränkter EMP hat alle ihre Computer erledigt; wir werden für alle Fälle die Festplatten mit zurückbringen, aber ich an eurer Stelle würde die Hoffnungen nicht zu hoch schrauben. Ach ja, und wir haben auch noch ein paar Leichen gefunden. Ohne DNA-Proben zu nehmen, sind sie nicht mehr zu identifizieren - sieht aus, als hätten sie gerade eine letzte Falle aufstellen wollen, als sie ihnen plötzlich um die Ohren flog. Das wars; Ende des Berichts. Bliebe nur noch anzumerken, dass es kalt ist und feucht und ich mir sicher bin, dass ich mir was einfangen werde. Jetzt geht weg und belästigt jemand anders; wir haben zu tun. Ich will, dass wir fertig werden und von hier verschwinden, bevor irgendeine andere Organisation auf die glorreiche Idee kommt, hier runterzukommen und nachzuschauen, ob sich nicht noch was Verwertbares finden lässt.« »Hier ist Eddie Drood«, sagte ich. »Tja, welch eine Freude. Betrachte mich als beeindruckt. Du weißt nicht, wer ich bin, stimmt's?« »Nein«, antwortete ich. »Dann wollen wir's dabei belassen. Wir sind bald wieder zu Hause; setz schon mal das Teewasser auf.« Und er beendete die Videoübertragung von seinem Ende aus. Alle sahen mich an, also achtete ich darauf, zu lächeln. »Ich weiß zwar nicht, wer er ist, aber sein Stil gefällt mir - erinnert mich an mich. Sorgt dafür, dass ich im dem Moment, wo er hier auftaucht, einen vollständigen Bericht von ihm erhalte. In der Zwischenzeit arbeitet weiter daran, Trumans neue Operationsbasis aufzuspüren. Er muss etwas Fieses planen, um sich wieder zu etablieren, und ich will ein gutes Stück im Voraus alles darüber wissen!« »Siehst du?«, meinte Penny. »Du kannst doch so auftreten, als ob du das Sagen hättest, wenn du dich nur darauf konzentrierst!« Alle Treffen meines Inneren Zirkels fanden im Sanktum statt, dem riesigen, freien Raum, der einst das verdammte Herz beherbergt hatte, bevor ich es zerstörte. Der Zirkel traf sich im Sanktum, weil das der einzige Ort im Herrenhaus war, wo ich sicher sein konnte, absolut ungestört zu sein. Das Sanktum war entworfen worden, um die gefährlichen andersdimensionalen Ausstrahlungen des Herzens zu isolieren, und nichts konnte die mächtigen Schilde des Sanktums durchdringen. Die andersdimensionale fremde Materie, die ich ins Herrenhaus gebracht hatte, nahm jetzt das Sanktum ein; sie manifestierte sich als warmes, zufriedenes, karmesinrotes Leuchten, das von einer einzigen silbernen Perle fremdartiger Materie ausging. Allein in dem Leuchten zu stehen, reichte schon, um sich gut zu fühlen. Ruhig und entspannt und sicher, mit Leib und Denken und Seele. Genaugenommen fühlte es sich so gut an, dass der Zutritt zum Sanktum streng hatte beschränkt werden müssen, aus Furcht, dass Leute abhängig werden könnten. Die fremde Materie schwor zwar, dass das nicht passieren konnte, aber ich hatte gelernt, nicht alles zu glauben, was man mir erzählt. Der springende Punkt ist, dass dank der Abschirmung des Sanktums und der ungewöhnlichen Emissionen der fremden Materie niemand die Treffen des Inneren Zirkels belauschen kann. Und es gibt im Herrenhaus immer jemanden, der versucht, mitzuhören: Es ist die einzige Möglichkeit, jemals etwas von Bedeutung zu erfahren. Penny kam mitten in der Tür zum Sanktum zum Stehen, als sie die volle Wirkung des roten Leuchtens aufnahm. Ihr Gesicht wurde sanfter, und sie lächelte mit einem echten Lächeln, ganz unähnlich ihrer üblichen, kühlen Erscheinung. Sie sah gelassen und zufrieden aus, mit sich selbst im Reinen. Es passte nicht zu ihr. Sie unternahm eine bewusste Anstrengung, den Effekt zu ignorieren, und erlangte etwas von ihrer normalen Fassung wieder. »Bemerkenswert!«, sagte sie. »Erinnert mich daran, vor einem von Kleins famosen blauen Bildern im Louvre zu stehen.« Sie bemerkte meine Überraschung und hob eine herablassende Augenbraue. »Ich habe schon Kultur!« »Dann solltest du Joghurt drauftun«, meinte Molly. Penny und ich sahen uns um, und da war der Rest meines Inneren Zirkels und starrte uns argwöhnisch an. Das gute, von dem karmesinroten Leuchten ausgehende Gefühl verließ mich augenblicklich. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das hier einfach werden würde, aber die grimmigen Gesichter des versammelten Zirkels ließen keinen Zweifel daran bestehen, dass mir eine fiese Schlacht bevorstand. Ich nahm Penny am Arm und führte sie nach vorn, wobei ich die finsteren Blicke des Zirkels direkt erwiderte. »Penny ist jetzt eine von uns«, erklärte ich mit Bestimmtheit. »Ein Vollmitglied des Inneren Zirkels. Und ich will keine Beleidigungen mehr hören. Ich vertraue ihr, und das solltet ihr auch.« »Einfach so?«, fragte Molly gefährlich. »Jawohl«, bekräftigte ich. Molly sah den übrigen Zirkel an. »Ich schlage ihn nieder, und ihr legt ihm die Zwangsjacke an.« »Ich brauche Berater aus allen Teilen der Familie«, sagte ich geduldig, »einschließlich der Traditionalisten.« »Du meinst diejenigen, die deinen und meinen Tod wollten?«, hakte Molly nach. »Diejenigen, die dich für vogelfrei erklärt und unter dem Deckmantel der Null-Toleranz-Fraktion heimlich das Manifeste Schicksal geleitet haben?« »Das sind sie«, bestätigte ich. »Außer dass Penny nie bei den Null-Toleranzlern war; das hat sie mir gesagt.« »Und du hast ihr geglaubt?«, fragte Molly. »Na klar«, sagte ich. »Sie gehört zur Familie.« »So«, schaltete Penny sich ein, »das ist also der berüchtigte Innere Zirkel? Das ist das, was die Stelle des Rates der Matriarchin eingenommen hat, der durch jahrhundertelange Tradition geheiligt war?« »Genau«, sagte ich. »Irgendwann einmal wird der Innere Zirkel einem neuen Rat weichen, welcher von der Familie zu wählen ist. Es wird allmählich Zeit, dass hier etwas Demokratie Einzug hält.« »Demokratie?«, fragte Molly. »Halt die Klappe, Schatz, jetzt rede ich!«, sagte ich. »Der alte Rat musste gehen, Penny; seine Mitglieder waren alle korrupt. Sie kannten die Wahrheit über die Torques und haben nie etwas dagegen unternommen. Sie kannten die Wahrheit über die wahre Rolle der Familie in der Welt, und sie waren einfach damit einverstanden.« »Ein gewählter Rat …«, grübelte Penny. »Von der ganzen Familie oder nur von denjenigen, denen du am Ende neue Torques geben wirst?« Ich grinste den Inneren Zirkel an. »Seht ihr? Deshalb ist sie hier - um die nötigen peinlichen Fragen zu stellen.« Ich sah in die Runde, aber es schien sie nicht sonderlich beeindruckt zu haben. Mein Innerer Zirkel setzte sich zusammen aus Molly Metcalf, meinem Onkel Jack, dem Waffenmeister der Familie, dem Gespenst Jacob Drood, dem Seneschall und nun auch Penny. Ich hätte die Familie auch allein regieren und mich selbst zum Patriarchen oder so was ausrufen können, aber ich hatte gesehen, wohin das führte. Macht hat die Tendenz zu korrumpieren, und die Droods sind die mächtigste Familie auf der Welt. Also wählte ich Personen aus, um mich zu beraten; Personen, bei denen ich darauf vertrauen konnte, dass sie mir die Wahrheit sagten, ob ich sie hören wollte oder nicht; Leute, die es gegebenenfalls mit mir aufnehmen konnten, falls es einmal so aussah, als geriete ich außer Kontrolle. Penny nickte den anderen Familienmitgliedern des Zirkels steif zu, wenngleich sie sich nicht dazu bringen konnte, Jacob in die geisterhaften Augen zu sehen; für Molly jedoch hatte sie nur einen kalten, abweisenden Blick übrig. »Ich hätte wissen sollen, dass du deine Freundin in eine Machtposition stecken würdest«, sagte sie süß. »Du warst schon immer ein rührseliger Romantiker, Eddie. Du musst wissen, dass man ihr keinen Einfluss auf die Familie gestatten darf; das geht einfach nicht. Ich meine, sie ist eine Außenseiterin.« »Sie ist auf meiner Seite«, sagte ich kategorisch. »Akzeptiert das und macht weiter, oder es wird vorm Schlafengehen noch Tränen geben!« Der Waffenmeister gab sein übliches gewichtiges Räuspern von sich, was bedeutete, dass er etwas Wichtiges zu sagen hatte und es auch sagen würde, egal was andere davon halten mochten. Er hatte seinen üblichen chemikalienbefleckten und leicht angekokelten Laborkittel an; ein spindeldürrer Mann mittleren Alters mit viel zu viel nervöser Energie und nicht annähernd genug Selbsterhaltungstrieb. Er entwarf und baute Waffen und Apparate für Agenten an der Front, wobei ihm ein scharfer, neugieriger Verstand und das völlige Fehlen jeglicher Skrupel zugute kamen. Unter seinem Kittel trug er ein schmuddeliges T-Shirt mit der Aufschrift Massenvernichtungswaffen - hier nachfragen. (Einmal hatte er eine Nuklearhandgranate konstruiert, konnte aber niemand finden, der sie weit genug werfen konnte.) Zwei große Büschel weißer Haare standen über seinen Ohren hervor, abgesehen von einem Paar buschiger weißer Augenbrauen die einzigen Haare auf seinem Kopf. Er hatte gelassene graue Augen, ein knappes, aber einnehmendes Lächeln und ein irgendwie zappeliges Auftreten. Dazu einen ausgeprägten Buckel von viel zu vielen Jahren, die er über das Reißbrett gebückt zugebracht hatte, um richtig gefährliche Sachen zu erfinden. Er war mein Onkel Jack, und ich wäre lieber gestorben, als ihn zu enttäuschen. »Ich kann nicht lang bleiben«, sagte er schroff und blickte in seiner gewohnten Art finster um sich. »Ich habe meine Praktikanten allein und unbeaufsichtigt in der Waffenkammer lassen müssen, und das ist immer gefährlich. Für sie und für ihre Umgebung genauso. Und natürlich sind sie dieser Tage viel verwundbarer, ohne ihre schützenden Torques. Allerdings scheint sie das in keiner Weise zu bremsen. Neulich musste ich einem von ihnen einen Superstring wegnehmen. Kein Respekt mehr vor den elementaren Kräften der Physik! Wie hat der Overdrive im Bentley gearbeitet, Eddie? Ich bin echt stolz darauf. Und ziemlich sicher, ihm inzwischen alle Mucken ausgetrieben zu haben.« »Nur ziemlich sicher?«, fragte Molly. »Das sagt er uns jetzt …« »Hat prima funktioniert«, antwortete ich. »Ich habe den Bentley für ein paar kleinere Reparaturen in die Waffenkammer gebracht.« »Wie? Was?«, rief der Waffenmeister erzürnt. »Was meinst du damit, kleinere Reparaturen? Was hast du angestellt, Eddie? Was hast du mit meinem wunderschönen alten Bentley angestellt? Du hast einen Unfall gebaut, stimmt's? Du hast einen Unfall mit dem Bentley gehabt, nachdem ich dir gesagt habe, dass ich ihn dir nur leihe!« »Nein, ich habe keinen Unfall gebaut«, entgegnete ich ruhig. Man lernt, in Unterhaltungen mit dem Waffenmeister ruhig zu bleiben, denn er kann sich aufregen für zwei. Also muss einer die Ruhe bewahren, und das ist mit Sicherheit nicht er. »Ich habe mir nur ein paar ganz unbedeutende Kratzer und Dellen eingefangen, während eines Abstechers durch die Nebendimensionen.« »Ich gehe wieder in die Waffenkammer!« »Nein, das tust du nicht!«, sagte ich schnell. »Wir haben wichtige Angelegenheiten zu besprechen!« »Wichtige Angelegenheiten, ei!«, sagte der Geist des alten Jacob lebhaft. »Das hört sich wichtig an!« Jacob gab sich alle Mühe, aber er war einfach nicht so konzentriert wie sonst. Als er noch im Exil in der alten Kapelle hinterm Herrenhaus gelebt - oder vielmehr existiert - hatte, hatte er immer ganz zufrieden in seiner Geisterunterwäsche herumgesessen und sich die Erinnerungen alter Fernsehprogramme in einem Fernseher ohne Innenleben angeschaut. Die meisten in der Familie sprachen nicht mit ihm, aber er und ich waren gute Freunde gewesen, seit ich ihn in meiner Kindheit ausfindig gemacht hatte. (Weil ich wusste, dass ich das nicht sollte.) Jetzt, wo er offiziell wieder ein Teil der Familie und erneut ins Herrenhaus gezogen war, hatte Jacob gewisse Anstrengungen unternommen, sich herauszuputzen. Er sah immer noch älter als der Tod selbst aus, das Gesicht voller Runzeln und die Glatze mit nur wenigen flatternden Haaren geschmückt, aber er hatte sein Ektoplasma mit einem schicken Smoking veredelt, auch wenn der Stoff eher zu Marineblau als zu Schwarz tendierte und Jacob den Kragen ständig vergaß. Aber als seit Langem existierender Geist - oder zumindest als dickköpfige Weigerung, sich zur Ruhe zu legen - wurde er nur von seiner Konzentration zusammengehalten. Und seit einiger Zeit hatten seine Gedanken eine ausgeprägte Neigung zum Schweifen gezeigt. Weshalb er mitunter plötzlich ein Hawaii-T-Shirt über ausgebeulten Shorts und eine breite, rote Schärpe mit der Aufschrift tödlich behindert trug. Auch ließ er lange Spuren blassblauen Ektoplasmas in der Luft hinter sich zurück, wenn er plötzliche Bewegungen machte. Jacob der Geist zerfiel, Leib und Seele, und er wusste es. Der Seneschall starrte Jacob wütend an. Er missbilligte die Existenz des alten Gespensts, und er machte kein Hehl daraus. »Warum suchst du dir nicht ein hübsches Grab und kommst zur Ruhe?«, fragte er bissig. »Du weißt, dass du nicht hier sein solltest. Die Familienrichtlinien bezüglich Geistern sind unmissverständlich: Jedes Gespenst, das hier aufkreuzt, wird fix wieder weggeschickt. Keine Ausnahmen! Ansonsten würden uns die Dinger inzwischen bis zur Hüfte reichen!« »Ich bin davon ausgenommen«, erklärte Jacob bestimmt. »Mit welcher Begründung?«, verlangte der Seneschall zu wissen. »Weil ich es so sage, und das solltest du verdammt noch mal nicht vergessen! Ich bin von allem ausgenommen, wonach mir gerade zumute ist, mit der Begründung, dass ich jedem einen Arschtritt verpassen werde, der etwas anderes sagt. Tot zu sein ist sehr befreiend. Du solltest es mal versuchen, Seneschall - vorzugsweise bald.« »Benimm dich, Jacob!«, forderte ich ihn auf. »Denk dran, ich habe immer noch die Telefonnummer des Exorzisten in der Kurzwahl!« »Wir müssen über die Anwesenheit der Hexe hier sprechen«, sagte Penny störrisch. »Nein, müssen wir nicht«, erwiderte ich. »Ich habe eine bessere Idee«, sagte Molly. »Lasst uns über deine Anwesenheit hier sprechen, Penny-Schätzchen! Bist du eine von Eddies alten Flammen, so wie diese fürchterliche Kuh Alexandra?« Penny schnaubte laut. »Das könnte ihm so passen.« »Wirst du jetzt jeden, der dir gerade passt, in den Zirkel hineinbringen?«, fragte der Seneschall. »Haben wir in der Sache nicht ein Wort mitzureden?« »Wenn ihr noch jemand im Sinn habt, schlagt ihn vor«, antwortete ich. »Ich nehme alle Hilfe, die ich kriegen kann. Ich führe die Geschäfte augenblicklich nur, weil ich sonst keinen finde, dem ich vertrauen kann. Ich bin der Einzige in dieser Familie ohne ein Eigeninteresse. Der ganze Sinn dieses Inneren Zirkels ist es, der Bildung eines neu gewählten Rats den Weg zu bereiten, damit dieser übernehmen kann und ich mich wieder einfach nur dem Dasein als Agent an der Front widmen kann, wo ich hingehöre. Wo ich glücklich war.« »Willst du damit sagen, dass du nicht mehr glücklich warst, seit du mich kennengelernt hast?«, fragte Molly. »Du bist das einzige Gute in meinem Leben, und das weißt du«, antwortete ich. »Also hör auf, nach Komplimenten zu fischen!« »Wirf mir auf der Stelle eine Kusshand zu«, verlangte Molly, »oder ich verrate allen, wo du ein komisch geformtes Muttermal hast!« »Wir müssen Jacobs Stellung in der Familie diskutieren!«, beharrte der Seneschall. »Er ist wieder in sein altes Zimmer im Herrenhaus eingezogen, das, in dem er gewohnt hat, als er noch lebte. Er hat dem eigentlichen Bewohner einen solchen Schrecken eingejagt, dass er schreiend rausgerannt ist und sich bis jetzt weigert, wieder hineinzugehen.« »Ich weiß«, sagte der Waffenmeister. »Wir haben den armen Kerl unten auf der Krankenstube. Ich weiß nicht, was du mit ihm angestellt hast, Jacob, aber er hat immer noch nicht aufgehört zu zucken. Und er kann nicht einschlafen, wenn nicht jemand seine Hand hält.« Jacob kicherte. »Er hätte nicht an sich herumspielen sollen, als ich erschienen bin. Und ich bin hier, weil ich hier sein sollte. Es gefällt mir, wieder im Herrenhaus zu sein, und wenn auch nur, weil es so viele von den feinen Leuten ärgert. Es hat sich eine Menge geändert, seit ich zum letzten Mal hier war! Ich kann nicht glauben, wie überfüllt das Herrenhaus dieser Tage ist. Die Familie hat sich wie die Karnickel vermehrt! Wir müssen mehr von den jungen Leuten in die Welt hinausschicken. Stoßt sie aus dem Nest! Fliegt, kleine Vögelchen! Ja, ich weiß, ich schwafele; das darf man, wenn man so lange tot gewesen ist wie ich.« »Versteh mich nicht falsch«, sagte ich, »aber warum bist du noch hier, Jacob? Ich dachte, du hättest nur als Gespenst hier rumgehangen, um mir helfen zu können, als ich die Familie vor dem Herzen gerettet habe.« »Das hatte ich eigentlich auch gedacht«, meinte Jacob mit finsterer Miene. Seine Augen verschwanden und hinterließen nur tiefe, dunkle Löcher in seinem Gesicht. »Aber etwas hält mich noch hier fest. Irgendeine Kraft … wie ein nicht eingelöstes Versprechen. Meine Aufgabe hier ist noch nicht erfüllt, verdammt! Etwas kommt auf uns zu, Eddie. Etwas Gutes, etwas Schlechtes … irgendetwas.« Wir warteten alle, aber er hatte nichts mehr zu sagen. Ich fand, dass es ganz entschieden Zeit war, das Thema zu wechseln, und weil ich jeden daran erinnern wollte, dass ich das Sagen hatte, hielt ich mich an etwas, was mir schon eine ganze Weile lang auf die Nerven ging. Ich blickte den Seneschall streng an. »Wie heißt du? Ich kann dich nicht ständig Seneschall nennen, und ich will verflucht sein, wenn ich dich wie als Kind wieder Sir nenne!« »Nenn mich Seneschall; das ist mein Titel.« »Ich könnte es dir von Molly aus deinem lebendigen Hirn reißen lassen!«, sagte ich. Es war ein Bluff, aber das wusste er nicht. Wenn der Seneschall so fest entschlossen war, mir seinen Namen nicht zu verraten, dann wollte ich ihn erst recht wissen: Es musste etwas Gutes sein. Der Seneschall seufzte, nur ein bisschen. »Ich heiße Cyril.« Manche Dinge sind einfach zu schön, um wahr zu sein. Ich glaube, das Einzige, was den ganzen Zirkel davon abhielt, in stürmisches und hysterisches Gelächter auszubrechen, war unsere umfassende Kenntnis der Brutalität des Seneschalls und die Tatsache, dass er Waffen aus dem Nichts beschwören konnte, wenn ihm danach war. »Cyril?«, wiederholte ich begeistert. »Scheiße nochmal, Cyril? Kein Wunder, dass du dich zu einem Schläger und Tyrannen entwickelt hast, bei so einem Namen! Du musst deine Eltern geliebt haben!« »Sie waren feine, anständige Menschen«, erwiderte der Seneschall mit Nachdruck. »Wenn ich jetzt mit meinem Bericht betreffend der Überschreitungen des Gespensts Jacob fortfahren dürfte?« »Oh, unbedingt!«, sagte ich. »Lass dich von mir nicht aufhalten, Cyril!« »Es hat zahlreiche Meldungen gegeben, dass Jacob in den Duschräumen und Umkleidekabinen der Damen herumgegeistert ist.« »Ich verlaufe mich ständig.« »Das machst du keinem weis, Jacob«, warf ich ein. »Und«, fuhr der Seneschall fort, »es hat sogar Meldungen gegeben, dass er den Geist der kopflosen Nonne durch die Katakomben gejagt hat!« Jacob grinste. »Hey, sie ist das einzige andere Gespenst im Herrenhaus! Kann man mir einen Vorwurf machen, wenn ich mal ein bisschen Ektoplasma tauschen will? Netter Arsch, für eine Nonne. Verdammt, sie ist schnell unterwegs, besonders wenn man sich vor Augen hält, dass sie nicht sehen kann, wo sie hinläuft!« »Du bist ein Mitglied des Inneren Zirkels!«, fuhr der Seneschall ihn an. »Du solltest mit gutem Beispiel vorangehen!« »Aber wenn sie doch so flink ist …« »Hört auf damit!«, sagte ich rasch. »Dein Ektoplasma fängt schon an zu zittern! Lasst uns weitermachen. Haben wir irgendwelche Fortschritte bei der Untersuchung der Frage gemacht, wer hinter den jüngsten Angriffen aufs Herrenhaus stand, kurz bevor ich hierher zitiert wurde? Gibt es irgendwelche neuen Informationen?« »Nichts. Nicht ein Wort«, sagte der Waffenmeister. »Vielleicht sollten wir die fremde Materie fragen«, schlug der Seneschall spitz vor. »Weil sie sich ja letzten Endes als verantwortlich für die Zerstörung des Herzens herausgestellt hat.« »War ich nicht«, sagte eine ruhige und vernünftige Stimme aus dem Inneren des karmesinroten Leuchtens. »Zu diesem Zeitpunkt war ich immer noch auf der Suche nach dem Herzen und wusste nicht einmal, dass es sich in dieser Dimension aufhält. Ihr dürft nicht vergessen: Das Herz hatte sich viele Feinde gemacht, Feinde aus allen Welten und Rassen, die es versklavt hatte, bevor es hierher kam. Manche dieser Feinde haben fast so lang wie ich nach dem Herzen gesucht.« Das klang ziemlich einleuchtend, aber wenngleich ich der fremden Materie für vieles zu danken hatte und sie immer das Richtige sagte, änderte das dennoch nichts an der Tatsache, dass sie nach wie vor ein nahezu gänzlich unbekannter Faktor war. Alles, was wir über sie wussten, war das, was sie uns zu erzählen beliebt hatte. Wenn sie hinter den anderen Angriffen gesteckt hätte, würde sie das zugeben? Wir hatten kein Mittel, sie zu zwingen, die Wahrheit zu sagen. Ich rieb mir die Stirn, als ein langsamer, quälender Kopfschmerz einsetzte. Paranoid zu sein ist sehr ermüdend, aber wenn man ein Drood ist, ist es die einzige Möglichkeit, immer einen Schritt voraus zu bleiben. »Fremde Materie …«, sagte ich. »O bitte, nennt mich Ethel!« »Wir werden dich nicht Ethel nennen!«, erklärte ich sehr bestimmt. »Wieso nicht? Was ist an Ethel nicht in Ordnung? Das ist ein tadelloser Name. Ich mag ihn. Er ist ehrlich, bezaubernd, er ist … ich.« »Wir werden dich nicht Ethel nennen!« »Ist doch nichts verkehrt an Ethel«, meinte die fremde Materie. »Winston Churchill hatte einen zahmen Frosch, der Ethel hieß.« »Nein, hatte er nicht!« »Er könnte einen gehabt haben - das weißt du nicht.« »Ich werde dich Seltsam nennen«, sagte ich. »Das ist der einzige Name, der passt.« »Du hast keinen Sinn für Humor«, sagte Seltsam. »Eigentlich …«, setzte Molly an. »Scht!«, sagte ich schnell. Der Waffenmeister produzierte einen weiteren seiner beeindruckenden Räusperer. »Wie bist du bei der Matriarchin vorangekommen, Eddie?« »Nicht besonders«, gab ich zu. »Sie sagte mir, ich solle mich zum Teufel scheren. Sie würde lieber die ganze Familie zusammenbrechen als mit mir an der Spitze gedeihen sehen.« Der Waffenmeister nickte widerwillig. »Mutter konnte schon immer sehr stur sein. Aber du musst es weiter bei ihr versuchen, Eddie. Du brauchst sie auf deiner Seite, wenn du die ganze Familie dazu bringen willst, an einem Strang zu ziehen. Sie repräsentiert die Vergangenheit und die Tradition und all die Dinge, die der Familie das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben.« »Das wird nicht einfach werden«, prophezeite ich. »Natürlich wird das nicht einfach werden, Eddie! Du hast ihren Lieblingssohn getötet, meinen Bruder James! Ich weiß, dass du keine andere Wahl hattest, und dennoch habe ich Schwierigkeiten, dir zu verzeihen. Der alte Graue Fuchs war der Beste von uns, so viele Jahre lang. Und vergiss nicht: Er hatte eine Menge Bewunderer auch außerhalb der Familie. Alte Freunde und alte Feinde, denen es ganz und gar nicht gefallen wird, zu hören, dass er durch deine Hand gefallen ist. Sie könnten jederzeit hier auftauchen, bereit und willig, ihrem außerordentlichen Missfallen Ausdruck zu verleihen. Und dann wirst du die ganze Familie zu deiner Unterstützung brauchen.« »Wir könnten sagen, dass James zum Vogelfreien geworden ist«, schlug Penny zaghaft vor. »Wer würde das glauben?«, fragte ich. »Der Graue Fuchs war immer der Beste von uns. Du solltest besser die Verteidigungsanlagen des Herrenhauses verstärken, Onkel Jack, für alle Fälle.« Endlich kam ich zum wesentlichen Punkt des Treffens und berichtete ihnen vom Hinterhalt des MI5 vor meiner alten Wohnung. Der Waffenmeister und der Seneschall bestanden darauf, dass ich ihnen alles erzählte, jede Einzelheit, an die ich mich erinnern konnte. Molly mischte sich hier und da ein, manchmal hilfreich und manchmal nicht. Der Waffenmeister und der Seneschall reagierten beide ausgesprochen heftig, als ich ihnen mitteilte, wer hinter dem Angriff steckte. »Der Premierminister?«, fragte der Seneschall ungläubig. »Was glaubt er, wer er ist, dass er sich mit den Droods anlegt? Der Mann hält sich wohl für etwas Besseres! Wir dürfen ihn nicht ungestraft davonkommen lassen, Edwin; die Leute könnten denken, dass wir weich werden.« »Ich habe ihm bereits eine sehr eindeutige Botschaft übermitteln lassen«, entgegnete ich. »Ein paar MI5-Agenten umzubringen wird ihn nicht stören«, sagte der Waffenmeister. »Soweit es ihn angeht, sind sie alle entbehrlich. Wir müssen ihn dort treffen, wo es wehtut!« »Genau«, pflichtete der Seneschall ihm bei. »Wir können nicht zulassen, dass der Premierminister frech wird. Wir müssen ihm ordentlich eine verpassen, Edwin. Ein Exempel an ihm statuieren.« Ich schüttelte bedächtig den Kopf. »Wir können es uns nicht leisten, die Karten jetzt schon aufzudecken, denn dabei würden wir riskieren zu verraten, wie schwach wir in Wahrheit sind. Und außer dem Minister scheint auch niemand anderen in einer Machtposition der Hafer zu stechen. Penny hat mich runter in den Lageraum mitgenommen; es war alles ganz ruhig.« »Die Ruhe vor dem Sturm«, sagte Penny. »Unsere Forscher beobachten die Medien der ganzen Welt, offizielle und inoffizielle, um ein Gefühl für die Stimmung jeder Regierung zu bekommen. Und sämtliche unserer Telepathen, Wahrsager und Hellseher arbeiten ganztags.« Ich musste lächeln. Politiker glauben nur, sie könnten vor den Droods Geheimnisse bewahren. »Bisher verhalten sich alle sehr vorsichtig, weil sie das Boot nicht zum Schaukeln bringen wollen, bis sie wissen, ob Haie im Wasser sind oder nicht«, erklärte der Waffenmeister. »Ich denke nicht, dass sie es sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt erlauben können, ihren eigenen Berichten darüber, wie schwach und desorganisiert wir sind, Glauben zu schenken. Aber das kann nicht lange andauern. Sie wissen, dass all unsere Frontagenten untergetaucht sind, und die meisten wissen auch vom Verschwinden der goldenen Torques oder vermuten es zumindest. Also wird früher oder später jemand etwas unternehmen, nur um zu sehen, was passiert. Um zu sehen, wie viel sie sich leisten können. Es könnte sogar zu einem direkten Angriff auf das Herrenhaus selbst kommen. Wisst ihr noch, wie die Chinesen versucht haben, uns mit Kernwaffen auszuradieren, damals in den Sechzigern?« »Wir müssen etwas wegen des Premierministers unternehmen«, sagte der Seneschall bestimmt. »Etwas ausreichend Unangenehmes, um allen übrigen Führern der Welt eine klare Botschaft zukommen zu lassen.« »Also schön«, stimmte ich widerstrebend zu. »Tischt mir ein paar Optionen auf, und ich werde mir sie ansehen.« »Ich dachte, einer der Gründe, weshalb du die Leitung der Droods übernommen hast, sei gewesen, die Welt von ihrer Kontrolle zu befreien«, meldete Molly sich zu Wort. »Ich erinnere mich genau daran, wie du etwas darüber sagtest, Politiker ihre eigenen Entscheidungen treffen zu lassen.« »Das habe ich tatsächlich«, gab ich zu. »Nur stellt sich heraus, dass die Dinge nicht so einfach liegen.« »Ist das nicht immer die erste Antwort eines jeden Diktators?« »Hör zu, an erster Stelle Überleben, an zweiter Politik, in Ordnung?«, sagte ich. »Ich wollte nur, dass du dir darüber im Klaren bist, in was du dich da reinmanövrierst«, antwortete Molly liebenswürdig. »Apropos Überleben«, warf Penny ein. »Wir müssen dafür sorgen, so viele Familienmitglieder wie möglich so schnell wie möglich in die neuen Silberrüstungen zu bekommen. So, wie die Dinge liegen, sind wir im Fall eines plötzlichen Angriffs einfach zu verwundbar.« Ich nickte widerstrebend. »Also schön, ihr setzt euch zusammen und arbeitet eine Liste aus, die ich mir ansehen werde. Unterteilt sie in die Namen derjenigen, die ihre Torques sofort bekommen sollten, derjenigen, die sie zwar bekommen sollten, aber erst, nachdem sie bewiesen haben, dass sie ihrer würdig sind, und derjenigen, denen nie wieder ein Torques anvertraut werden sollte.« »Wie zum Beispiel?«, wollte Penny wissen und blickte mich mit ihren kühlen Augen mit unverhohlener Herausforderung an. »Jeder, der das Geheimnis der goldenen Torques kannte und es einfach hingenommen hat«, erklärte ich unnachgiebig. »Jeder reuelose Null-Toleranzler und jeder, bei dem es mehr als wahrscheinlich ist, dass er einen Torques benutzen würde, um einen Bruderkrieg innerhalb der Familie zu beginnen. Geht nach eurem eigenen besten Ermessen vor. Wir sprechen hier nur von einem kleinen Prozentsatz von Drecksäcken, hoffe ich. Seltsam, stellt es ein Problem für dich dar, so schnell so viel fremdartige Materie für die Torques und die Rüstungen zu produzieren?« »Bitte, nenn mich Ethel!« »Nicht, wenn man mir eine Waffe an den Kopf hielte!« »Du kannst so viele silberne Torques haben, wie du willst, Eddie«, sagte Seltsam ungezwungen. »Es dreht sich nur darum, mehr von mir aus meiner Heimatdimension hierher durchzubringen. Ich bin großartig und grenzenlos, weise und wunderbar. Aber weißt du, ihr braucht nicht wirklich neue Torques. Ich könnte euch allen beibringen, übermenschlich zu sein. In euch Menschen steckt so viel Potenzial! Ihr könntet größer sein, als jeder Torques euch jemals machen könnte. Ihr könntet alle wie Sterne strahlen!« Ich blickte den Inneren Zirkel an, und der Innere Zirkel blickte mich an. »Wie lange würde das dauern?«, fragte ich. »Jahre«, antwortete Seltsam. »Generationen vielleicht. Diese ganze Sache mit der aufeinanderfolgenden Zeit ist ein neues Konzept für mich.« »Ich denke, wir werden fürs Erste bei dem bleiben, was wir kennen«, meinte ich. »Die Familie muss so schnell wie möglich stark sein. Aber denke auf alle Fälle über die Alternative nach, Seltsam, und lass mich wissen, wenn du etwas Konkreteres für mich hast.« »Oh, klasse!«, sagte Seltsam. »Das wird ein Heidenspaß!« »Noch irgendwelche andere Angelegenheiten?«, erkundigte ich mich schnell. »Nur eine«, meldete sich der Waffenmeister. Er zog einen kleinen Gegenstand unter seinem Laborkittel hervor, der in einen schweren weißen, mit Gold durchwirkten Seidenstoff eingeschlagen war und reichte ihn mir. Ich nahm ihn entgegen und wickelte ihn mit äußerster Sorgfalt und Vorsicht aus. Gaben vom Waffenmeister haben eine Tendenz, ausgesprochen gefährlich zu sein, wenn nicht sogar regelrecht explosiv. Doch der Gegenstand entpuppte sich als schlichter Handspiegel mit Silbergriff und -rahmen. Ich wog ihn für alle Fälle ein paar Mal vorsichtig in der Hand, aber nichts geschah. Und das Gesicht im Spiegel war ganz entschieden meins. Ich blickte den Waffenmeister fragend an. »Jacob und ich stöbern häufig in der alten Bibliothek«, berichtete der Waffenmeister. »Wenn ich ihn von seinen anderen, äh, Beschäftigungen losreißen kann. Und wir haben einige ganz bemerkenswerte Stücke ausgegraben. Eine Anzahl von Büchern, die schon seit Langem als verloren oder zerstört galten, eine Reihe alter Karten von zweifelhafter Herkunft, aber mit aufregenden Möglichkeiten. Und eine Handvoll verlorener und ganz legendärer Schätze. Das hier ist Merlins Spiegel. Er verschwand im späten achtzehnten Jahrhundert unter ziemlich schleierhaften Umständen aus dem Armageddon-Kodex. Jacob hat ihn in einem ausgehöhlten Buch über Wühlmäuse entdeckt.« »Weiß nicht mal, was mich dazu gebracht hat, da nachzuschauen«, sagte Jacob vergnügt. »Ich war nur auf der Suche nach irgendwas mit schmutzigen Bildern.« »Augenblick mal!«, sagte Molly. »Merlins Spiegel - sprechen wir etwa von dem Merlin?« »O ja!«, bestätigte Jacob. »Er war ein Drood?«, staunte Molly. »Wohl kaum«, entgegnete der Waffenmeister. »Wir haben schon unsere Mindestanforderungen. Nein, er war Merlin Satansbrut, des Teufels eingeborener Sohn. Geboren, um der Antichrist zu sein, aber er lehnte die Ehre ab. Er musste ja immer seinen eigenen Weg gehen. Gemäß einiger, recht faszinierender Aufzeichnungen in der alten Bibliothek hat er allerdings tatsächlich gelegentlich mit der Familie zusammengearbeitet. Wenn es ihm in den Kram passte. Und offenbar schuldete er uns einen Gefallen und zeigte sich erkenntlich, indem er uns diesen Spiegel schenkte.« Molly streckte die Hand danach aus und ich gab ihn ihr. Sie murmelte ein paar Worte über dem Spiegel, vollführte ein paar schnelle Gebärden, hielt ihn sogar mit dem Kopf nach unten und schüttelte ihn, in der Hoffnung, es könnte etwas herausfallen, doch nichts passierte. Molly rümpfte die Nase und gab mir den Spiegel zurück. »Na schön«, meinte sie, »ich passe. Wofür soll er gut sein?« »Man kann ihn benutzen, um Kontakt zu anderen Mitgliedern der Drood-Familie herzustellen, in der Vergangenheit oder in der Zukunft, und sie um Rat oder Informationen zu bitten.« Es entstand eine Pause, und dann sagte Molly: »Nichts für ungut, Leute, aber ich denke, bei dem Geschäft hat man euch beschissen. Ich meine, es ist nicht der nutzloseste magische Gegenstand, den ich jemals gesehen habe, aber es kommt ihm verdammt nahe.« »Du bist eine Hexe«, sagte der Waffenmeister freundlich, »und deshalb daran gewöhnt, hauptsächlich in Kategorien des Hier und Jetzt zu denken. Der Spiegel hat viele Verwendungszwecke. Hochwichtige Informationen, die in dieser Zeit verloren sind, können in der Vergangenheit, als sie noch nicht verloren waren, gefunden werden. Oder in der Zukunft, nachdem sie wiederentdeckt worden sind. Die bedeutendsten Familienstrategen - der Vergangenheit und der Zukunft - stehen uns jetzt als Ratgeber zur Verfügung. Wir können uns sogar spezifischen Rat aus der Zukunft einholen, welche Angelegenheiten wir verfolgen und von welchen wir besser unbedingt die Finger lassen sollten.« »Wenn dieser Spiegel so nützlich ist«, wunderte ich mich, »wie kommt es dann, dass er so lange verschollen war?« »Ach«, sagte der Waffenmeister widerstrebend, »darüber existieren viele Geschichten. Die, der ich am ehesten Glauben schenken würde, weil ich sie am wenigsten mag, besagt, dass jemand dem Spiegel eine ganz bestimmte Frage gestellt und von ihm eine ganz bestimmte Antwort bekommen hat, die ihn völlig durcheinanderbrachte. Deshalb nahm er den Spiegel und versteckte ihn, um zu verhindern, dass irgendjemand anders die Frage ebenfalls stellte oder die Antwort erfuhr.« »Ich kann nicht verstehen, wie diese Familie etwas so Nützliches so leichtfertig aufgeben konnte«, meinte Molly. »Ich schon«, sagte ich. »Die Droods sind schon immer sehr vorsichtig gewesen bei allem, was mit Zeitreisen zu tun hat - seit dem Großen Zeitdesaster von 1217, als die Familie sich um ein Haar selbst ausgelöscht hätte, nachdem sie aus Versehen ein Möbiusband-Zeitparadoxon erzeugt hatte. Es gibt immer noch einige Zimmer im Herrenhaus, die wir nicht finden können, wegen dem, was wir machen mussten, um aus der Zeitschleife auszubrechen. Und was möglicherweise immer noch mit den armen Schweinen passiert, die wir in diesen Zimmern zurücklassen mussten, daran wollen wir gar nicht erst denken. Der menschliche Verstand hat schlichtweg nicht das nötige Rüstzeug, um sich mit allen denkbaren Komplikationen und ausgesprochen tückischen indirekten Folgen des Herumpfuschens an der Zeit zu beschäftigen.« Und dann hielt ich jäh inne, denn mir kam eine Idee mit solcher Heftigkeit, dass es mir den Atem raubte, während eine knochige Hand sich um mein Herz krallte. Ich blickte in Merlins Spiegel, und mein Gesicht starrte mich zurück an, so kalt und hart und entschlossen, dass ich es kaum wiedererkannte. »Kann ich mit jedem in der Vergangenheit Kontakt aufnehmen?«, fragte ich, und selbst ich konnte erkennen, dass die Stimme sich nicht wie meine anhörte. Sie klang rücksichtslos, sogar gefährlich. Alle schauten mich angespannt an. Ich glaube, Molly begriff zuerst, vielleicht weil ihr Verstand bereits begonnen hatte, sich auf ähnlichen Bahnen zu bewegen. Ich blickte den Waffenmeister an, und jeder andere wäre vermutlich zusammengezuckt beim Anblick dessen, was er in meinen Augen sah. »Ich weiß, dass es gefährlich ist, und es ist mir egal«, kam ich seinen Einwänden zuvor. »Sag mir, Onkel Jack, kann ich mithilfe dieses Spiegels mit meinen Eltern in der Vergangenheit reden, bevor sie ermordet wurden?« »Es tut mir leid«, antwortete der Waffenmeister mit rauer Stimme, aber nicht unfreundlich. »Daran habe ich auch schon gedacht. Es gibt immer jemanden in der Vergangenheit, mit dem wir gerne sprechen würden: Freunde und Verwandte und geliebte Menschen, die zu früh von uns gegangen sind, bevor wir ihnen all die Dinge sagen konnten, die wir ihnen eigentlich immer sagen wollten. Die Dinge, die wir aufschoben, weil wir immer dachten, es sei noch Zeit dafür. Bis plötzlich keine mehr war. Aber der Spiegel lässt es nicht zu, dass jemand Fragen zu seinem persönlichen Nutzen stellt. Nur zum Wohle der Familie. Und der Spiegel erkennt den Unterschied immer. Ein eingebauter Sicherheitsfaktor vielleicht, um dem Missbrauch der Zeit vorzubeugen.« »Vielleicht hatte der Zauberer Merlin Satansbrut aber auch nur eine fiese Ader«, sagte Molly. »Oder das«, räumte der Waffenmeister ein. »Ich muss wissen, was meinem Vater und meiner Mutter wirklich zugestoßen ist«, sagte ich. »Ich werde die Wahrheit herausfinden, egal, was ich dafür tun muss!« »Ich habe Jahre vergeblich mit Versuchen zugebracht, es herauszufinden«, sagte der Waffenmeister. »Genau wie James. Sie war unsere Schwester, die arme, liebe Emily, und wir liebten sie innig. Wir waren sogar mit deinem Vater einverstanden, sonst hätten wir nie zugelassen, dass er sie heiratet. Aber die Wahrheit ist, dass niemand etwas zu wissen scheint. Wahrscheinlich war es nur ein dummer Fehler. Mangelhafte Informationen, ungenügende Einsatzbesprechung, zu viel, was gleichzeitig schiefgelaufen ist. So was kommt vor, auch bei den bestgeplanten Missionen.« »Es gibt immer noch den Zeitzug!«, sagte Penny plötzlich. »Nein, gibt es nicht!«, widersprach der Waffenmeister schnell. »Was zum Teufel ist ein Zeitzug?«, wollte Molly wissen. »Und warum beschleicht mich das Gefühl, dass mir die Antwort nicht wirklich gefallen wird?« »Das müssen deine Hexensinne sein, die Überstunden machen«, sagte ich. »Verdammt, an den Zeitzug habe ich schon seit Jahren nicht mehr gedacht. Er ist ein Mittel, um durch die Zeit zu reisen, wenn auch vielleicht etwas seltsamer als die meisten. Seit Ewigkeiten hat ihn niemand mehr benutzt. Ich nehme an, er ist noch funktionsfähig. Oder, Waffenmeister?« »Nun, technisch ja«, gab er zu. »Aber manche Dinge sind einfach zu gefährlich, um daran herumzupfuschen.« Ich musste eine Augenbraue hochziehen. »Das von dem Mann, der von unseren besten Telepathen verlangte zu versuchen, sämtliche Atomsprengköpfe in China zur Explosion zu bringen, nur indem die Telepathen ›richtig fiese Gedanken zu ihnen denken‹?« »Das hätte auch funktioniert, wenn die Matriarchin mich nicht aufgehalten hätte!«, wehrte sich der Waffenmeister schmollend. »Meine besten Ideen sind ihrer Zeit immer voraus!« »Ich wechsle jetzt das Thema!«, erklärte ich bestimmt. »Eines muss uns allen klar sein: Die Familie muss etwas unternehmen, etwas Großes und Bedeutendes und Dramatisches, um der ganzen Welt zu beweisen, dass die Droods immer noch stark und gemein und eine Kraft sind, mit der man rechnen muss. Wir müssen uns ein Ziel aussuchen, einen wirklich wichtigen und unangenehmen Feind, und ihm dann einen richtig gewaltigen Präventivschlag versetzen. Ihn auslöschen, ein für alle Mal!« »Jetzt redest du wie ein Mann, Junge!«, zollte der Seneschall meinen Worten Beifall. »Hört sich gut an für mich«, meinte auch der Waffenmeister. »Unter der Matriarchin war die Familie jahrelang schrecklich reaktionär.« »An wen hast du gedacht?«, erkundigte sich Molly. »Das Manifeste Schicksal?« »Nein«, erwiderte ich. »Sie sind noch schwach; sie auszuradieren würde niemanden beeindrucken. Wir brauchen etwas … Größeres.« »Es gibt zwei Hauptbedrohungen für die Menschheit«, sagte der Waffenmeister, wobei er in seinen langweiligen Dozentenmodus abglitt. »Ganz gleich, ob sie wissenschaftlich oder magisch in ihrem Ursprung sind, mythisch oder politisch oder biblisch - alle Feinde der Menschheit können in zwei verschiedene Arten unterteilt werden. Diejenigen, die uns Schaden zufügen, weil sie sich erhoffen, daraus einen irgendwie gearteten Nutzen zu ziehen; diese nennen wir Dämonen. Und diejenigen, die zu groß sind, um sich um uns zu kümmern, die uns aber möglicherweise Schaden zufügen, einfach weil wir im Weg sind; diese nennen wir in Ermangelung eines besseren Wortes Götter. Die Familie ist dazu ausgebildet und ausgerüstet, sich mit Dämonen zu befassen. Mit den Göttern geht man am besten feinfühlig um, aus sicherer Entfernung, und über so viele Vermittler wie möglich.« »Ich habe bereits einen Gott getötet«, sagte ich. »Und das Herz schrie genau wie ein Mensch, als es starb.« »Ich habe dir geholfen«, warf Seltsam ein. »Ohne mich hättest du das nicht tun können.« »Kann sein«, erwiderte ich. »Aber andererseits musstest du das ja jetzt auch sagen, oder?« »Können wir bitte die Anwandlungen von Größenwahn beiseite lassen, nur für den Moment, und uns darauf konzentrieren, eine Strategie zu entwerfen?«, mischte Penny sich ein. »Keine Götter anzugreifen klingt für mich nach einer richtig guten Strategie«, meinte Molly. »Ich stimme für Dämonen!« »Dämonen hört sich gut an für mich«, sagte auch der Waffenmeister. »Es gibt nie Mangel an Dämonen, die die Menschheit verarschen wollen.« »Na schön«, fasste ich zusammen, »dann also Dämonen. Möchte jemand ein paar Namen ins Gespräch bringen, einfach um die Sache in Bewegung zu setzen?« »Die Umgehenden Leichentücher?«, schlug der Seneschall vor. »Die sind letztes Jahr so ziemlich ausgerottet worden«, wandte Penny ein. »Haben einen Revierkrieg mit dem Kalten Eidolon geführt, in den Seitengassen von Neapel. Beide Seiten erholen sich noch davon; es könnte ewig dauern, bis eine wieder eine anständige Bedrohung auf die Beine stellen kann.« »Die Abscheulichen?«, bot ich an. »Ich hasse Seelenfresser!« Penny runzelte die Stirn. »Es sind unlängst nachrichtendienstliche Informationen hereingekommen, dass sie sich in großer Zahl zusammenrotten, unten in Südamerika. Niemand scheint zu wissen warum, aber das ist nie ein gutes Zeichen.« »Ich würde echt gern etwas gegen die Alraunenwiedervereinigung unternehmen«, sagte Molly. »Allein schon, weil sie mir eine Mordsgänsehaut verursachen.« »Nicht wirklich ein stichhaltiger Grund, gegen jemand in den Krieg zu ziehen, oder?«, wandte der Waffenmeister ein. »Der Kultus des Purpurnen Altars?«, schlug Jacob vor. »Satanisten der alten Schule, Ableger des ursprünglichen Höllenfeuer-Klubs. Hab sie noch nie gemocht. Sie haben mir die Mitgliedschaft verweigert, als ich noch am Leben war, die boykottverliebten Dreckskerle.« »Sie machen gegenwärtig ein größeres Schisma durch«, berichtete Penny aufgeräumt. »Wegen irgendeines kleinen Dogmas, das so kompliziert und so trivial ist, dass niemand außerhalb des Kultus daraus schlau werden kann. Die Mitglieder des Kultus schlachten sich seit sechs Wochen gegenseitig ab, und bei dem Eifer, den sie dabei an den Tag legen, bezweifle ich, dass am Ende noch genug übrig sein werden, um eine Selbsthilfegruppe aufzumachen.« »Das Traum-Mem?«, fragte der Seneschall hoffnungsvoll. »Nein!«, lehnte der Waffenmeister ab. »Wir wissen immer noch nicht mit Gewissheit, wer oder was sie sind oder auch nur, was sie wollen. Und ja, Cyril, ich habe alle aktuellen Verschwörungstheorien gehört, und keine einzige davon überzeugt mich. Sie sind nur eine übernatürliche Neuzeitlegende, genau wie die Kulissenschieber.« »Die Vril-Gesellschaft?«, machte Molly weiter. »Unser aller Lieblingsalbtraum aus dem Zweiten Weltkrieg?« »Sind nach der Wiedervereinigung Deutschlands in die Politik gegangen«, berichtete Penny. »Von dieser Seite gibt es keine Überraschungen mehr.« »Genug Namen!«, sagte ich. »Wir müssen der Welt eine Botschaft übermitteln. Eine aussagekräftige Botschaft. Deshalb sage ich, wir nehmen die Abscheulichen. Niemand mag Seelenfresser, also wird sich niemand mit ihnen verbünden, nicht einmal gegen uns. Ich sage, wir spüren diese neue Zusammenrottung in Südamerika auf, schicken eine gepanzerte Truppe hin und rotten sie entweder endgültig aus oder schicken sie wenigstens in die Hölle oder dorthin zurück, wo auch immer sie hergekommen sind. Das ist nur recht und billig, wenn man bedenkt, dass diese Familie die Verantwortung dafür trägt, dass sie überhaupt erst auf diese Welt gebracht wurden.« Der Waffenmeister und der Seneschall blickten finster drein; für sie war das keine Neuigkeit. Für Penny und Jacob schon; sie wirkten schockiert. Die meisten in der Familie wussten nichts davon - nur ein weiteres jener schmutzigen, kleinen Geheimnisse, die die alte Garde gern für sich behalten hatte. »Ich denke, ich werde meine alte Freundin Janitscharen Jane kontaktieren«, fuhr ich fort. »Sie weiß über den Kampf gegen Dämonen alles, was es zu wissen gibt. Wenn sie nüchtern ist. Penny, da all unsere Frontagenten auf dem Weg nach Hause sind, möchte ich, dass du auch an alle vogelfreien Droods die Aufforderung ergehen lässt, heimzukommen. Alle Sünden sind vergeben, wenn auch nicht vergessen. Sie haben auf die harte Tour gelernt, wie man ohne Unterstützung der Familie in der Welt überlebt, und besitzen Fertigkeiten, von deren Einsatz wir profitieren können.« »Alle Vogelfreien?«, vergewisserte sich Penny. »Na ja, die richtigen Arschlöcher, wie beispielsweise den verstorbenen und so gar nicht betrauerten Blutigen Mann Arnold Drood, wohl besser nicht«, präzisierte ich. »Aber von den richtig schwarzen Schafen sind sowieso nicht mehr viele übrig, oder?« »Nur noch ein paar, Gott sei Dank!«, bestätigte der Waffenmeister. »Wir haben sie im Lauf der Jahre ausgesondert. Tiger Tim hält sich immer noch irgendwo im Regenwald des Amazonas verborgen, weil er weiß, dass jedes nur halbwegs zivilisierte Wesen ihn in dem Moment umbringen wird, in dem er sein Gesicht zeigt. Und der Alten Mutter Shipton gehen endgültig die Identitäten aus, hinter denen sie sich verstecken kann. Wir sind uns ziemlich sicher, dass sie gegenwärtig einen Säuglingsklondienst in Wien leitet. Unser Agent vor Ort hatte sich schon dicht an sie herangearbeitet. Vor den augenblicklichen Schwierigkeiten.« »Und das sind die einzigen Monster, die noch übrig sind?«, fragte ich. »Die Einzigen, von denen wir wissen«, sagte Penny. »Aber ehrlich, Eddie, die Vogelfreien heimrufen? Den Abschaum, den wir rausgeworfen haben, weil sie Gauner oder Feiglinge oder Umstürzler waren? Das wird der Familie nicht gefallen!« »Es gefallen uns oft die Dinge nicht, die gut für uns sind«, entgegnete ich gelassen. »Wie bei so vielen Dingen den alten Rat betreffend, gilt auch hier: Auch die Vogelfreien waren nicht unbedingt das, was man uns über sie erzählt hat. Manche waren bloß Unruhestifter, die darauf bestanden, die Wahrheit zu sagen. Die Familie braucht neue Ratschläge, neue Tricks, neue Blickwinkel - die Vogelfreien können uns damit in Hülle und Fülle versorgen. Ich werde auch ein paar Freunde von außerhalb hinzuziehen, um uns als Gasttutoren auszuhelfen. Janitscharen Jane natürlich. Und ich dachte … vielleicht der Blaue Elf.« »Den?«, mokierte sich Penny. »Das ist ein Säufer, ein Dieb und ein Wüstling! Er hat keine Prinzipien, keine Skrupel - und er ist ein Halbelb! Man kann ihm nicht trauen!« »Er wird perfekt zu uns passen«, sagte ich. »Außerdem habe ich gehört, dass er seit seiner Nahtoderfahrung eine ganz neue Person ist.« »Wenn du deine alten Freunde hinzuziehst, dann will ich auch ein paar von meinen!«, erklärte Molly. »Und sei es nur, damit ich mich nicht so in der Minderheit fühle.« »In Ordnung«, stimmte ich zu. »Wen hast du im Sinn?« »U-Bahn Ute und Mr. Stich«, antwortete Molly lieblich lächelnd. »Bist du irre?«, rief ich. »Eine Vampirin, die den Menschen das Glück heraussaugt, und der ungefasste unsterbliche Serienmörder des alten London? Nur über meine Leiche!« Vermutlich hätte es jetzt hitzige Worte und erhobene Stimmen gegeben, wären nicht in diesem Moment sämtliche Alarme auf einmal losgegangen. Das Herrenhaus wurde angegriffen. Kapitel Drei Gut und Böse - alles miteinander verwandt Wenn in den alten Tagen Generalalarm gegeben wurde, rannte die ganze Familie, um das Herrenhaus zu schützen. Aber damals waren wir auch Krieger. Jetzt rannten alle in die vorgesehenen Schutzräume, um sich zu verstecken, bis es vorbei war. Alles meine Schuld, klar, weil ich ihnen ihre goldenen Torques weggenommen hatte. Die Droods waren es nicht gewohnt, sich menschlich und verwundbar zu fühlen. Deshalb waren das Sanktum und die daran angrenzenden Zimmer so etwas wie der neue Panikraum für die Droods geworden, obwohl natürlich im Traum niemandem eingefallen wäre, so einen Ausdruck zu benutzen. Aber als ich, gefolgt vom Rest des Inneren Zirkels, das Sanktum verließ, kamen so viele Familienmitglieder, denen Angst und Verzweiflung deutlich in den Gesichtern geschrieben stand, durch den Korridor auf mich zu gerannt, dass ich beunruhigt feststellen musste, wie leicht der Geist meiner Familie gebrochen werden konnte. Dagegen würde ich etwas unternehmen müssen, und zwar schnell. Seltsam bewachte das Sanktum und die anderen Zimmer; seine andersdimensionalen Schilde schützten die Familie vor jeglichen Angriffen von außerhalb. Die Familie wäre dort sicher, während ich untersuchte, wer oder was es wagte, uns anzugreifen. Seltsam war auch für den Betrieb all unserer auf Wissenschaft und Zauberei beruhenden Verteidigungsanlagen verantwortlich, und es bestürzte mich, wie schnell wir von diesem neuen Ersatz für das zerstörte Herz abhängig geworden waren. Ich hatte uns nicht von einem andersdimensionalen Herrn befreit, nur um uns an einen anderen auszuliefern - egal wie wohlwollend er schien. Noch etwas, worüber ich mir Sorgen machen musste … Seltsam hatte gesagt, er könne noch mehr für uns tun, aber das hätte bedeutet, noch mehr von seiner Substanz in diese Dimension zu bringen, und sogar er musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wie genau sich so viel fremde Materie auf die physikalischen Gesetze unserer Realität auswirken würde. Fremde Materie folgte nicht den hiesigen Naturgesetzen, und unserer Welt gefiel es nicht, sie hierzuhaben. Außerdem war Seltsam, so wie er war, mächtig genug. Vertrauen ist schon immer eine schwierige Angelegenheit für mich gewesen, selbst bevor ich herausgefunden hatte, was das Herz tatsächlich war. Deshalb hatte ich, im Namen der Familie, Seltsams Angebot höflich abgelehnt. Weshalb es jetzt an mir lag, die ganze verdammte Familie vor dem Angriff zu beschützen. Die Droods strömten durch die Flure auf das Sanktum zu, die Gesichter blass und angespannt. Die Alarmglocken waren unerträglich laut, doch selbst bei diesem Krach verschaffte der Seneschall sich Gehör und brachte mit flammenden Worten und Drohungen eine gewisse Ordnung in die Menge, sodass sie in einer Reihe, aber nichtsdestoweniger schnell ins Sanktum marschierten. Er brauchte nicht viel von seiner charakteristischen Brutalität einzusetzen; die meisten Familienmitglieder waren froh, eine gebieterische Stimme zu hören, die ihnen sagte, was sie machen sollten. Aber andererseits war das schon immer ihr Problem gewesen. Der Seneschall blickte die nervösen Gesichter, die an ihm vorbeiströmten, finster an und schien tatsächlich beschämt, die Familie in einem solchen Zustand zu sehen. Mich blickte er nicht an, aber das brauchte er auch nicht - ich wusste schon, wem er die Schuld daran gab. »Ich gehe in den Lageraum!«, sagte Penny schreiend zu mir, um über dem allgemeinen Lärm gehört zu werden. »Jemand muss das Gesamtbild im Auge behalten! Durchaus denkbar, dass dieser Angriff dazu vorgesehen ist, um uns von etwas richtig Großem abzulenken, das woanders stattfindet.« »In Ordnung!«, antwortete ich. »Geh! Melde dich wieder, wenn du eine Gelegenheit bekommst!« Aber sie war schon losgelaufen und bahnte sich ihren Weg durch die Flut der herannahenden Droods durch bloßes sicheres Auftreten. Mit ihr hatte ich eine gute Wahl getroffen. Ich sah mich nach Jacob um, doch der war verschwunden. Ich wandte mich an den Seneschall. »Du bleibst hier und hältst die Lage unter Kontrolle! Molly, Onkel Jack, wir müssen in den Einsatzraum und herausfinden, mit wem oder was wir es zu tun haben, bevor wir rausgehen und dem Feind gegenübertreten. Seneschall, falls die Angreifer an uns vorbei und hier reinkommen sollten … improvisierst du.« Ich machte mich auf den Weg und pflügte mit gleichmäßigem Tempo durch die immer voller werdenden Flure, Molly und der Waffenmeister folgten mir auf dem Fuß. Ein zunehmendes Gefühl der Panik lag in der Luft. Mein erster Instinkt war, hochzurüsten, aber das durfte ich nicht: Es hätte nur alle anderen Droods in Wut versetzt, die ihre Rüstung meinetwegen nicht mehr hatten. Ich hatte Lust zu rufen: Hört zu, zu der Zeit schien es eine gute Idee zu sein, okay? »Was glaubst du, wer dahintersteckt?«, fragte Molly und zwängte sich dicht neben mich. »Vielleicht das Manifeste Schicksal? Könnte Truman am Ende die Kurve doch wieder gekriegt haben?« »Unwahrscheinlich«, erwiderte ich. »Davon hätten wir gehört.« »Könnte der Premierminister sein«, meinte der Waffenmeister, »der sein Missfallen darüber zum Ausdruck bringt, dass seine besten Agenten in Särgen zu ihm zurückgeschickt worden sind.« »Wenn sie imstande gewesen wären, mich zu fangen, dann wäre vielleicht das Herrenhaus als Nächstes dran gewesen«, sagte ich. »Aber nach dem, was ich mit seinen fittesten Jungs angestellt habe, verkriecht er sich vermutlich immer noch wimmernd unter seinem Schreibtisch. Nein, das hier könnte jede der Gruppen sein, über die wir vorhin gesprochen haben, weil sie ihre Präventivschläge unbedingt zuerst landen wollen. Hört zu, spart euch den Atem fürs Laufen, Leute! Wir müssen wissen, worauf wir uns einlassen, bevor wir unsere Gesichter draußen zeigen!« Der Einsatzraum befand sich weit drüben im Südflügel, und der Weg dorthin führte uns durch zunehmend leere Gänge und Korridore, die trotz des heulenden Alarms schon bald wie ausgestorben dalagen. Außer Atem erreichten wir schließlich unser Ziel. Der Einsatzraum ist eine Hightechzentrale, die dazu bestimmt ist, sämtliche Verteidigungsanlagen des Herrenhauses zu überwachen, von Sensoren über Schilde bis hin zu unseren verschiedenen Waffensystemen. Es dauerte ein paar Minuten, bis wir drei die strengen Sicherheitsprotokolle durchlaufen hatten, dann eilten Molly, der Waffenmeister und ich in den Raum, und hinter uns schloss sich zischend die große Stahltür und sperrte das Getöse der Alarme aus. Die plötzliche Stille, die nur durch die ruhigen und professionellen Stimmen der Anwesenden unterbrochen wurde, war eine regelrechte Wohltat, und ich atmete lang und tief durch, um mich zu beruhigen. Ich war vorher noch nie hier gewesen; der Einsatzraum hatte sich noch in Konstruktion befunden, als ich von zu Hause fortgegangen war. Im Gegensatz zum Lageraum ist der Einsatzraum eine viel bescheidenere Angelegenheit: nur ein Raum überschaubarer Größe, der mit Computern und anderem verwirrenden Hightechkram vollgestopft ist, bedient von etwa einem Dutzend Technikern unter der Führung des Einsatzleiters. Hier gab es weder Eile noch Hektik noch das Gefühl der Dringlichkeit; Männer und Frauen saßen ruhig an ihren Bildschirmarbeitsplätzen und verrichteten effizient und professionell ihre Arbeit. Diese Leute hatten nicht vergessen, was es hieß, ein Drood zu sein. Sie bewahrten in einer Notsituation kühlen Kopf, weil es das war, was man ihnen eingedrillt hatte, denn die Entscheidungen, die in diesem Raum getroffen wurden, konnten Auswirkungen auf die Sicherheit der ganzen Familie haben. Holografische Anzeigen schalteten sich in der Luft schwebend ein und aus und zeigten schnell wechselnde Bilder des Herrenhauses von innen und von außen, außerdem umfassende Ansichten der Parkanlagen und aller möglichen Zugänge zum Gebäude. Ich ging rasch von Bildschirm zu Bildschirm, aber der Teufel sollte mich holen, wenn ich irgendein Zeichen für eine eindringende Streitmacht entdecken konnte. Der Himmel war leer, die Anlagen friedlich und verlassen und alle Schilde unversehrt und am richtigen Platz. Etwas musste die Alarme ausgelöst haben, aber was? Ich begab mich in die Mitte des Einsatzraums, und wie selbstverständlich schlossen Molly und der Waffenmeister sich mir zu beiden Seiten an. Ich war froh, sie bei mir zu haben, denn allmählich wurde ich ziemlich unsicher. Aufmerksam lauschte ich dem Murmeln der Stimmen der Techniker um mich herum, die leise, professionell und äußerst wirr miteinander sprachen. »Ich habe ansteigende Energiepegel. Alle Anzeigetafeln sind grün, alle Waffensysteme online.« »Kann jemand was sehen? Meine Sensoren sind jungfräulich, quer über die ganze Tafel.« »Wartet mal; ich krieg was rein! Eine eindeutig infernale Präsenz.« »Infernal? Bist du sicher?« »Hey, das ist schließlich nichts, was man leicht verwechseln kann. Da ist was aus der Hölle, genau hier im Garten hinterm Haus!« »Macht euch bereit, die Rasensprenger auf Weihwasser umzustellen! Und jemand soll all unsern Klerikern Bescheid geben!« »Code Rot. Ich wiederhole, wir haben Code Rot! Alle nicht notwendigen System werden für die Dauer des Alarms abgeschaltet.« »Warum wurden wir nicht gewarnt? Was ist mit den ganzen wunderbaren und ausgesprochen kostspieligen neuen Sensoren passiert, mit deren Installation ich die gesamte letzte Woche zugebracht habe?« »Stumm wie ein Grab, der ganze Haufen. Was auch da draußen ist, die Sensoren können es nicht sehen. Nicht mal die Greifen haben es kommen sehen.« »Wer hat meine Jaffa Cakes? Ihr wisst doch, dass ich ohne Jaffa Cakes nicht funktionstüchtig bin!« »Alle Waffensysteme online und verfügbar. Verschafft mir nur noch ein Ziel, und ich werde blutige Batzen aus ihm heraussprengen!« »Da drüben!«, sagte der Waffenmeister mir leise ins Ohr. »Siehst du den großen, angespannten Typen in dem Anzug mit dem festgeknöpften Kragen? Das ist Howard, der neue Einsatzleiter. Ich hatte ihn früher unten in der Waffenkammer bei mir, aber er hatte nicht die nötige Geduld. Allerdings war er ein gutes Stück gescheiter als der durchschnittliche Drood, deshalb haben wir ihn hierher gesteckt, und binnen eines Jahres hat er die Leitung des Ladens übernommen. Ah, schau; er hat endlich geruht, uns zu bemerken und kommt rüber. Das verspricht spaßig zu werden!« »War hier früher nicht die alte Wäscherei?«, fragte ich. »Diese Arbeit haben wir außer Haus gegeben, um Platz für die neue, hochmoderne Einsatzzentrale zu schaffen«, klärte der Waffenmeister mich auf. »In der alten mussten ständig Geräte ersetzt werden, außerdem wurde sie sowieso nur noch von Spucke und Siegellack zusammengehalten. Wir haben die letzten zehn Jahre damit zugebracht, die ausgeklügeltsten Waffensysteme zu installieren, die diese Familie je gesehen hat. Zusammen mit den Computern, um sie zu bedienen, könnten wir eine ganze Armee von hier aus abwehren.« »Wenn wir sie sehen könnten«, murmelte ich. Der Waffenmeister blickte finster. »Ich verstehe es nicht! Die Anlagen sind vollgestopft mit allen möglichen Überwachungssystemen. Ein Maulwurf könnte keinen Furz lassen, ohne dass wir alles darüber erfahren. Ah, Howard! Schön dich zu sehen!« »Schön?«, blaffte er und machte jählings vor uns Halt. »Was zum Teufel soll denn daran schön sein? Für das hier mache ich dich verantwortlich, Edwin!« »Irgendwie hatte ich mir so was schon gedacht«, entgegnete ich. »Hallo, Howard.« Er schnaubte verächtlich. Er war groß und ungeschlacht mit rotem Gesicht und vorzeitig zurückweichendem Haaransatz. Seine Hände hingen an den Seiten herab und waren zu frustrierten Fäusten geballt. »Die Sicherheitsanlagen des Herrenhauses sind völlig durcheinander, seit ihr, du und deine Freundin, geradewegs durch alle unsere besten Verteidigungen marschiert seid«, sagte er verbittert. »Sie sind ausgesprochen sensibel und du hast sie aus der Fassung gebracht. Wir haben Wochen gebraucht, um sie wieder so weit zu beruhigen, dass sie wieder ordentlich funktionierten, und jetzt das! Sind das da draußen noch welche von deinen Freunden?« »Das bezweifle ich stark«, meinte ich. »Und Howard, beschränke dich auf ein Brüllen, wenn du mit mir redest, sei so nett! Andernfalls werde ich dich von Molly in etwas Kleines und Nasses und Matschiges verwandeln lassen, auf das ich anschließend treten werde.« »Was bin ich«, fragte Molly, »dein Kampfhund etwa?« »Du weißt, dass du das liebst.« »Grrr!«, machte Molly. Ich schaute Howard wieder an. »Lasst uns alle ganz ruhig und professionell bleiben, während wir herausfinden, was zum Teufel eigentlich hier los ist.« Wieder schnaubte Howard. »Okay. Nun gut. Wir tun unser Möglichstes mit der Ausrüstung, die uns zur Verfügung steht. Versuch du mal, ein Verteidigungssystem des einundzwanzigsten Jahrhunderts mit einem Budget aus dem neunzehnten Jahrhundert laufen zu lassen! Ich hab's der Matriarchin ins Gesicht gesagt: Man kriegt das, wofür man bezahlt.« Ich fing an, ihn ein bisschen besser leiden zu können. »Ich wette, das kam gut bei ihr an!« Zum ersten Mal lächelte er ein wenig. »Ich wurde so schnell aus dem Lageraum eskortiert, dass meine Füße den Boden nicht einmal berührten. Na schön, alle mal hergehört, lasst uns die Sensoren noch mal probieren! Gebt mehr Energie drauf und schließt alle Extras an; mal sehen, ob wir für unsere illustren Gäste ein oder zwei brauchbare Bilder herbeizaubern können! Solange du nur verstehst, dass das alles deine Schuld ist, Edwin - was auch geschieht.« »Geht mir immer so«, antwortete ich. Der Einsatzleiter bewegte sich schnell zwischen seinen Leuten hin und her, sprach hier eine Ermunterung aus, ging dort jemandem um den Bart und holte mit ruhiger Effizienz das Beste aus jedem heraus. Plötzlich kam Leben in die Verteidigungssysteme des Herrenhauses und sie suchten nach einem Ziel: Es stand genug Feuerkraft zur Verfügung, um ein Loch durch den Mond zu sprengen oder ihn aus dem Orbit zu schießen. Ich beobachtete fasziniert, wie die holografischen Anzeigen Hunderte von Gewehren zeigten, die sich aus den weitläufigen Rasenflächen hoben und mit langen Läufen hin und her schwenkten, während die Zielerfassungscomputer sich bemühten, ihnen ein Ziel zu liefern. Schallwaffen, Teilchenstrahlen, Nervengase, stroboskopische Lichter und halluzinogene Nebel. Nein, wir geben keinen Pfifferling auf die Genfer Konventionen. Hätte ich von all dem gewusst, hätte ich niemals gewagt hier einzubrechen. Natürlich hatte ich damals das Confusulum zu meiner Unterstützung. Hoffentlich hatten die geheimnisvollen neuen Eindringlinge keins. Howard kam wieder zu uns zurück. Sein Gesicht war noch erhitzter und er hatte sich tatsächlich den Kragen aufgeknöpft. »Wir haben immer noch Probleme, ein deutliches Bild von unseren Eindringlingen zu bekommen. Wir haben ihren aktuellen Aufenthaltsort auf irgendwo in der Nähe des Sees eingegrenzt, nicht weit von den Bootsschuppen entfernt, aber etwas in ihrer grundlegenden Natur bringt die Sensoren völlig durcheinander.« »Ich hörte jemand das Wort infernal benutzen«, sagte Molly. »Tja, nun«, meinte Howard. »Dieses Wort zu hören ist immer beunruhigend, nicht wahr? Heutzutage sind die meisten unserer Verteidigungsanlagen wissenschaftlich und weniger magisch oder mystisch.« »Dann lasst mich helfen!«, bot Molly an. »Ich weiß viel über infernale Wesen.« Sie ging zum nächsten Bildschirmarbeitsplatz hinüber und murmelte dabei im Flüsterton gewisse unerfreuliche Worte. Dann lehnte sie sich an einem überraschten Techniker vorbei und schob den linken Arm bis zum Ellbogen durch seinen Kontrollschirm. Der Unterarm geisterte durch den Monitor, und plötzlich wurde der gesamte Einsatzraum von einem hellen, andersweltlichen Licht erfüllt, als Mollys Magie sich in allen Systemen gleichzeitig manifestierte. Sich entladende Energien umzischten sie wie ätherisches Feuerwerk. Ein mächtiger Kraftstoß schoss durch sämtliche Computer, als Mollys Magie sich mit allen Systemen des Einsatzraums verband und ihre Leistungsfähigkeit erhöhte. Und plötzlich erschien vor uns in der Luft ein Bild, das die kristallklare Ansicht zweier Männer zeigte, die zusammen dicht beim See standen, genau in der Mitte der weitläufigen Anlagen des Herrenhauses. Das Bild zoomte heran und lieferte uns eine Nahaufnahme ihrer Gesichter. »Gern geschehen!«, sagte Molly. Zwei alltäglich aussehende Männer, einer davon in meinem Alter, Anfang dreißig. Groß, hinlänglich angenehme Züge, Stahlbrille. Der andere war blass, dunkelhaarig, beunruhigend gut aussehend. Er sah ziemlich jung aus, bis man in seine außerordentlich dunklen Augen blickte, und danach schien er verdammt viel älter zu sein. Einfach nur zwei Männer, die zusammenstanden. Keine Armee. Keine offensichtliche Bedrohung. Nur dass sie nicht so weit hätten kommen können, wenn sie nicht ganz außergewöhnliche Leute gewesen wären. Howard beugte sich jäh vor. »Das ist es! Wir haben sie erfasst! Achtung, wir werden ihnen gleich alles geben, was wir haben!« »Nein, werdet ihr nicht«, sagte der Waffenmeister. »Wir müssen mit ihnen reden. Und außerdem würde es auch nichts nützen.« »Was?« Howard blickte den Waffenmeister bedeppert an. »Ich weiß, wer sie sind«, erklärte der Waffenmeister. »Oder wenigstens erkenne ich, wer einer von ihnen ist und was der andere ist. Der mit der Brille gehört zur Familie.« »Ha!«, sagte Howard bitter. »Ich hätte es wissen können! Nur ein Familienmitglied konnte an den Familienverteidigungsanlagen vorbeikommen.« Er beäugte das Bild unschlüssig. »Kann nicht sagen, dass er mir bekannt vorkommt.« »Kann er auch nicht«, sagte der Waffenmeister. »Er kommt kaum jemals nach Hause. Das ist Harry Drood, James' einziger legitimer Sohn.« »Und bedauerlicherweise erkenne ich den anderen Kerl wieder«, sagte ich. »Ich habe ihn einmal vorher gesehen, kurz, in den Gefängniszellen unter dem alten Hauptquartier des Manifesten Schicksals. Sie hatten ein Pentagramm um ihn herum in den Zellenboden geritzt und ihm für alle Fälle noch die Zunge herausgeschnitten. Und trotzdem war er noch das gefährlichste Geschöpf dort. Er ist ein Dämonenhalbblut, der Abkömmling eines Sukkubus. Ich ließ ihn dort zum Sterben zurück, als ich Trumans Organisation um seinen Kopf herum zum Einstürzen brachte. Ich hätte ihn töten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.« »Du hattest nie die Gelegenheit«, wandte Molly ein. »Mischlinge wie er sind sehr schwer zu töten. Sie mögen aussehen wie wir, aber sie haben alle einen Fuß in der Hölle. Aber was tut er hier, Seite an Seite mit einem Drood?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »aber es wird nichts Gutes sein. Harry Drood. Ich habe Geschichten über ihn gehört.« »Die meisten davon stimmen«, meinte der Waffenmeister. »Harry war immer einer unserer besten Frontagenten, wenn auch ein bisschen zu unabhängig. Dir nicht unähnlich, Eddie, in vielerlei Hinsicht.« »Aber warum sollte er plötzlich so aus dem Nichts auftauchen«, wunderte ich mich, »in Gesellschaft eines Dämons?« »Du hast seinen Vater getötet«, sagte der Waffenmeister. »Ja«, gab ich ihm recht. »Das wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen, stimmt's?« »Wenigstens wissen wir jetzt, wie sie hereingekommen sind«, meinte Howard und hörte sich ein bisschen fröhlicher an. »Kein Geheimnis mehr: Unsere Verteidigungssysteme waren nie darauf angelegt, etwas so Seltenes oder Unnatürliches wie ein halbblütiges Höllengezücht zu erkennen.« »Also schön, Howard«, sagte ich. »Sorg dafür, dass der Einsatzraum in Bereitschaft und alle Waffen online bleiben - nur für den Fall, dass Harry weitere Freunde eingeladen hat, später noch vorbeizuschauen. Unternimm aber nichts ohne ausdrückliche Anweisungen von mir! Molly, Onkel Jack, lasst uns gehen und Harry zu Hause willkommen heißen!« »Geht es in Ordnung, wenn ich zuerst meinen Arm aus dem Computer nehme?«, fragte Molly. Molly bot uns an, uns direkt zum See zu teleportieren, aber ich hielt es für besser, uns Zeit zu lassen und zu Fuß zu gehen. Ich wollte nicht, dass Harry auf den Gedanken kam, er könnte uns in Panik versetzen und zu überstürztem Handeln verleiten. Nein, sollte er ruhig warten. Wir drei verließen das Herrenhaus und schlenderten ohne Eile über die weitläufigen freien Rasenflächen auf den See zu. Es war ein schöner Sommertag mit warmem Sonnenschein und einer angenehmen Brise. Strahlend blauer Himmel, kaum eine Wolke. Und es wäre auch ein recht angenehmer Spaziergang gewesen, wenn ich nicht so ein schlechtes Gefühl wegen der bevorstehenden Begegnung gehabt hätte. Ein Drood und eine Höllenbrut, zusammen? Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte ich gesagt, dass so etwas unmöglich ist. Aber seitdem hatte ich viel darüber gelernt, wozu die Familie fähig war - wenig davon Gutes. Molly hakte sich bei mir unter, als wir dahinschlenderten. Sie war immer zufriedener, wenn sie draußen in den Anlagen war. Sie war schließlich eine Hexe der wilden Wälder, und der alte, graue Stein des Herrenhauses lastete auf ihrer freien und unbeschwerten Natur. Sie schwatzte fröhlich beim Gehen und ich tat mein Möglichstes mitzumachen. Aber wir wussten beide, dass ich nicht mit dem Herzen dabei war; mein Verstand war uns vorausgeeilt und befand sich schon am See. »Harry Drood«, wandte ich mich schließlich an den Waffenmeister. »Da gab es doch einen Skandal, in den er verwickelt war, nicht wahr?« »O ja!«, bestätigte der Waffenmeister. »Die Angelegenheit wurde allerdings nie außerhalb des Rats der Matriarchin besprochen. Weißt du, James hat nur einmal geheiratet, und das gegen den ausdrücklichen Willen der Matriarchin. Nur er konnte mit so was davonkommen. Er heiratete die verrufene Abenteurerin und freiberufliche Spionin Melanie Blaze. Eine sehr erfolgreiche Privatdetektivin, auf ihre eigene raffinierte, machiavellistische und hinterhältige Weise. Sie und James gaben ein großartiges Team ab und waren damals in den Sechzigern bedeutende Spieler. Wann immer man von einer geheimen Basis hörte, die in die Luft gejagt worden war, oder von einem unantastbaren Schurken, der einem Attentat zum Opfer gefallen war, wusste man, dass es James und Melanie gewesen sein mussten. Alle bewunderten sie, sogar ihre Feinde, und jeder Drood wollte sein wie sie. James hat Melanie nur ein paar Mal mit nach Hause gebracht, die Matriarchin war sehr frostig. Und dann verschwand Melanie für irgendeine geheime Mission in die Hinteren Reiche und tauchte nie wieder auf. Das ist jetzt … fünfzehn Jahre her. James ist ihr noch einige Male hinein gefolgt, mit und ohne Billigung der Familie, aber er hat sie nie gefunden. Danach war er nie mehr derselbe.« »James war wie ein zweiter Vater für mich«, sagte ich. »Er zog mich groß, nachdem meine Eltern getötet worden waren. Aber ich glaube nicht, dass ich Harry überhaupt schon einmal gesehen habe.« »Harry war immer ganz der Sohn seiner Mutter«, erklärte der Waffenmeister. »Sie hat ihn außerhalb des Herrenhauses aufgezogen, fern von der Matriarchin. James besuchte ihn so oft er konnte, aber … ach, ich weiß nicht, Eddie. James und ich standen uns nahe, aber es gab ein paar Dinge, über die er einfach nicht reden wollte. Da war irgendetwas mit Melanie, oder mit Harry, aber … Na, jedenfalls, nach Melanies Verschwinden bestand James darauf, dass wir Arbeit für Harry als Frontagenten finden, und die Matriarchin hielt ihn mit Aufträgen in fremden Gegenden beschäftigt. Und genau wie du, Eddie, lebte Harry für seine Arbeit und kam nie nach Hause.« »Ich durfte nie das Land verlassen«, wandte ich wehmütig ein. »Aber Harry war James' Sohn«, erinnerte mich der Waffenmeister, »und James war immer Mutters Liebling. Doch Harry erwies sich als ausgezeichneter Frontagent; äußerst einfallsreich erledigte er immer seinen Job.« »Aber was für ein Mensch ist er?«, wollte Molly wissen. »Ich habe keine Ahnung«, gestand der Waffenmeister und lachte in sich hinein. »Harry war James einziger legitimer Sohn, aber er hat unzählige Stiefbrüder und -schwestern, die über sämtliche Länder der Erde verstreut sind, von den ganzen Frauen, mit denen James … Beziehungen hatte, durch die Jahre hindurch.« »Er konnte ihn nie in der Hose behalten«, bestätigte ich. »Ich will gar nicht darüber nachdenken, wie oft ihn das in Schwierigkeiten gebracht hat.« »James war halt sehr romantisch!«, verteidigte ihn der Waffenmeister entschlossen. »Er verliebte sich immer schnell in ein hübsches Gesicht und bereute es anschließend meistens. Die Familie hat nie offiziell irgendeinen dieser Sprösslinge anerkannt, aber um James' Zufriedenheit willen trafen wir für gewöhnlich Arrangements, um sie erwerbstätig zu halten, und ließen sie nützliche Arbeit für die Familie tun. Ab und zu, wenn wir mehr als üblich Abstand halten oder ableugnen mussten.« »Ich dachte, eure Familie billigt kein Halbblut?«, warf Molly ein. »Tun wir auch nicht«, bestätigte ich. »Sie werden nie nach Hause eingeladen und wir schicken ihnen keine Weihnachtskarten. Die Droods sind in mancherlei Hinsicht eine sehr altmodische Familie, aber das kommt eben vor, wenn man schon Jahrhunderte auf dem Buckel hat.« »Aber sie für gefährliche Aufgaben zu benutzen, ist trotzdem in Ordnung?« »Die Familie kann sehr pragmatisch sein, wenn sie will«, erklärte der Waffenmeister. »Nur so konnten wir jahrhundertelang überleben.« Schließlich erreichten wir den See. Die dunkle, blaugrüne Oberfläche des Wassers erstreckte sich vor uns, ruhig und unberührt, das andere Ufer so weit weg, dass wir es nicht einmal sehen konnten. Irgendwo im See gibt es eine Wassernixe, aber sie bleibt für sich. Das Erste, was mir auffiel, war, dass sämtliche Schwäne verschwunden waren, vermutlich ans andere Ende des Sees geflohen. Und als ich die beiden Männer am Seeufer vor uns stehen sah, verstand ich warum. Harry Drood lächelte dem Waffenmeister kurz zu, starrte mich kühl an und bedachte Molly mit einem knappen Nicken. Er sah in seinem elegant geschnittenen grauen Anzug groß und gut gebaut aus und das Gesicht hinter der Stahlbrille hatte jenes alltägliche Aussehen, das die Droods zu so ausgezeichneten Geheimagenten machte. Niemand schaut auf der Straße ein zweites Mal nach uns, und so mögen wir es auch. Harry hielt einen toten Schwan an seinem gebrochenen Hals fest, als ob es etwas sei, das er zufällig aufgehoben habe. Für einen Eindringling und Schwanenkiller machte er einen bemerkenswert lässigen und ungezwungenen Eindruck. Der Halbblutdämon neben ihm strahlte die ganze Gelassenheit und Sicherheit eines Raubtiers aus, das niedergekauert und bereit zum Angriff auf seine Beute lauert. Er sah hinlänglich menschlich aus, bis man die Einzelheiten in sich aufnahm. Er war knapp zwei Meter groß, schlank, aber athletisch gebaut und hatte ein unnatürlich blasses Gesicht, nachtschwarze Haare und Augen und einen Mund, der so schmal war, dass er fast keine Lippen aufwies. Er trug einen Armani-Anzug und trug ihn gut, dazu eine altmodisch-traditionelle Krawatte, von der ich nicht glauben konnte, dass er sie auf ehrlichem Wege erworben hatte. Seine beiden Hände steckten tief in den Taschen, und er lächelte uns alle unbefangen an. Es lag kein Humor in dem Lächeln - bloß ein Raubtier, das die Zähne zeigte. Von Nahem roch er nach dem Höllenschlund; ein saurer und Übelkeit erregender Gestank nach Schwefel und Blut. Das Gras unter seinen Füßen war geschwärzt und schwelte. »Hallo, Onkel Jack!«, sagte Harry mit leichter, angenehmer Stimme. »Ich bin nach Hause gekommen. Ist nicht nötig, ein gemästetes Kalb für den verlorenen Sohn zu schlachten, ich denke, ich werde stattdessen Schwan nehmen. Ich mochte Schwan schon immer sehr gern.« »Du hättest vorher fragen können«, erwiderte der Waffenmeister. »Aber dann hättest du vielleicht nein gesagt«, meinte Harry vernünftig. »Und ich finde wirklich, dass ich ein Anrecht auf etwas Besonderes zur Feier meiner Heimkehr habe, nachdem ich so lang fort war.« »Willst du uns nicht deinen beunruhigenden Begleiter vorstellen?«, fragte ich. Harry lächelte mich kurz an. »Aber ja, wie ausgesprochen unhöflich von mir! Dies ist mein guter Kamerad und Freund, Roger Morgenstern.« »Ich weiß, wer du bist, du Hurensohn!«, sagte Molly, und ihre Stimme war sehr kalt. »Ich habe dir gesagt, was ich mit dir machen würde, falls ich dich je wiedersähe.« Sie warf die Arme in einer Beschwörungshaltung hoch. Dunkle Wolken brodelten am Himmel. Blitzstrahlen stießen herab und sprengten den Boden rings um Roger weg, aber ihm selbst konnten sie nichts anhaben. Er stand bloß da und lächelte Molly ungezwungen an, während wir Übrigen uns in Deckung warfen. Molly schrie wutentbrannt auf und entfesselte sämtliche Elemente zugleich gegen die Höllenbrut. Harry und der Waffenmeister duckten sich und hasteten außer Reichweite, wohingegen ich hochrüstete. Hagel hämmerte herab, dicke Eisscherben mit rasiermesserscharfen Rändern. Ich stellte mich zwischen Harry und den Waffenmeister auf der einen und das ärgste Unwetter auf der anderen Seite und schirmte sie ab, so gut ich konnte. Roger wurde überhaupt nicht verletzt. Sturmwinde bliesen, Blitze schlugen ein, Hagel prasselte herunter, und Roger Morgenstern rührte sich nicht von der Stelle, stand unbewegt und unversehrt da und lächelte sein enervierendes Lächeln. Molly verausgabte sich schnell und konnte bald nur noch zischende Feuerbälle nach Roger werfen, von denen keiner ihn auch nur ansatzweise streifte. Die dunklen Wolken trieben davon und die Elemente beruhigten sich. Rasch ging ich zu Molly hinüber, bevor sie zur Anwendung gefährlicherer Methoden schreiten konnte, rüstete ab und murmelte ihr aus sicherer Entfernung beruhigende, beschwichtigende Worte ins Ohr, bis sie aufhörte, Roger wütend anzustarren, sich abrupt wegdrehte und die Arme um sich schlang. Ich war schlau genug, sie nicht zu stören, solange sie in einer solchen Stimmung war. Harry und der Waffenmeister kamen wieder zu uns. »Würde mir bitte mal jemand erklären, was das gerade war?«, fragte der Waffenmeister ein klein wenig gereizt. »Wir sind früher ein paar Mal miteinander ausgegangen«, sagte Roger mit überraschend angenehmer Stimme. »Das war vor langer Zeit!«, fauchte Molly, mied aber nach wie vor seinen Blick. »Und du hast vorher nie daran gedacht, das zu erwähnen?«, fragte ich. Sie funkelte mich an. »Nehme ich dich etwa wegen deiner alten Freundinnen ins Verhör?« »Ja.« Sie schnaubte. »Bei einem Mädchen ist das was anderes!« »Aber er ist ein Höllengezücht!«, entrüstete ich mich. »Ein Dämonenhalbblut!« Sie zuckte die Achsel. »Es sind immer die bösen Jungs, die das Herz einer Frau ein kleines bisschen schneller schlagen lassen.« Bei manchen Unterhaltungen weiß man einfach, dass nichts Gutes dabei rauskommen kann, deshalb richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Roger. »Als ich dich das letzte Mal sah, hatte dich Truman in einen seiner Gefängnispferche gesperrt. Mit herausgeschnittener Zunge.« »Und du hast mich zum Sterben dort zurückgelassen«, sagte Roger locker. »Wie ausgesprochen drood von dir! Aber inmitten des allgemeinen Chaos bin ich entkommen. Niemand hat versucht, mich aufzuhalten - niemand hat es gewagt. Und die Zunge habe ich mir wieder wachsen lassen. Wir Höllengezüchte sind sehr schwer umzubringen.« »Und wie konnte Truman dich dann überhaupt fangen und verstümmeln?«, fragte ich, vielleicht ein bisschen bissig. Wieder zeigte Roger mit einem Lächeln, das keins war, seine Zähne. »O bitte, als ob ich so töricht wäre, dir das zu verraten!« »Na schön«, sagte ich. »Warum bist du hier?« »Rache!«, erklärte Roger, und für einen winzigen Moment flackerten helle, feuerrote Flammen in seinen dunklen Augen. »Truman muss bezahlen für das, was er mir angetan hat … Aber nicht einmal ich darf hoffen, eine Organisation von der Größe des Manifesten Schicksals allein auseinanderzunehmen. Was bedeutet, dass ich Verbündete brauche, und deine Familie scheint für diese Rolle am geeignetsten. Ihr wollt ihre Vernichtung fast so sehr wie ich, und der Feind meines Feindes kann mein Verbündeter sein, wenn auch nicht mein Freund.« »Du erwartest von uns, dass wir dir vertrauen?«, fragte der Waffenmeister. »Natürlich nicht. Aber solange wir an einer gemeinsamen Sache arbeiten, liegt es in meinem eigenen Interesse, euch nützlich zu sein.« »Und er ist mit mir da«, warf Harry sehr bestimmt ein. Er stand wieder neben Roger, als ob er dorthin gehörte. »Roger und ich kennen uns seit ewigen Zeiten: alte Freunde, alte Verbündete.« »Großer Gott!«, sagte der Waffenmeister. Er klang ehrlich schockiert. »Was hast du getan, Harry, in welche Tiefen bist du gesunken, dass du auch nur in Betracht ziehen konntest, dich mit einem Geschöpf der Hölle anzufreunden?« »Wenn deine Familie dir den Rücken kehrt, dann musst du dir die Freunde suchen, wo du kannst«, erwiderte Harry. »Nicht wahr, Eddie? Nun, wie sieht's aus, kein Willkommen daheim für mich, Onkel Jack? Nach all den langen Jahren, die ich von zu Hause fort war und in denen ich der Familie treu und gut in fremden Breiten gedient habe, ohne je auch nur ein Dankeschön dafür zu hören?« »Du hättest jederzeit heimkommen können«, erwiderte der Waffenmeister. »Die Matriarchin wäre vielleicht nicht allzu glücklich darüber gewesen, aber dein Vater und ich hätten dir zur Seite gestanden. Das haben wir dir gesagt; das haben wir dir beide oft genug gesagt. Aber du hattest ja immer irgendeine Ausrede!« »Jetzt bin ich da, Onkel Jack. Wegen meines Vaters.« »Du hast es also gehört«, stellte ich fest. »Natürlich habe ich es gehört. Die ganze Welt weiß, dass du meinen Vater ermordet hast, lieber Cousin Eddie. Und nun bin ich hier, stellvertretend für alle alten Freunde, Verbündeten, Geliebten und Feinde des Grauen Fuchses, die alle äußerst verärgert darüber sind, dass der legendäre James Drood tot ist. Wir wollen wissen warum. Wir verlangen Antworten.« »Es war ein Zweikampf«, sagte ich schlicht. »Rüstung gegen Rüstung. Er kämpfte gut und starb ehrenvoll.« Ich warf nicht einmal einen Blick in Mollys Richtung. Ihre Rolle bei James' Tod ging niemanden außer sie selbst etwas an. Harry sah mich mit leicht schräg gestelltem Kopf an. »Das ist alles? Das ist alles, was du zu sagen hast?« »Das ist alles, was es zu sagen gibt«, entgegnete ich. »Ich führte Krieg gegen meine Familie, und er kam einfach in den Weg.« »Dann - dann hast du nicht einfach meinen Vater ermordet und allen die Torques weggenommen … damit du die Macht über die Familie übernehmen und sie unbehindert führen konntest?« »Nein«, antwortete ich ruhig. »So war es nicht.« »So war es wirklich nicht«, bestätigte der Waffenmeister. »Er sagt die Wahrheit, Harry. Meinst du, ich hätte meinen Bruder inzwischen nicht gerächt, wenn ich dächte, er müsste gerächt werden?« »Nun«, sagte Harry, »das ist ja äußerst interessant. Ich sehe schon, dass ich weitere Nachforschungen anstellen muss. Wie dem auch sei, jedenfalls bin ich endlich mit meinem guten Freund Roger heimgekommen, um der Familie in der Stunde der Not zu dienen. Sagt mir, wie dankbar ihr alle seid!« »Für einen erfahrenen Frontagenten mehr haben wir immer Verwendung«, sagte ich. »Aber die Höllenbrut …« »Bitte, nennt mich Roger!« »Trau ihm nicht, Eddie!«, warnte Molly, die wieder an meiner Seite war. »Du kannst dich auf nichts verlassen, was er sagt. Die Hölle lügt immer, außer wenn eine Wahrheit einem mehr wehtun kann.« »Ich sage es noch einmal, für die Begriffsstutzigen in der letzten Reihe«, sagte Harry. »Roger ist auf meiner Seite. Ich verbürge mich für ihn und garantiere für sein Verhalten, solange er hier im Herrenhaus ist. Und er hat auch das Recht, hier zu sein. Er gehört zur Familie, genau wie ich.« »Was?«, rief der Waffenmeister. »Hast du den Verstand verloren, Harry? Wie kann ein Geschöpf der Hölle zur Familie gehören?« »Indem wir denselben Vater haben«, erklärte Harry. Roger lächelte breit. »Mutter war ein Sukkubus, mein Vater der illustre James Drood. Wie wär's mit einer dicken familiären Umarmung?« Der Waffenmeister schüttelte langsam den Kopf, schwerfällig, als ob man ihn heftig geohrfeigt hätte. Auf einmal sah er älter aus und gebrechlicher. Ich muss sagen, dass es auch mir den Atem verschlug. Ich schaute Molly an, aber sie zuckte bloß die Schulter, um zu zeigen, dass es auch für sie eine Neuigkeit war. »Das ist richtig«, sagte Harry munter. »Roger ist mein Stiefbruder. Und dein Neffe, Onkel Jack.« »Der alte Graue Fuchs war sexuell wirklich sehr aktiv«, sagte Molly. »Aber selbst dann - ein Sukkubus? Das ist einfach … geschmacklos.« »Lustdämonen sind Aristokraten in der Hölle«, erläuterte Roger. »Und gesammelte Seelen sind die Währung.« »Halt die Klappe!«, sagte der Waffenmeister. »Halt einfach die Klappe!« »Jawohl, Onkel«, sagte Roger. »Es ist spaßig, wie Roger und ich uns kennengelernt haben«, erzählte Harry. »Das kam nur, weil wir alle verwandt sind. Vater und ich arbeiteten gemeinsam an einer Mission, wie wir es häufig taten, wenn wir gleichzeitig im selben Teil der Welt landeten. Vater und ich waren in Paris und dort dem Fantom, dem legendären Dieb und Attentäter, auf der Spur. Er führte mich in einen gewissen kleinen, abgelegenen Nachtclub am Westufer, wo man Informationen aller Art erhalten konnte, wenn man sich ein wenig Mühe gab. Ein schmieriges Lokal, das sich das Plus Ca Change nannte … Und dort bin ich Roger begegnet. Wir kamen ins Plaudern, während Vater die benötigten Informationen aus einem Haufen Rocker-Werwölfen herausprügelte. Wir beide kamen fabelhaft miteinander aus - das Fantom haben Vater und ich zwar nie eingeholt, aber Roger und ich blieben miteinander in Verbindung.« »Dann willkommen zu Hause, Harry«, sagte ich. »Und du auch, Roger. Kommt mit uns ins Herrenhaus, wir werden euch schon unterbringen. Aber wenn einer von euch auch nur einmal außer Kontrolle gerät, dann werde ich ihn niederschlagen und auf seinem Kopf eine Riverdance-Vorführung geben!« »Das ist bloß raue Liebe«, erklärte Harry Roger, »du wirst dich daran gewöhnen. Das ist eben die Drood-Art. Was macht unser lieber alter Seneschall, Eddie?« »Schmeißt den Laden immer noch mit eiserner Faust in eisernem Handschuh«, antwortete ich, ohne mich ködern zu lassen. »Kommt mit - und nimm deinen Schwan mit, Harry. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.« »Schön zu Hause zu sein, Eddie«, sagte Harry. »Kann nicht behaupten, dass ich mich jemals so willkommen gefühlt habe. Ich vermute, wenigstens das haben du und ich gemeinsam: Die Lieblingssöhne unserer Familie waren wir nie.« Plötzlich ertönten schnaubende, hustende Geräusche, und wir blickten uns beide um. Die Greifen hatten uns endlich aufgespürt und kamen herübergeschlendert, um die Neuankömmlinge mit einem ordentlichen Schnüffeln zu überprüfen. Harry ließ es resigniert über sich ergehen, und dann wandten die Greifen sich Roger zu. Sein Geruch gefiel ihnen überhaupt nicht; mit tiefen, grollenden Stimmen knurrten sie ihn an. Einer schnappte sogar nach ihm und Roger trat ihm so in die Rippen, dass er drei, vier Meter durch die Luft segelte. Mit schnellen Bewegungen stellte ich mich zwischen Roger und die Greifen. »Tu das nicht!«, sagte ich. »Sonst?«, sagte er. Es war eine unverblümte Herausforderung - und eine, der ich begegnen musste, wenn ich irgendeine Autorität im Herrenhaus für mich beanspruchen wollte. Ich sprach innerlich die Worte und rüstete binnen eines Moments hoch, und die silberne fremde Materie floss über mich wie eine zweite Haut. Ich ballte eine silberne Hand zur Faust und hielt sie Roger vors Gesicht. Unter seinen Augen ließ ich dicke, silberne Dornen aus den Knöcheln wachsen. Unmenschlich schnell schoss Roger nach vorn, die Finger wie Klauen, das unglaublich breite Lächeln voller Zähne wie die eines Haifischs. Ich wich nicht von der Stelle und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht, hinter dem meine ganze gepanzerte Kraft lag. Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen, und die schiere Wucht des Aufpralls ließ seinen Kopf so hart nach hinten fliegen, dass es einem normalen Menschen das Genick gebrochen hätte. Roger taumelte zurück, dann fing er sich rasch wieder. Langsam schüttelte er den Kopf und fuhr sich mit einer Hand ans Gesicht: Seine Nase war gebrochen, wenngleich kein Blut floss. Roger packte die Nase mit der linken Hand und brachte sie mit einem Ruck, der von einem schmerzhaft klingenden Knacken begleitet wurde, wieder in die richtige Stellung. Ich zuckte bei dem Geräusch zusammen, und ich bin mir sicher, dass es mir nicht allein so ging. »Angeber!«, sagte Harry nachsichtig zu Roger. »Jetzt benimm dich! Ich habe für dein Verhalten garantiert, schon vergessen? Willst du mich schlecht aussehen lassen?« »Sicher. Es tut mir leid, Harry.« Roger lächelte mir kurz zu. »Es wird nicht wieder vorkommen. Nicht böse sein, ja?« Ich rüstete ab und schaute erst ihn an und dann Harry. Mir kam der Gedanke, dass die beiden dieses kleine Schauspiel vielleicht nur inszeniert hatten, um zu sehen, wozu die neue Rüstung in der Lage war. Durchtrieben, hinterlistig und ein kleines bisschen paranoid - schließlich waren sie Droods. »Lasst uns zurück ins Haus gehen«, sagte der Waffenmeister. »Es wird allmählich kalt hier draußen.« Kapitel Vier Söhne und Geliebte »Es ist schön, dich wieder daheim zu haben, Harry«, sagte der Waffenmeister. »Und deinen … Freund. Kommt mit und ich werde euch irgendwas suchen, wo ihr bleiben könnt. Allerdings weiß ich noch nicht so recht, wo ich euch hinstecken soll; das Herrenhaus ist dieser Tage so überfüllt, dass man sich kaum drehen und wenden kann.« »Wir könnten sie in die Verliese stecken«, schlug ich vor. Der Waffenmeister warf mir einen kalten Blick zu. »Du weißt sehr wohl, dass wir keine Verliese mehr haben, Eddie. Sie wurden schon vor langer Zeit zu Billardzimmern umfunktioniert.« »Ihr habt Billardtische hier?«, fragte Molly, und ihre Miene erhellte sich. »Aber ja doch!«, bestätigte ich. »Sie sind äußerst beliebt. Man muss sich sogar in die Queues stellen, um hineinzukommen!« »Noch so ein Witz und ich schlag deine Bälle gegeneinander!« »Warum kann ich denn nicht Vaters altes Zimmer beziehen?«, wollte Harry wissen. »Die Matriarchin ist doch noch nicht dazu gekommen, es neu zuzuteilen, oder? Dachte ich's mir; die liebe Großmutter war schon immer sehr sentimental, wenn ihr Sohn betroffen war. Und wer hätte ein größeres Anrecht auf das Zimmer des Grauen Fuchses als sein einziger legitimer Sohn?« »Tja … ich schätze, das stimmt«, räumte der Waffenmeister ein. »Ja, James wäre damit einverstanden. Kommt mit mir mit, Harry. Und Roger, und ich werde euch unterbringen.« »Wir sehen uns später, Cousin Eddie«, verabschiedete sich Harry. »Ja«, antwortete ich, »das werden wir.« Der Waffenmeister führte die beiden über den Rasen in Richtung Herrenhaus fort. Molly und ich sahen zu, wie sie gingen, während die Greifen, die sich zurückgezogen hatten, wieder zu uns gewandert kamen, sich neben uns hockten und unglücklich schnaubten und knurrten. Ich tätschelte ein paar Köpfe, zupfte an ein paar Ohren, und einigermaßen zufrieden zogen sie wieder ab. Es beunruhigte mich, dass sie nicht in der Lage gewesen waren, Harrys und Rogers Eintreffen vorherzusagen. Das warf die Frage auf, was die Höllenbrut sonst noch alles vor uns verbergen konnte. »Und dabei fing der Tag heute so gut an!«, sagte ich schließlich. »Jetzt ist Harry wieder da, der es kaum erwarten kann, mir ein Messer in den Rücken zu stoßen. Und als ob das nicht reichte, hat er noch ein Dämonenhalbblut mitgebracht. Ich meine, ich bin ja nicht voreingenommen, aber - verdammt, das ist ein Wesen aus der Hölle!« Ich schaute Molly an. »Bist du wirklich mit ihm ausgegangen?« »Noch ein Wort darüber von dir, Eddie«, erwiderte sie frostig, »und du wirst mich nie wieder nackt sehen!« Wir gingen zu meinem Zimmer ins Herrenhaus zurück. Ich verspürte das dringende Bedürfnis nach einer Auszeit. Als ich entschied, wieder ins Herrenhaus einzuziehen, um die Entwicklung der Dinge richtig im Auge behalten zu können, musste ich mich auch entscheiden, wo ich bleiben wollte. Mein altes Zimmer war längst fort, an irgendjemanden in der Familie vergeben, als ich weggegangen war, um ein Frontagent zu sein. (Und unterwegs die ganze Zeit Frei! Endlich Frei! geschrien hatte.) Aber es war ja auch nicht so, als ob ich besonders an der winzigen Dachkammer gehangen hätte: Zu heiß im Sommer, zu kalt im Winter und jedes Mal, wenn nachts der Wind ging, musste ich aufstehen und ein Taschentuch in den Spalt zwischen Fenster und Rahmen quetschen, um es am Klappern zu hindern. (Die Familie hat noch nie etwas von Zentralheizung gehalten - verweichlicht einen nur.) Da ich jetzt die Familie führte, hätte ich mir jedes Zimmer nehmen können, das mir zusagte. Ich hätte die Matriarchin aus ihrer Sondersuite werfen können, und keiner hätte mich davon abgehalten. Aber das brachte ich nicht übers Herz; es wäre grausam gewesen … Alistair gegenüber. Du großer Softie, sagte Molly später, als ich es ihr erzählte. Aber damit lag sie nur zum Teil richtig, denn schon da hatte ich gewusst, dass ich mir Martha Drood nicht zum Feind machen wollte, weil ich ihre Hilfe vielleicht noch bräuchte. Am Ende entschied ich mich einfach für eins der besser gelegenen Zimmer im Westflügel und schmiss den armen Kerl raus, der dort wohnte. Der seinerseits suchte sich einen in der Nahrungskette tiefer Stehenden aus, zwang diesen zur Räumung und zog in dessen Zimmer ein. Und so ging es weiter, einige Tage lang, bis man sich in den Korridoren nicht mehr bewegen konnte, weil sie voller Leute waren, die ihre Siebensachen von einem Zimmer zum andern schleppten. Vermutlich landete das arme Schwein am Boden der Pyramide wieder im Gemeinschaftsschlafsaal bei den Kindern. (Im Herrenhaus gibt es keine Gästezimmer. Nur Familie kommt in den Genuss, im Herrenhaus zu wohnen.) Dennoch war Molly nicht sonderlich beeindruckt, als sie sah, wo sie mit mir wohnen würde. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, dass Mitglieder der mächtigsten Familie der Welt nur ein Zimmer bekamen, um darin zu leben. Aber so was passiert halt, wenn die Familie schneller wächst, als wir neue Flügel anbauen können. Noch eine oder zwei Generationen, und wir werden uns ein neues Zuhause suchen oder bauen müssen, aber darüber war noch niemand bereit zu sprechen. Ich ließ uns in unser Zimmer, und sofort lief Molly zum Bett hin und warf sich darauf. Sie versank so tief in der weichen Gänsefedermatratze, dass sie halb außer Sicht war, und seufzte selig. »Das Zimmer mag ich immer noch nicht besonders, aber dieses Bett hier liebe ich! Ich fühle mich, als könnte ich bis runter nach China sinken!« »Was ist denn nicht in Ordnung mit dem Zimmer?«, erkundigte ich mich geduldig. »Ist viel zu sehr wie ein Hotelzimmer«, antwortete Molly bestimmt. »Alles sehr luxuriös, da bin ich sicher, aber es hat keinen Charakter. Es ist kalt und unpersönlich.« Ich lächelte sie an. »Wann hast du dich denn jemals in einem Hotel aufgehalten, o böse Hexe der Wälder?« Sie rekelte sich wohlig im Bett. »Oh, ich komme herum! Du wärst überrascht, wo ich schon überall gewesen bin! Und es ist ja nicht so, als ob ich meinen Wald überallhin mitnehmen könnte … Trotzdem, eins muss ich Hotels lassen - ich liebe Zimmerservice! Du nimmst einfach den Hörer ab, und sie bringen dir was zu essen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. In Hotels schlage ich mir immer den Bauch voll. Besonders weil ich nie lange genug bleibe, um die Rechnung zu bezahlen.« »Hier gibt's keinen Zimmerservice«, erklärte ich streng. »Und es wird von einem erwartet, dass man sein Zimmer selbst in Ordnung hält. Es gibt kein Dienstpersonal unter den Droods, oder wenigstens nicht als solches. Wir werden von klein auf darin bestärkt, selbst für uns zu sorgen. Ist dem Charakter und dem Selbstvertrauen förderlich.« »Wie außerordentlich ehrenwert!«, meinte Molly. »Lass uns mal eins klarstellen zwischen uns beiden: Ehrenwert ist bei mir nicht! War das echt das beste Zimmer, dass du dir aussuchen konntest, von allen, die du kriegen konntest?« »Ich habe mich für dieses Zimmer entschieden, weil es früher das meiner Eltern war«, sagte ich. »Damals, als ich ein Kind war. Ich kann mich vage erinnern, wie ich sie hier besucht habe. Aber es ist schwierig, sicher zu sein; Erinnerungen aus diesem Alter sind nie verlässlich. Meine Mutter und mein Vater waren nicht oft hier, musst du wissen: Als Frontagenten wohnten sie außerhalb des Herrenhauses.« »Und du durftest nicht bei ihnen leben?«, fragte Molly, während sie sich aufsetzte und ihr Haupt gegen das Kopfbrett des Bettes lehnte. »Nein. Alle Drood-Kinder werden hier großgezogen, in den Schlafsälen. Damit sie ordentlich ausgebildet und indoktriniert werden können. Die Loyalität gilt der Familie, nicht unseren Eltern.« »Harry wurde nicht hier großgezogen«, meinte Molly nachdenklich. »Nein. Wodurch du eine Vorstellung davon bekommst, wie sehr die Matriarchin Onkel James' unerlaubte Heirat, und dann noch mit einer unpassenden Frau, missbilligte. Jeder andere wäre für vogelfrei erklärt worden.« »Ich mag die Möbel und die Einrichtung«, wechselte Molly taktvoll das Thema. »Alles hier drin ist antik, aber in hervorragendem Zustand. Hey, wenn es hier kein Dienstpersonal gibt, wer poliert dann das ganze Holz und Messing?« »Wir wechseln uns ab, wenn wir jung sind«, sagte ich. »Charakterförderlich, weißt du noch? Ich habe es gehasst. Ich kann mich noch daran erinnern, wie meine Hände starr vor Kälte wurden, wenn ich im tiefsten Winter draußen Fenster geputzt habe, weil das Wasser im Eimer immer kalt wurde, ehe man fertig war. Und wie es war, mit völlig tauben Fingern zu versuchen, das Messing mit Duraglit zu schrubben, davon will ich gar nicht erst anfangen! Scheiß auf die Charakterförderung. Alles, was es mich gelehrt hat, war, nie etwas aus Messing zu besitzen und immer daran zu denken, meinen Fensterputzern ein äußerst großzügiges Trinkgeld zu geben.« »Lass nur alles raus, Eddie!«, ermunterte Molly mich. »Halt nichts zurück!« »Wenigstens spreche ich über meine Vergangenheit!«, erwiderte ich spitz. »Ach, weißt du …«, sagte Molly. »Neues Thema. Mir gefällt der Fernseher. Das ist ein echt verdammt großer Breitbildfernseher! Widescreen und fünf Lautsprecher für Raumklang! Cool!« »Für die Familie nur das Beste«, antwortete ich. »Aber ich hätte nicht gedacht, dass du viel fernsiehst, in den Wäldern.« »Ich bin eine Hexe, keine Barbarin! Ich mag die Kochsendungen. Ich liebe das Perfekte Dinner. Ich nehme an, du schaust den SciFi-Kanal?« »Nein«, sagte ich. »Ich lasse gern die Arbeit hinter mir, wenn ich mich entspannen will. Ich bevorzuge die Comedy-Kanäle.« Molly zog die Knie an die Brust und blickte mich nachdenklich an. »Was machen wir hier, Eddie? Warum verstecken wir uns in deinem Zimmer?« »Tun wir gar nicht«, sagte ich. »Es ist nur … manchmal wird mir alles ein bisschen zu viel, und dann muss ich weg von allem. Ich habe es übernommen, diese Familie zu führen, weil ich es musste. Aber ich weiß ja kaum, was ich da tue. Ich habe zehn Jahre lang allein gelebt und musste mir nie um jemand Gedanken machen außer um mich selbst. Und jetzt habe ich all diese Menschen, die sich auf mich verlassen, die Antworten und Entscheidungen von mir erwarten, die den Rest ihres Lebens gestalten werden. Ich will sie nicht enttäuschen.« »Sie haben dich enttäuscht«, hielt Molly mir vor Augen. »Sie haben immer noch Geheimnisse vor mir«, sagte ich. »Harry ist nur das Neueste. Und er ist genau das, was mir noch gefehlt hat: ein rivalisierender Thronanwärter.« »Er hasst dich, weil er glaubt, du hättest seinen Vater umgebracht«, sagte Molly. »Er weiß nicht, dass ich James Drood getötet habe.« »Niemand darf das je erfahren! Wenn ich ihn in einem Duell töte, dann ist das eine Sache; ich gehöre zur Familie. Aber du bist eine Außenstehende; sie würden dich auf der Stelle umbringen, wenn sie es auch nur vermuteten. Und mich ebenso, weil ich die Wahrheit vor ihnen verborgen und mich erdreistet habe, dich mehr zu mögen als die Familie.« Molly lächelte mich an. »Von Zeit zu Zeit erinnerst du mich daran, wieso ich mich so heftig in dich verknallt habe. Komm her und setz dich zu mir!« Ich setzte mich aufs Bett neben sie, und wir legten die Arme umeinander und kuschelten uns dicht zusammen. Für lange Zeit wollten wir nichts sagen. »Du darfst mich ruhig festhalten, wenn du niedergeschlagen bist«, sagte Molly. »Das ist erlaubt, wenn man in einer Beziehung ist.« »Dann stecken wir also definitiv in einer dieser Beziehungskisten, stimmt's?«, fragte ich. »Jau. Hat sich an mich rangeschlichen, als ich mal kurz nicht hingeschaut habe. Du kannst meine Titten drücken, wenn du möchtest.« »Gut zu wissen.« »Roger und ich standen uns nie nahe«, sagte sie, ohne mich dabei anzusehen. »Und wir waren nicht lange zusammen. Es war einfach die Zeit im Leben eines Mädchens, wo es wirklich das Gefühl hat, von jemand Großem und Grobem schlecht behandelt werden zu wollen. Auch wenn man weiß, dass es zwangsläufig in Tränen enden wird.« »Und tat es das?« »Oh, ja! Ich erwischte ihn mit meiner besten Freundin im Bett. Und mit ihrem Bruder. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich steckte das Bett in Brand, während sie alle noch drin waren, und verließ ihn. Ich bin ziemlich sicher, dass ich ihn nie wirklich geliebt habe. Es war bloß eine dieser Geschichten, weißt du?« »Ich hatte einmal ein kurzes Verhältnis mit einer Sexdroidin aus dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert«, erzählte ich. »Verdammt, wir haben schon ein paar interessante Zeiten erlebt, was?« Wir lachten leise gemeinsam. Unsere Körper bewegten sich leicht gegeneinander. Ich fühlte mich nirgendwo so daheim, wie ich es in Mollys Armen tat. Als ob ich endlich herausgefunden hätte, wo ich hingehörte. »Verlass mich nie!«, sagte ich plötzlich. »Wo kam das denn her?«, wunderte sich Molly. »Weiß ich nicht. Ich muss einfach hören, dass du es sagst. Sag es für mich, Molly!« »Ich werde dich nie verlassen, Eddie. Ich werde immer bei dir sein, für immer und immer und immer. Jetzt sag du es!« »Ich werde dich jeden Tag meines Lebens lieben, Molly Metcalf, und wenn ich gestorben bin und du nicht dort bei mir im Himmel bist, dann werde ich in die Hölle hinabsteigen und zu dir kommen. Denn der Himmel wäre kein Himmel ohne dich.« »Du glattzüngiger Teufel, Eddie Drood!« Etwas später, als ich wieder Luft bekam, zog ich mich an und machte die Tasche auf, die ich aus meiner Londoner Wohnung mitgebracht hatte. Ich machte mich daran, meine wenigen Habseligkeiten im Zimmer zu verteilen. Es dauerte nicht lange. Eine Reihe CDs auf einem Regal, meine Lieblingsbücher aufgereiht auf einem anderen. In alphabetischer Reihenfolge selbstverständlich; in solchen Dingen bin ich sehr genau. Und ein paar Lieblingsklamotten, die den massiven Mahagonikleiderschrank nicht einmal annähernd ausfüllten. Ich schaute Molly an, die gerade vor dem Spiegel ihr zerzaustes Haar attackierte. »Hast du keine Kleider, die du aufhängen willst? Frauen haben doch immer Kleider. Und Schuhe. Und Sachen.« Sie zuckte unbeschwert die Schulter. »Wann immer mir langweilig wird, zaubere ich mir einfach eine neue Aufmachung herbei. Ich brauche nur was zu sehen, was mir gefällt, und mit einem Gedanken kann ich ein Duplikat davon herstellen. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas für Kleider ausgegeben, und sie passen immer perfekt. Ich verwende schon seit Jahren immer wieder denselben Stoff.« Ich hoffe, du nimmst dir die Zeit und wäschst ihn ab und zu, dachte ich, hatte aber genug Verstand, es nicht auszusprechen. Ich trat zurück und betrachtete meine über den Raum verstreuten Besitztümer. Sie sahen … irgendwie verloren aus. Es waren moderne, vergängliche Sachen in einem Zimmer, das schon hier gewesen war, als ich noch nicht geboren war, und das noch hier sein würde, wenn ich schon tot war. Von den alten Sachen meiner Eltern war nichts mehr da; sie waren wohl schon vor langer Zeit weggeworfen oder neu verteilt worden, als der nächste Bewohner eingezogen war. Die Familie hat Rührseligkeit nie gefördert; wir sollen uns nichts aus Besitztümern machen, denn nur die Familie ist wichtig. Nach vorne blicken, nie zurück. Und nie etwas oder jemanden zu lieb gewinnen, denn das wird der Feind gegen einen verwenden. Was sie einem nicht sagen, ist, dass der Feind manchmal die Familie mit einschließt. »Willst du denn gar nichts aus deiner alten Wohnung hierher bringen?«, fragte ich Molly. Sie schüttelte träge den Kopf. »Ich habe meinen magischen iPod, voll mit meiner Lieblingsmusik. Unendliche Kapazität, keine Batterien, die leer werden können, und ich kann jede Melodie aus jeder beliebigen Zeit reinkriegen. Er kann sogar an Karaokeabenden zweistimmig mit mir singen. Aber das war es auch schon, ehrlich. Ich habe mir nie viel gemacht aus … Sachen. Sachen kann man immer mehr bekommen. Mit meiner Zauberei habe ich Betteln, Borgen und Beklauen zu einer Kunstform erhoben.« »So«, sagte ich. »Wie findest du das Zuhause der berüchtigten Drood-Familie, jetzt, wo du eine Zeit lang hier gewesen bist? Hält es, was du dir davon versprochen hast?« »All das und mehr«, antwortete Molly. »Es ist zweifellos … beeindruckend.« »Es gefällt dir nicht!«, sagte ich und war selbst überrascht, wie enttäuscht ich mich anhörte. »Sei nicht verärgert, Süßer«, meinte Molly. Sie kam herüber und schlang einen Arm um meine Hüfte. »Es ist einfach nicht mein Ding, das ist alles. Ich komme mir eingesperrt vor, bedrückt. Das ist immer so, wenn ich mich drinnen aufhalte. Ich bin der Geist der wilden Wälder, schon vergessen? Ich brauche Natur, offenes Gelände und Raum zum Atmen! Nicht all dieses tote Holz und den kalten Stein.« »Aber gegen Hotels hast du nichts einzuwenden.« »Nur weil ich weiß, dass ich sie jederzeit verlassen kann, wenn mir danach ist. Hier stecke ich fest mit dir. Nicht, dass ich nicht bei dir sein wollte. Das nicht, ganz und gar nicht, aber …« »Wir haben doch weitläufige Parkanlagen«, sagte ich. »Du könntest den ganzen Tag und die ganze Nacht darin herumspazieren und immer noch nicht alles sehen, was es zu sehen gibt. Und du weißt auch, dass ich dich nicht hier halten wollte, wenn du unglücklich wärst.« »Natürlich weiß ich das, Eddie!« Sie gab mir einen schnellen Kuss. »Das hat jetzt alles ganz anders geklungen, als ich es meinte. Ich will mit dir zusammen sein, und du musst hier sein. Das weiß ich.« »Wir werden nicht immer hier sein müssen. Sobald der neue Rat bereit ist, die Leitung der Dinge zu übernehmen, werde ich mich zum Frontagenten degradieren und so schnell hier raus sein, dass jeder, der mir dabei zusieht, sich ein Schleudertrauma zuzieht.« »Aber wie lang wird das dauern, Eddie?« »Ich weiß es nicht. Es wird so lange dauern, wie es dauert. Molly …« »Scht! Ist schon gut. Wir werden uns etwas einfallen lassen.« »Ja«, sagte ich, »das werden wir.« Und die ganze Zeit, in der ich sie festhielt, dachte ich: Wenn sie nicht hierbleiben könnte … Wenn sie ginge, würde ich mit ihr gehen? Und aus der Ferne zusehen, wie meine Familie sich zerfleischt? Die Zukunft der gesamten Menschheit aufs Spiel setzen, weil ich meinen Job nicht zu Ende gebracht habe? Würde ich die Welt der Verdammnis überantworten, nur um bei ihr zu sein? Würde ich das tun? Könnte ich das tun? Am Ende ließ sie als Erste los und ging zum Bett, um in dem Handspiegel, der auf dem Nachttisch lag, den Zustand ihres Make-ups zu überprüfen. »Also«, sagte sie aufgeräumt. »Was ist das für eine Geschichte mit dem Zeitzug?« »Ich hatte gehofft, du hättest es vergessen«, stöhnte ich. »Ist es wirklich eine Zeitmaschine?« »O ja. Oder besser, so was in der Art. Es begann als das Lieblingsprojekt von jemandem. Früher oder später kriegt jeder Waffenmeister einen Fimmel für irgendwas: irgendeine Lieblingstheorie, eine großartige Idee. Irgendetwas, von dem er überzeugt ist, dass es seinen Namen innerhalb der Familie unsterblich machen wird - wenn er nur seine Matriarchin davon überzeugen kann, es zu finanzieren. Einer war sich sicher, dass er eine Bombe bauen könnte, die so wirkungsvoll wäre, dass man damit die ganze Welt in die Luft jagen könnte.« »Wie ging es weiter?«, fragte Molly fasziniert. »Als die Matriarchin ihn nicht dazu bringen konnte einzusehen, was für eine ausgesprochen miese Idee das war, musste sie ihn in den Scheintod versetzen.« »Warum hat sie ihn nicht einfach getötet?« »Weil wir vielleicht eines Tages eine Bombe brauchen könnten, die so wirkungsvoll ist, dass sie die ganze Welt zerstören kann.« Molly schauderte. »Deine Familie kann manchmal richtig gruselig sein, Eddie. Also ist der Zeitzug eine dieser fixen Ideen, richtig?« »So ziemlich. Ich glaube nicht, dass wir das Ding in den zwei Jahrhunderten seit seiner Konstruktion ein Dutzend Mal benutzt haben.« »Wieso nicht?«, wollte Molly wissen. »Ich meine, ich kann mir ein Dutzend wirklich guter Verwendungszwecke für eine Zeitmaschine vorstellen, von denen jeder einzelne uns unglaublich reich machen könnte.« »Ich dachte, du machst dir nichts aus Materiellem?« »Hier geht es ums Prinzip!« »So einfach ist es nicht«, erklärte ich. »Die Möglichkeiten für echt fürchterliche Schlamassel, Katastrophen, Desaster und Paradoxien sind so zahlreich, dass keiner darüber nachdenken kann, ohne Albträume zu bekommen. Frag mich erst gar nicht, wie der Zeitzug funktioniert, sonst fange ich an zu wimmern! Zeitreisen in Theorie und Praxis verursachen mir Kopfschmerzen. Tu mir einen Gefallen, Molly, und wechsle nochmal das Thema!« »In Ordnung. Lass uns über die Personen sprechen, die wir als Tutoren herbringen wollen. Und zieh nicht so ein Gesicht, Eddie Drood! Der Wind könnte wechseln, und dann hast du den Salat! Du weißt, dass wir das bereden müssen.« »Nur weil meine Auswahl zweckmäßig und vernünftig war und du zwei Monster ausgesucht hast!« »Sie sind keine Monster! Oder wenigstens nicht die ganze Zeit über. Und überhaupt, Eddie, zweckmäßig und vernünftig? Na ja. Janitscharen Jane hat einen guten Ruf als Kämpferin, besonders wenn sie ein paar Drinks intus hat, aber seien wir doch mal ehrlich: Ihre Blütezeit hat sie lange hinter sich.« »Sie ist eine langjährige Dämonenbekämpferin!«, hielt ich ihr entgegen. »Hast du eine Ahnung, wie selten das ist? Sie tötet schon länger Dämonen, als die meisten Dämonenbekämpfer überhaupt leben! Es gibt vieles, was sie uns beibringen könnte. Falls wir sie überreden können, hierher zu kommen.« »Na schön, aber was ist mit dem Blauen Elfen?« Molly zog ein verdrießliches Gesicht. »Er ist schwach, Eddie, und wird es immer sein. Und er stellt ein Risiko dar: Er ist ein Halbelb, und einem Elb kann man nie trauen! Sie haben immer eigene Pläne. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede!« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Bist du gerade dabei, mir von einem weiteren alten Freund zu erzählen?« »Ein Elb? Bitte!« Molly schauderte theatralisch. »Vorher würde ich sie mir zunähen!« »Wenn ich dieses unerwartete geistige Bild einmal entschlossen beiseiteschieben dürfte«, sagte ich. »Meine Auswahl ist vertretbar. Deine ist völlig unakzeptabel. Ich meine, komm schon - ein Psychokiller und eine Glücksvampirin?« »Sie waren mir immer gute Freunde«, erwiderte Molly unbeirrt. »Und sie können deiner Familie von einer Welt erzählen, von der sie nichts weiß. Warst du es nicht, der gesagt hat, dass diese Welt nicht nur aus Guten und Bösen besteht? U-Bahn Ute und Mr. Stich können deiner Familie eine ganz neue Sicht auf die Dinge ermöglichen. Das ist es doch, was du wolltest, oder? Die enge Weltanschauung der Droods weit aufzubrechen und ihnen neue Arten des Denkens beizubringen? So, wie ich es mit dir gemacht habe?« »Na ja, schon, aber …« »Kein Aber! Sie werden hervorragende Tutoren abgeben - solange man ein wachsames Auge auf sie hat. Und vielleicht werden sie sogar hervorragende Kämpfer in unserem bevorstehenden Krieg gegen die Dämonen.« »Wenn Mr. Stich ein Mädchen auch nur auf eine Art ansieht, die mir nicht gefällt, werde ich ihn töten!«, versprach ich. »Du kannst es versuchen«, meinte Molly. »Und verlass dich drauf, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit werde ich diesen Roger Mist-Morgenstern töten! Ich hätte nie zulassen dürfen, dass er in dein Zuhause kommt. Es ist mir egal, was er sagt oder wer für ihn bürgt; seine oberste Loyalität wird immer der Hölle gelten.« »Keine Angst«, sagte ich. »Er wird nicht lange hier sein. Die Familie gestattet es nicht, dass Außenstehende ins Herrenhaus ziehen.« »Ich bin eine Außenstehende«, wandte Molly ein. »Aber du bist mit mir zusammen. Wir sind ein Paar, bewohnen gemeinsam ein Zimmer. Solche Sachen werden … akzeptiert, wenngleich offiziell missbilligt - vorausgesetzt dein Rang ist hoch genug, um damit davonzukommen.« »Je mehr ich über deine Familie lerne, desto weniger mag ich sie«, stellte Molly fest. »Siehst du?«, meinte ich. »Wir haben so viel gemeinsam! Komm, lass uns eine Weile aus dem Haus verschwinden, fort von der verdammten Familie und ihren Anforderungen!« »In Ordnung«, stimmte Molly zu. »Lass uns die Tutoren für uns gewinnen! Sie werden alle etwas Überzeugungsarbeit brauchen, um hierher zu kommen, und wer kann überzeugender sein als wir?« »Ganz recht«, sagte ich. »Ich muss nur noch kurz bei Harry vorbeischauen, bevor wir gehen. Ich will unmissverständlich klarstellen, was mit ihm passieren wird, falls er versucht, die Familie gegen mich aufzuhetzen, während ich weg bin.« »Glaubst du wirklich, ein paar harte Worte werden ihn von irgendetwas abhalten?«, fragte Molly. »Nein, aber hoffentlich überlegt er es sich dann zweimal, und bis dahin müssten wir wieder zurück sein. Insbesondere werde ich ihn daran erinnern, dass ich ein Torques habe und er nicht.« Molly betrachtete mich nachdenklich. »Beabsichtigst du, ihm einen der neuen Torques zu geben?« »Selbstverständlich«, entgegnete ich. »Er ist James' Sohn und selbst ein hervorragender Frontagent; die Familie braucht erfahrene Männer wie ihn. Aber ich denke nicht, dass ich ihm das gerade jetzt sagen werde.« »Und was, wenn er dich, nachdem er seinen Torques bekommen hat, zu einem Zweikampf um die Führerschaft der Familie herausfordert? Was, wenn er sich nicht einmal die Mühe macht, eine Herausforderung auszusprechen, sondern dich einfach aus dem Hinterhalt überfällt?« »Oh, dass er das machen wird, glaube ich nicht.« »Und wieso nicht? Er treibt sich mit einem Höllengezücht herum!« »Schon, aber er ist ein Drood. Die Familie würde niemals jemanden, der derart verschlagen ist, als Anführer akzeptieren, und das weiß er.« Molly seufzte. »Du hast ein solches Vertrauen in die Familie, Eddie; selbst nach all den Dingen noch, die sie dir angetan haben.« »Die Droods sind gute Menschen, im Grunde ihres Herzens. Wir alle werden von Kindesbeinen an darin ausgebildet, den guten Kampf zu kämpfen. Wir sind bloß … vom Weg abgekommen, das ist alles. Und Harry hat wirklich einen ausgezeichneten Ruf; wenn er seine Sache als Anführer besser machen kann als ich, dann soll er ruhig. Ich würde nur zu gern verzichten und meinen alten Job als Frontagent wieder ausüben und niemandem gegenüber verantwortlich sein außer mir selbst.« »Du meinst, er würde dich gehen lassen?« Ich grinste. »Das wird er, wenn er weiß, was gut für ihn ist.« Molly lachte und drückte mich fest an sich. »Das ist mein Eddie! Du könntest der mächtigste Mann auf der Welt sein und die mächtigste Organisation auf der Welt leiten, und du würdest es tatsächlich alles aufgeben, stimmt's?« »Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit«, sagte ich. »Ich habe den ganzen Kram hier nie gewollt; ich hatte schon immer meine Probleme mit Autoritätspersonen und wollte bestimmt nie eine sein. Alles, was ich will, bist du und ein gemeinsames Leben für uns beide.« Sie küsste mich und schob mich dann weg. »Geh und rede mit Harry; ich werde derweil einen Spaziergang in den Anlagen machen. Wo sollen wir uns treffen?« »In der Waffenkammer, in einer Stunde«, sagte ich. »Wenn wir hinter Janitscharen Jane, dem Blauen Elfen, U-Bahn Ute und Mr. Stich her sind, dann möchte ich wirklich gut bewaffnet sein.« Ich schaute kurz beim Seneschall vorbei, nur um mich zu vergewissern, dass Harry auch dort gelandet war, wo er sein sollte: in Onkel James' altem Zimmer. Der Seneschall weiß immer, wo jeder ist; das ist Teil seiner Arbeit. Er bestätigte, dass der Neuankömmling sich tatsächlich im alten Zimmer des Grauen Fuchses befand. Das schien er angemessen zu finden, aber ich merkte, dass etwas anderes ihn ärgerte. »Etwas scheint dich zu stören, Seneschall«, sagte ich. »Bist du nicht damit einverstanden, dass Harry endlich heimgekehrt ist?« »Er scheint ein recht angenehmer Gentleman zu sein«, erwiderte der Seneschall bedächtig. »Aber sein … Begleiter - das ist etwas anderes. Hätte nie gedacht, dass ich den Tag erlebe, wo die Familie zulässt, dass sich ein Höllengezücht unter unserm Dach aufhält!« »Harry verbürgt sich für ihn«, sagte ich. »Das ist sein gutes Recht. Aber lass dich nicht davon abhalten, ein sehr wachsames Auge auf alles zu haben, was Roger Morgenstern veranstaltet solange er hier ist.« Der Seneschall nickte. »Als ob ich dich bräuchte, um mir das zu sagen, Junge!« »Werd' nicht übermütig, Cyril! Was kannst du mir über Harry erzählen?« »Nichts, was du nicht schon wüsstest.« »Mein Onkel James hat nie mit dir über ihn gesprochen?« »Nein. Hat er nie. Der Graue Fuchs hat sich nie über seine Beziehungen außerhalb der Familie unterhalten.« »Hast du James' Frau, Melanie Blaze, irgendwann einmal kennengelernt?« Um den Mund des Seneschalls zuckte kurz etwas, das man beinahe für ein Lächeln hätte halten können. »Ich hatte die Ehre, dieser Dame bei ein paar Gelegenheiten zu begegnen. Eine überaus bemerkenswerte Persönlichkeit.« Ich wartete, aber das war alles, was er zu sagen hatte. Ich nickte dem Seneschall zu, und er drehte sich um und ging energisch weg. Achselzuckend machte ich mich auf den Weg durch die gewundenen Korridore des Westflügels zum ehemaligen Zimmer von Onkel James. Als ich jünger war, hatte ich viel Zeit dort verbracht, und seine Gesellschaft genossen, wenn er sich zwischen zwei Aufträgen zu Hause ausruhte. In vielerlei Hinsicht war er der Vater gewesen, den ich nie gehabt hatte. Ich war wie ein Sohn für ihn, aber weshalb hatte er dann nie über seinen richtigen Sohn, Harry, mit mir gesprochen? Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich nicht daran dachte, anzuklopfen, sondern einfach die Tür öffnete und hereinplatzte, wie ich es immer gemacht hatte, als es noch Onkel James' Zimmer gewesen war. Und dann blieb ich wie vom Blitz getroffen stehen, als ich Harry Drood und Roger Morgenstern sah. Sie lagen sich in den Armen. Sie küssten sich. Sofort lösten sie sich voneinander und starrten mich, Schulter an Schulter, unfreundlich an. Ohne Hast drehte ich mich um und schloss sorgfältig die Tür. »Ihr solltet euch wirklich angewöhnen, hier eure Tür abzusperren«, sagte ich. »Du hast es gesehen!«, sagte Harry. »Ja«, antwortete ich, »ich habe es gesehen.« »Wirst du es allen erzählen?« »Wieso sollte ich?«, fragte ich. »Das geht niemanden außer euch was an.« »Wenn du die Matriarchin informieren würdest«, sagte Harry langsam, »und die Familie … Du weißt, dass sie mich nie als ihren Anführer akzeptieren würden. In manchen Dingen ist die Familie immer noch sehr altmodisch.« »Das ist ihr Problem«, meinte ich. »Ich schere mich einen Dreck darum. Ist das der Grund, weshalb du nie nach Hause gekommen bist?« Harry und Roger sahen einander an und entspannten sich ein wenig. Harry nahm Rogers Hand und drückte sie beruhigend. »Das ist der Grund, weshalb mein Vater nie mit dir über mich gesprochen hat«, erklärte Harry. »Allerdings hat er oft mit mir über dich gesprochen. Er hatte großes Vertrauen in dich, Eddie. Er sagte, du habest das Zeug dazu, ein ebenso großer Frontagent wie er zu werden. Von mir hat er das nie gesagt, obwohl ich mir solche Mühe gab, ihn zu beeindrucken. Er war alles, was ich immer sein wollte. Aber er ist nie mit der Tatsache klargekommen, dass sein einziger legitimer Sohn schwul ist. Es bedeutete ihm so viel, verstehst du, seine Linie innerhalb der Familie fortzuführen. Und dafür brauchte er ein legitimes Kind. Die Droods haben immer großen Wert auf Blutlinien gelegt. Die Matriarchin hat ihm schon die Hölle heißgemacht, weil er meine Mutter geheiratet hat; du kannst dir vorstellen, was sie gesagt hätte, wenn sie das mit mir jemals herausgefunden hätte. Fairerweise muss man sagen, dass er mich hätte verstoßen können, es aber nicht tat. Es bedeutete jedoch, dass wir uns nie so nahestanden, wie es andernfalls vielleicht gekommen wäre. Und es bedeutete, dass er mir nie erlauben konnte, nach Hause zu kommen. Niemand in der Familie durfte jemals erfahren, dass der berühmte Casanova James Drood einen warmen Bruder gezeugt hatte. Er hatte einen Ruf, an den er denken musste.« »Er hat dich protegiert«, sagte ich. »Ja«, stimmte Harry mir zu. »Aber er hat mich nie akzeptiert.« »Hör zu«, sagte ich, »es ist mir scheißegal, ob du schwul bist oder nicht. Aber ich muss dich das fragen: Wie kann Roger dein … Lebensgefährte sein, wo er gleichzeitig dein Halbbruder ist?« Harry grinste schief. »Wenn es mich nicht stört, dass er ein Höllengezücht ist, wieso sollte mich dann sonst was stören? Wir wussten, dass wir füreinander bestimmt sind, von dem Moment an, als wir uns in diesem furchtbaren kleinen Nachtclub in Paris begegneten.« »Selbst Höllengezüchte haben Herzen«, sagte Roger. »Du stinkst immer noch nach dem Höllenschlund«, sagte ich unverblümt. »Er ist ein Dämon, Harry. Du kannst weder ihm trauen noch irgendeinem seiner Worte. Dämonen lieben niemanden. Sie können nicht.« »Ich bin nur zur Hälfte Dämon«, wandte Roger ein. »Zur Hälfte bin ich auch ein Mensch, und das kann manchmal ausgesprochen lästig sein. Ich verfüge über die ganze normale Bandbreite menschlicher Gefühlsregungen, auch wenn ich vorher noch nie zugelassen habe, dass sie mir in die Quere kommen. Ich war damals mit Absicht in diesem Nachtclub; war geschickt worden, um Harry zu verführen und an James heranzukommen und über ihn schließlich an die Droods. Aber stattdessen sahen wir uns an und es war um mich geschehen. Ich war verliebt, sehr zu meiner Bestürzung. Wir verknallten uns auf der Stelle ineinander und waren seitdem nie mehr getrennt.« »Beklagst du dich etwa darüber?«, fragte Harry liebevoll. »Nein«, erwiderte Roger, »niemals! Aber es bedeutet eben, dass ich nie mehr nach Hause kann. Sie würden es nie verstehen.« »Ich kenne das Gefühl«, tröstete Harry ihn und drückte seine Hand. »Du kannst ihm nicht vertrauen, Harry«, wiederholte ich und gab mir alle Mühe, zu ihm durchzudringen. »Er ist eine Höllenbrut! Sie lügen wie sie atmen; es ist für sie völlig natürlich!« »Ich vertraue niemandem«, sagte Harry mit ausdrucksloser Stimme. »Nicht dieser Familie und am allerwenigsten dem Mann, der meinen Vater ermordet hat.« »Es war kein Mord!«, sagte ich. »Es war ein fairer Kampf. Keiner von uns wollte ihn, aber …« »Jaja«, sagte Harry, »letzten Endes läuft es immer auf die Familie hinaus, nicht wahr? Die Familie und die schrecklichen Dinge, die wir wegen ihr tun. Sag mir wenigstens so viel: Sag mir, dass mein Vater gut gestorben ist!« »Natürlich ist er das«, antwortete ich. »Er kämpfte bis zum letzten Atemzug.« Harry sah mich nachdenklich an, den Kopf leicht schräg gelegt. »Da ist etwas, was du mir nicht erzählst, Cousin Eddie.« »Es gibt viel, was ich dir nicht erzähle«, erwiderte ich ungezwungen. »Ich behalte meine Geheimnisse für mich, und das solltest du auch. Ich werde der Familie nicht verraten, dass du schwul bist.« »Wie ausgesprochen edelmütig von dir!«, warf Roger ein. »Aber je länger ihr beide dableibt, zusammen, desto eher wird jemand zwei und zwei zusammenzählen. Und Händchenhalten sagt natürlich alles.« Harry war einen flüchtigen Blick auf die Hand, die die von Roger hielt, ließ aber nicht los. »Danke für den freundlichen Rat, Cousin Eddie. Und für deine Verschwiegenheit mit Rücksicht auf uns. Ich bin sicher, das ist mehr, als ich von Rechts wegen von dir erwarten dürfte. Aber mach nicht den Fehler zu denken, dass wir jemals Freunde werden!« »Ich werde mich mit Verbündeten zufriedengeben«, sagte ich. »Wir werden einen Weg finden müssen, in den schlechten Zeiten, die uns bevorstehen, zusammenzuarbeiten. Zum Wohl der Familie - und der Welt.« »Oh, aber sicher«, meinte Harry. »Alles für die Familie.« Kapitel Fünf Kommen zwei junge Seehunde in einen Klub Ein Besuch beim Waffenmeister der Familie ist immer eine interessante Erfahrung - und oft eine ausgezeichnete Gelegenheit zu testen, wie gut die Reflexe sind. Immer geht irgendetwas Lautes und Lärmendes vor sich, normalerweise explosiver Natur, und wie fruchtbar der Besuch für einen selbst ist, kann von der Fähigkeit abhängen, sich blitzschnell zu ducken und in Deckung zu werfen. Als ich also der Waffenkammer - die tief ins Grundgestein unter dem Herrenhaus eingelassen ist, damit wenigstens der Rest der Familie vor den schrecklichen Folgen geschützt ist, wenn, was unausweichlich ist, mal etwas richtig danebengeht - einen Besuch abstattete, war meine erste überraschte Feststellung, wie ruhig und friedlich alles zu sein schien. Die Waffenkammer ist im Wesentlichen eine lange Reihe miteinander verbundener Steingewölbe, zum Bersten angefüllt mit Apparaturen, Werktischen und Versuchsbereichen. Und einer eigenen angrenzenden Krankenstube, nur für alle Fälle. Der Ort wirkte leidlich betriebsam. Praktikanten in fleckigen Laborkitteln drängten sich um Computer und mit Kreide gezeichnete Drudenfüße und schwatzten angeregt miteinander, während sie neue, furchtbare Dinge entwarfen, um sie auf die Feinde der Menschheit loszulassen. Ein junger Mann mit frischen Brandflecken auf dem Kittel arbeitete emsig an einem tragbaren Blitzgenerator, dieweil ein anderer vorsichtig eine Spraydose testete, die Seuchen in jede beliebige Richtung versprühen konnte. Seinem Aussehen nach zu urteilen hatte er noch Probleme mit dem Rückstoß. Ich ließ ihm reichlich Platz und ging weiter. Als ich kurz darauf zufällig nach oben blickte, sah ich einen Praktikanten mit dem Kopf nach unten über die hohe Steindecke laufen, indem er Stiefel benutzte, die am Stein hafteten. Er winkte denen, die von unten zusahen, fröhlich zu, dann aber rutschte er mit einem Fuß aus dem Stiefel und blieb, bedenklich in dem andern Stiefel baumelnd, an der Decke hängen. Er rief herzzerreißend um Hilfe und eine andere Praktikantin, der - wie ich inbrünstig hoffte, nur vorübergehend - Fledermausflügel aus dem Rücken wuchsen, flatterte hinauf, um ihm zu helfen. Unterdessen standen ein halbes Dutzend Praktikanten mit dem gleichen Gesicht in einem engen Kreis zusammen und stritten erbittert darüber, wer das Original und wer die Klone waren. Ein Bursche hockte kichernd in einer Glaspyramide, während ihm ein endloser Strom von Schmetterlingen aus der Nase flog. Im Grunde also ein ganz normaler Tag in der Waffenkammer. Aber warum wirkte der ganze Ort dann so … gedämpft? Wo waren die plötzlichen Flammenschläge und Wolken giftiger Gase, die sonst in der Luft schwebten? Ich schritt durch die Waffenkammer, stieg achtsam über Klumpen farbkodierter Drähte - und ab und an ein explodiertes Versuchstier hinweg - und entdeckte schließlich den Waffenmeister selbst, der, wie üblich, gebückt über einem Arbeitstisch saß. Er bastelte an irgendeinem neuen Gerät herum und versuchte, es mittels einer Kombination aus Geschicklichkeit, Genialität, Herumkommandieren und unflätiger Sprache dazu zu bringen, das zu tun, was es sollte. Er wandte sich um, als ich mich neben ihn setzte, und schnaubte laut. »Das ist alles deine Schuld, weißt du das? Diese ganze unnatürliche Ruhe und Stille. Es ist das Fehlen der Torques; das macht meine Praktikanten viel zu vorsichtig. Seit sie angefangen haben, sich über die Folgen Gedanken zu machen, kriege ich keine richtige Arbeit mehr von ihnen! Wir brauchen hier unten diese neuen Torques, Eddie!« »Dann sorgt dafür, dass die Liste fertig ist, wenn ich zurückkomme«, sagte ich geduldig. »Ich werde mich darum kümmern, dass jeder, der einen braucht, auch einen bekommt.« Der Waffenmeister sah mich scharf an. »Zurückkommen? Was meinst du damit, zurückkommen? Du willst doch nicht etwa schon wieder fort? Du warst noch keine zehn Minuten zu Hause!« »Ich finde, meine Familie kann man am besten in homöopathischen Dosen würdigen«, erklärte ich feierlich. »Naja, nun, da mag was dran sein«, räumte der Waffenmeister ein. »Aber wenn die Katze aus dem Haus ist, wirst du vielleicht feststellen müssen, dass die Ratten ganz schön anmaßend werden. Es sind allein deine Anwesenheit und dein Beispiel, die den Zusammenhalt der Familie in diesen schwierigen Zeiten gewährleisten. Und jetzt, wo Harry wieder da ist …« »Mach dir wegen Harry keine Gedanken«, sagte ich. »Mit dem werde ich fertig, wenn ich muss.« »Na prima!«, meinte Molly, die zu uns geschlendert kam und dabei eine herumstreunende Dronte aus dem Weg trat. »Heißt das, dass wir jetzt nicht mehr nett zu Roger sein müssen und es mir freisteht, ihn auf langsame, scheußliche und innovative Weisen zu töten?« »Du kannst schon einen Groll hegen, was?«, sagte ich. »Du hast ja keine Ahnung!«, erwiderte Molly. »Ich erzählte Onkel Jack gerade, dass wir gehen und ein paar alte Freunde besuchen«, sagte ich. »Bist du so weit?« »Na klar! Und du?« »Noch nicht ganz.« Ich wandte mich wieder an den Waffenmeister. »Wir könnten dabei ein paar von deinen neuesten Spielereien und schmutzigen Tricks gebrauchen. Was hast du auf Lager?« »Ah!«, sagte der Waffenmeister, und seine Miene hellte sich auf. Er war immer am glücklichsten, wenn er über neue Methoden von Mord und mutwilliger Zerstörung sprechen konnte. »Ich könnte da tatsächlich ein paar neue Sachen haben, die euch begeistern und erschauern lassen dürften und die nur darauf warten, von einer wackeren Seele einem Feldversuch unterzogen zu werden -« »Augenblick mal!«, fiel ihm Molly ins Wort, wobei sie ihm über die Schulter guckte. »Was ist das, woran du da gerade arbeitest?« Er machte ein finsteres Gesicht. »Es sollte eigentlich explodieren, und das tut es nicht!« Er nahm einen großen Gummihammer und schlug damit auf das schwarze Gehäuse vor ihm. Molly und ich zuckten beide zusammen, und ich entwand dem Waffenmeister den Hammer und deponierte ihn sicher außerhalb seines Zugriffs. Seine Miene verfinsterte sich noch weiter. »Man muss Technologie lehren, einen zu respektieren! Sie muss wissen, wer das Sagen hat!« »Du kannst es ja später nochmal versuchen«, beruhigte ich ihn. »Wenn wir beide fort und außer Reichweite sind. Und jetzt erzähl mir von deinen neuen Spielereien!« »Tja, also … Zuerst solltest du besser das hier haben.« Er holte ein schweres Bündel handbeschriebener Blätter aus seiner Schreibtischschublade und reichte es mir. »Das ist deine Bedienungsanleitung für Merlins Spiegel. Lass sie sonst keinen sehen! Ich habe alles handschriftlich niedergelegt, damit es keine Aufzeichnung im Computer darüber gibt. Etwas so Mächtiges muss streng vertraulich behandelt werden.« »Das sind über vierzig Seiten!«, wandte ich lahm ein. »Und es kommen noch mehr«, sagte der Waffenmeister. »Das verdammte Ding steckt voller Extraoptionen, von denen ich viele nicht völlig verstehe. Noch nicht. Typisch Merlin; er konnte nicht einfach den Spiegel machen, um den er gebeten worden war - nein, er musste angeben. Was du da in Händen hältst, sind nur die Optionen, die ich bisher identifiziert habe, zusammen mit den aktivierenden Worten. Und komm nicht auf die Idee, herumzuexperimentieren, Eddie: Das Ding steckt für den Unvorsichtigen wahrscheinlich voller Fallstricke. So hätte ich es jedenfalls konzipiert. Und es heißt, dass Merlin Satansbrut für seinen seltsamen und unschönen Sinn für Humor berühmt war.« »Bist du sicher, dass er kein Drood war?«, fragte ich, während ich rasch durch die Seiten blätterte. »Pass jetzt auf, Eddie! Die zwei nützlichsten Optionen sind die hier: Der Spiegel kann in der Gegenwart überallhin sehen, ebenso in der Vergangenheit und in der Zukunft. Er kann auch als Tür für einen direkten Transport zu jedem Ort auf der Welt benutzt werden. Erzähl ihm nur, wo du hin willst, zieh ordentlich am Rahmen, bis er groß genug ist, und tritt dann hindurch.« Ich gab es auf mit den Seiten, faltete sie säuberlich zusammen und stopfte sie in eine Innentasche meiner Jacke. »Danke, Onkel Jack. Ich bin sicher, das wird sehr hilfreich sein. Aber ich hatte eigentlich auf etwas ein bisschen Aggressiveres gehofft.« »Moment mal!«, mischte Molly sich ein. »Wenn der Spiegel uns Szenen von absolut überall in der Gegenwart zeigen kann - dann können wir ihn benutzen, um Leute in der Dusche nachzuspionieren oder auf der Toilette! Vielleicht kann man sogar belastende Fotos machen! Die Möglichkeiten für Erpressungen sind unendlich!« »Deine Hexe sollte mal aus den Wäldern kommen«, murmelte der Waffenmeister. »Lass es uns ausprobieren!«, forderte Molly mich auf. »Komm schon, du weißt, dass du's willst!« Ich nahm den silbernen Spiegel aus der Tasche und wog ihn nachdenklich in der Hand. »Ich nehme an, wir sollten ihn erproben, im Geiste wissenschaftlicher Forschung. Nur um uns zu vergewissern, dass er auch das kann, was er eigentlich sollte.« »So ist es recht, Junge!«, sagte der Waffenmeister fröhlich. Ich seufzte. »Ihr beide habt einen ganz schlechten Einfluss auf mich!« Ich gebrauchte die aktivierenden Worte und befahl dem Spiegel, mir zu zeigen, was die Matriarchin machte, genau in diesem Augenblick. Molly und der Waffenmeister drängten sich zu beiden Seiten an mich, und wir starrten hinein. Unsere Spiegelbilder wurden undeutlich und verschwammen und wurden dann plötzlich von einer Ansicht des Schlafzimmers der Matriarchin ersetzt. Es war, als ob wir von irgendwo in der Nähe der Tür zuschauten, ungesehen und ungeahnt. Martha saß jetzt auf einem Stuhl neben dem Bett und beachtete Alistair nicht mehr, der auf die Decke starrte und leise, träumerische Laute von sich gab. Wahrscheinlich war eine starke Dosis von irgendwas in der Suppe gewesen. Das Schlafzimmer der Matriarchin war immer noch voller Freunde und Anhänger, aber jetzt hatte sie neue Gäste: Harry und den Seneschall. Ich war nicht wirklich überrascht, einen der beiden hier zu sehen: Harry, weil er Unterstützung brauchte, wenn er eine neue Machtbasis innerhalb der Familie errichten wollte, und den Seneschall, weil ich immer gewusst hatte, in welche Richtung seine Sympathien gingen, schon bevor ich ihn in meinen Inneren Zirkel eingeladen hatte. Halte deine Freunde in deiner Nähe, aber deine Feinde noch näher, besonders wenn sie der Familie angehören. Kein Roger allerdings. Vermutlich hoffte Harry, dass aus den Augen aus dem Sinn bedeutete. Wir drei starrten in den Handspiegel, sahen zu und lauschten schweigend, während die Stimmen im Zimmer aus weiter Ferne deutlich zu uns drangen. »Hallo, Großmutter!«, sagte Harry und beugte sich vor, um ihre angebotene Hand zu küssen. »Es ist eine Weile her, nicht wahr?« »Es gab Gründe, wie du wohl weißt«, erwiderte die Matriarchin. »Aber jetzt bist du hier, wieder da, wo du hingehörst, und das ist alles, worauf es ankommt. Es ist schön, dich wiederzusehen, Harry. Du hast das Aussehen deines Vaters.« »Und das meiner Mutter, hat man mir gesagt«, antwortete Harry. Die Matriarchin ignorierte das. »Viel hat sich geändert, aber die Bedürfnisse der Familie müssen immer an erster Stelle kommen. Du kannst jetzt der Familie dienen, mehr als du es in deinem selbst auferlegten Exil je getan hast. James war immer mein Lieblingssohn, reich an Macht und Ansehen. Sei du mein Lieblingsenkel, Harry! Gewinne die Kontrolle über die Familie von Edwin, dem Verräter, zurück! Stelle den ordnungsgemäßen Zustand der Dinge wieder her! Und alle alten …, sagen wir Auseinandersetzungen sollen vergeben und vergessen sein.« Harry lächelte. »Das ist der Grund, weshalb ich hier bin, Großmutter.« Ich schaltete den Spiegel mit einem Wort aus, und die Szene wurde von unseren zurückkehrenden Spiegelbildern weggewischt. »Verräterischer kleiner Drecksack!«, sagte Molly. »Hat nicht lang gebraucht, um dir sein Messer in den Rücken zu stoßen, was?« »Ich kann nicht behaupten, dass mich etwas davon überrascht«, antwortete ich und steckte den Spiegel wieder in die Tasche. »Enttäuscht, aber überrascht nicht.« »Willst du, dass ich ihn in etwas Kleines und Ekliges verwandle?« »Ich kann Harry aufhalten«, sagte ich. »Ich muss. Großmutter hält viel von Blutlinien, Kindern und Enkeln und Urenkeln.« »Muss ich das verstehen?«, fragte Molly. »Nein«, sagte ich. »Du und deine Familiengeheimnisse!«, meinte Molly. »Als ob mich das interessierte!« »Ich werde ein Auge auf den verlorenen Sohn haben, bis du zurückkommst«, knurrte der Waffenmeister. »Aber verlass dich nicht darauf, dass ich ihn davon abhalten kann, irgendwelche Dummheiten anzustellen! Ich mag vielleicht Innerer Zirkel sein, aber ich habe nicht mehr die Macht oder den Einfluss, die ich einmal hatte. Niemand hat die mehr. Die ganze Familie ist zersplittert und streitet untereinander darüber, was wir als Nächstes tun und was wir eigentlich sein sollten. Bleib also nicht zu lange weg, Eddie, sonst hast du vielleicht keine Familie mehr, zu der du zurückkehren kannst!« Er schnaubte und wechselte dann demonstrativ das Thema. »Und sei vorsichtig mit diesem Spiegel! Ich versuche immer noch herauszufinden, was seine Schattenseiten sein mögen. Es gibt immer Schattenseiten bei etwas so Mächtigem. Das Wenige, was ich bislang über vergangene Anwendungen des Spiegels herausgefunden habe, stammt von Texten aus der alten Bibliothek. Jacob half mir bei den Nachforschungen, aber er ist verschwunden. Wieder einmal. Ich nehme nicht an, dass du weißt, wo er steckt?« »Ich habe ihn seit dem Zirkeltreffen nicht mehr gesehen«, verneinte ich. »Er verschwand, als Harry aufkreuzte«, bemerkte Molly nachdenklich. »Könnte es da einen Zusammenhang geben?« »Das bezweifle ich«, meinte ich. »Nicht alles, was hier passiert, ist Teil irgendeiner Verschwörung; es sieht nur so aus. Ich hätte Jacob nie ermuntern sollen, seine Kapelle zu verlassen. Ich wollte ihn nur deshalb hier im Herrenhaus haben, weil ich seine Unterstützung brauchte. Er war in der Kapelle immer so viel mehr … beieinander. Dort wusste er, wer er war. Er hat die Kapelle nur verlassen, um mich zu retten.« Der Waffenmeister legte mir eine große, tröstende Hand auf die Schulter. »Und nicht alles Schlechte, was hier passiert, ist deine Schuld, Eddie. Jacob wird wieder auftauchen. Das tut er immer - leider; auch mit Geld und guten Worten könnte man ihn nicht loswerden. Nun zum Spiegel. Ich lasse ein paar meiner Leute die alte Bibliothek durchforsten und nach Erwähnungen des Spiegels oder Merlins suchen. Aber ohne ein Gesamtregister … Es ist ein langwieriger Prozess. Und der derzeitige Bibliothekar ist keine große Hilfe; er wusste nicht einmal, dass die alte Bibliothek existierte, bevor du sie wieder entdeckt hast. Alles, was er jetzt macht, ist durch die Regale zu gehen, Aaah! und Oooh! zu sagen und meine Leute daran zu hindern versuchen, die älteren Texte zu lesen, damit sie sie nicht beschädigen. Idiot! Diese alten Bücher können für sich selbst sorgen. Wahrscheinlich könnte man siedendes Napalm darüberschütten, ohne auch nur Spuren auf ihren Einbänden zu hinterlassen. Manche würden wahrscheinlich zurückschlagen!« »Dann wird es dich vermutlich freuen zu hören, dass einer der Vogelfreien, die ich zurückzubringen plane, unser lang vermisster William Dominic Drood ist«, teilte ich ihm mit. »Er war der beste Bibliothekar, den wir je hatten.« »Verdammt richtig!«, pflichtete der Waffenmeister mir bei, und seine Miene hellte sich wieder etwas auf. »Du hast William gefunden? Gute Arbeit, Eddie! Ich habe diesen Unsinn, dass er die Familie aus niederen Beweggründen verlassen und ein Leben als Vogelfreier vorgezogen hat, nie geglaubt. Ich kannte ihn damals zu der Zeit gut - ein erstklassiger Kopf. Wo hat er all die Jahre gesteckt?« Ich warf Molly einen schnellen Blick zu, ehe ich antwortete, aber es gab keine einfache Möglichkeit, es zu sagen. »William … ist nicht mehr der Mann, der er einmal war, Onkel Jack. Er hatte irgendeine Auseinandersetzung mit dem Herzen, bevor er uns verließ. Und etwas Schlimmes ist ihm passiert. Er hielt sich lange genug beieinander, um unterzutauchen, doch dann erlitt er einen Zusammenbruch. Er hält sich gegenwärtig in einem Sanatorium auf.« »In einer Irrenanstalt?«, fragte der Waffenmeister ungläubig. »Du meinst, er ist verrückt?« »Es ist kein so übler Ort«, sagte Molly schnell. »Man kümmert sich dort ordentlich um ihn. Eddie und ich haben ihn erst vor Kurzem besucht. Er war, na ja, zerstreut, aber für eine Zeit lang auch gut auf Zack. Ich glaube, das Herz hat etwas mit seinem Verstand angestellt. Jetzt, wo es weg ist, werden sich vielleicht auch die Effekte verlieren.« »Ich bin sicher, er wird sich viel besser fühlen, sobald er wieder im Herrenhaus ist«, fügte ich etwas schwächlich hinzu. »Verflucht!«, stieß der Waffenmeister barsch hervor. »Zu Stoßzeiten ist dieser ganze Laden ein Irrenhaus! Er wird perfekt hineinpassen.« »Neue Waffen?«, warf ich ein, denn ich dachte mir, dass das die beste Möglichkeit war, den Waffenmeister auf andere Gedanken zu bringen. Er schnaubte wieder. »Ich weiß nicht, ob ich dir irgendwas von meinem guten Zeug anvertrauen will. Der Bentley ist voller Kratzer zurückgekommen, und dass du mir meine einzigartige Umkehruhr kaputt gemacht hast, habe ich dir immer noch nicht verziehen. Und du hast den besonderen Richtungskompass verloren, den ich für dich angefertigt hatte!« »Lass uns als gegeben annehmen, dass ich unachtsam und undankbar bin und nie etwas zu schätzen weiß, was du für mich tust … und dann weitermachen. Wie wär's damit?«, schlug ich geduldig vor. »Den Repetiercolt habe ich noch, aber ich könnte was Dramatischeres gebrauchen.« »Ich hätte da noch diese Nuklearhandgranate …« »Nein!«, lehnte ich äußerst bestimmt ab. »Na schön, wie wär's dann mit einem tragbaren Schallgenerator, der die Hoden deiner Feinde in Zeitlupe anschwellen und explodieren lassen kann?« »Au ja, bitte!«, sagte Molly. »Verlockend, aber nein«, entschied ich. »Ich würde etwas weniger Auffälliges bevorzugen.« »Du warst auch bei deinem Essen schon immer sehr mäkelig.« »Weitermachen bitte.« »Ich habe da einen Kurzstreckenteleporter, an dem ich herumgebastelt habe«, sagte der Waffenmeister und wühlte in dem Gerümpel herum, das sich vor ihm auf dem Arbeitstisch häufte. »Lässt einen auf der Stelle eine halbe Meile springen, in jede beliebige Richtung. Denk einfach an einen Ort, sprich die Worte, und ab geht's. Lässt sich nicht zurückverfolgen. Und im Gegensatz zu Merlins Spiegel überhaupt nicht aufspüren.« »Das hört sich doch schon besser an«, meinte ich. »Wieso nur eine halbe Meile?« »Weil man bei allem, was darüber hinaus geht, in einer willkürlichen Anzahl von Stücken anzukommen tendiert«, gab der Waffenmeister widerstrebend zu. »Das klingt für mich gar nicht gut«, bemerkte Molly. »Da bist du nicht die Einzige«, sagte ich. »Ach, kommt schon!«, ermunterte uns der Waffenmeister. »Probiert's doch mal! Ah, da ist er ja!« Er hielt ein schlichtes Kupferarmband hoch, hauchte darauf, polierte es am schmuddeligen Ärmel seines Kittels und hielt es mir hin. Es sah sehr nach einem dieser Armreifen aus, die Leute tragen, um Rheumatismus abzuwehren. Der Waffenmeister grinste. »Ich habe schon nach jemandem gesucht, der es im Einsatz für mich ausprobieren könnte. Und betrachtet man mal eure Situation, dann kann es nur von Vorteil sein, plötzlich ganz woanders sein zu können.« »Er ist vielleicht gruselig, aber er hat recht«, meinte Molly. Widerwillig schob ich das Kupferarmband über mein Handgelenk. »Bei meinem Glück kriegt meine Haut sicher Grünspan ab. Und du hast mir immer noch keine anständige Waffe angeboten.« »Du brauchst keine Waffe«, antwortete Molly. »Du hast mich.« »Da hat sie nun wieder recht«, sagte der Waffenmeister. Molly und ich benutzten Merlins Spiegel, um uns zu unserem ersten Ziel zu bringen: dem berüchtigten Sauftempel, dem neutralen Boden und der Lasterhöhle schlechthin - dem Wolfskopfklub. Alles, was ich tun musste, war, an dem silbernen Rahmen des Spiegels zu zupfen und die richtigen Worte zu murmeln, und der Spiegel dehnte sich wie Knetmasse zu Türgröße. Unsere Spiegelbilder verschwanden und wurden von einem schattigen und düsteren Bild unseres Ziels ersetzt. Molly und ich gingen hindurch, und auf einmal standen wir in einer bekannten, aber verlassenen Straße, tief im Herzen des Londoner Stadtteils Soho. Der Spiegel schnurrte zu seiner ursprünglichen Größe zusammen und ich steckte ihn weg. Der Wolfskopfklub ist ein sehr bekannter Treffpunkt für all die seltsamen und ungewöhnlichen Leute dieser Welt. Und für die, die nur mal kurz hier reinschauen. Keiner ist sich wirklich sicher, wo genau eigentlich dieser Klub liegt und das sehr anonyme Management will auch, dass das so bleibt. Es gibt jedoch ein paar Zugänge überall in der Welt, wenn Sie wissen, wo genau Sie zu suchen haben. Und wenn Ihr Name auf der Liste steht. Das ist nicht die Art Klub, in den man hineinkommt, indem man den Türsteher besticht. Entweder sind Sie ein Mitglied im besten Sinne, oder Sie sind tot. Ich sah mich schnell um, ob wir unbeobachtet waren. Die Straße war verlassen, abgesehen von dem üblichen Müllsortiment und einer Hand voll Ratten mit starkem Magen. Das einzige Geräusch war der ferne Autoverkehr. Es war sehr früh am Abend, doch die Schatten waren bereits da, dunkel und undurchdringlich. Die fleckigen Ziegelmauern rundherum waren mit den üblichen Graffitis beschmiert: DAGON ERHEBE DICH ERNEUT!, VAMPIRE SIND SCHEIßE! sowie das deutlich stärker Besorgnis erregende SUPERSEXUELLE DIESER WELT - VEREINIGT EUCH! Ich ging hinüber zur nächsten Wand, sprach die richtigen Worte und in der Wand erschien eine massiv silberne Tür, als würde sie die schwächere Realität auf der anderen Seite auffangen wollen. Das solide Silber war übersät mit tief eingravierten Drohungen und Warnungen in angelischer und dämonischer Sprache. Es gab keine Klinke. Ich legte meine linke Hand flach gegen das irritierend warme und schwitzige Silber. Einen Moment später erkannte mich die Tür und ging langsam auf. Ich finde diesen Teil der Prozedur immer ein klitzekleines bisschen beunruhigend. Wenn nämlich Ihr Name nicht auf der Liste steht, beißt Ihnen die Tür sofort die Hand ab. Ich sah zu Molly. »Bitte vergiss nicht, dass mein Name hier Shaman Bond lautet. Wenn dir was anderes rausrutscht, dann könnte das uns beide umbringen.« Sie lächelte mich süß an. »Weißt du, es ist irgendwie niedlich, dass du mich ständig an die Hand nimmst und meinst, mir alles erklären zu müssen. Aber wenn du damit nicht auf der Stelle komplett aufhörst, dann schlage ich dich in die nächste Woche hinein.« »Nach dir«, sagte ich und folgte ihr in den Wolfskopf. Wir kamen in ein heftiges Stroboskoplichtgewitter und eine ausgesprochene Lärmexplosion hinein. Musik spielte, die Leute tranken, tanzten und schlossen in den Ecken Geschäfte ab. Im ganzen Klub war die Hölle los. Grelles Licht badete die dichte Menge in ständig wechselnde Farben und unablässig dröhnte Musik. Molly und ich bahnten uns mithilfe unseres Lächelns, unseres Charmes und der unbedingten Bereitschaft, gewaltsam und unnötig die Ellbogen zu benutzen, einen Weg durch die wogende Menge. Wir gingen zur Hightechbar am anderen Ende des Klubs, einem Art-Deco-Albtraum aus Stahl und Glas, vollständig ausgerüstet mit computerisiertem Zugang zu mehr Arten von Alkohol, als den meisten Leuten als existierend bekannt ist. Sie wünschen ein Strontium-90-versetztes Wasser mit einem Spritzer Jod? Oder einen giftigen Eisenhut-Cocktail mit einem silbernen Schirmchen? Oder vielleicht Engelsurin mit etwas Weihwasser? Dann ist es kein Wunder, dass Sie hier im Wolfskopfklub sind. Gerüchte besagen, dass der Wolfskopfklub seinen ganzen Stolz darein setzt, immer ganz up to date zu sein, wenn nicht sogar noch ein Stück weiter. Die riesigen Plasmabildschirme an der Wand zeigen kurze Einblicke in die Bettgeheimnisse der Reichen und Berühmten, aufgelockert durch die Börsennachrichten von morgen, während Gogo-Girls, die nur ein paar Federreste tragen, in goldenen Käfigen tanzen, die von der Decke herabhängen. Für die, die es mehr mit der Tradition haben, wirbeln Lack-und-Leder-Stripper auf Showbühnen ihre Stahlstangen in die Unterwerfung. Heute Abend feierten einige Satanshuren ihren Junggesellinnenabschied, indem sie einen Line Dance auf einem langen Stahltresen tanzten. Im Wolfskopf findet man alle möglichen Leute - wenn sie Sie nicht zuerst finden, sich auf eine Gaunerei oder einen Krieg vorbereiten oder sich gerade von beidem erholen. Janitscharen Jane trinkt hier zwischen ihren regulären Aufträgen als interdimensionale Söldnerin, weil sie es hier so friedlich findet. Was einem eine Menge über die Orte sagt, an denen sie sich sonst rumtreibt. Ich hatte sie noch nicht entdeckt oder auch nur die lautmalerischen Schreie und Schüsse, mit denen sie ihre Geschichten so gern ausschmückt, also stellte ich mich mit Molly an die Bar. Der Barkeeper kam langsam und ohne Eile zu uns herüber. Ich habe mir nie die Mühe gemacht, mir seinen Namen zu merken. Hinter der Bar sind immer rund ein Dutzend, und alle sind Klone. Oder Humunkuli. Oder etwas noch Irritierenderes. Er nickte uns beiden familiär zu. »Hallo, Molly, Shaman, ist schon 'ne Weile her. Das Übliche?« Ich nickte und er beschäftigte sich mit einer beeindruckenden Sammlung von Düsen und Schläuchen hinter der Bar, bevor er mir ein Beck's und Molly einen Bucks Fizz in die Hand drückte. (Molly glaubt, dass der Orangensaft darin gesund ist.) Ich war erleichtert, dass mein Tarnname hier drin noch etwas taugte. Soweit es die Menge hier im Wolfskopf betraf, war ich einfach Shaman Bond, ein kleiner Schmalspurgauner und Bekannter, mehr nicht. Ich hatte viel Zeit und Mühe in meine Tarnidentität investiert, und das nicht nur, weil die Droods sich nicht gerade großer Beliebtheit erfreuten. Im Wolfskopf war ich niemand Wichtiges, niemand Besonderes, und nichts wurde von mir erwartet. Was wirklich befreiend war. Besonders jetzt. Zu Hause, im Herrenhaus, hasste, verehrte oder fürchtete mich ein Großteil meiner Familie. Oder irgendeine Kombination aus den dreien. Edwin Drood war zur wichtigsten Person der wichtigsten Organisation der Welt geworden. Aber hier war Shaman Bond nur ein weiteres Gesicht in der Menge. Es war, als hätte jemand ein großes Gewicht von meinen Schultern genommen. Ich lehnte mich mit dem Rücken zur Bar und sah über die wogende Menge hinweg. Ich nickte leichthin zu ein paar Freunden und bekannten Gesichtern hinüber. Harry Famos glitt salbungsvoll durch die Menge und bearbeitete sie mit einem breiten Lächeln und herzlichem Händeschütteln - Ihr besonderer Mann für alle Fälle, die schlecht für Sie sind. Das letzte Mal, als ich ihn hier gesehen hatte, bot er allen schwarz gebrannte DVDs mit Muppet-Filmen aus Parallelwelten an: Citizen Kermit und Miss Piggy auf der Southfork Ranch. Hinten an der Bar konnte ich einen Geist namens Ash sehen, einen Halbgott aus einer nordischen Sage und den Indigo-Schatten, komplett mit Lederkostüm, Cape und Maske. Er nahm sich wohl eine Auszeit von der ewigen Verbrechensbekämpfung. Und schließlich entdeckte ich auch die grimmige Janitscharen Jane selbst, die sich auf der Suche nach einer nicht angebrochenen Flasche Whiskey mit den Schultern voran einen Weg durch die Menge an die Bar bahnte. Einer der Barkeeper wartete schon mit dem Gewünschten auf sie. Sie riss ihm die Flasche aus der Hand und trank den billigen Fusel, ohne sich die Mühe zu machen, ihn in ein Glas zu füllen. Sie sah ganz nach dem Soldaten aus, der sie auch war: groß und kräftig gebaut mit muskulösen Oberarmen, einem stocksteifen Rücken und raspelkurzem, schwarzem Haar, sodass ein Feind im Kampf nicht hineingreifen konnte. Sie war vielleicht einmal hübsch gewesen, aber alles, was davon noch übrig war, waren Narben und Charakter. Ihre Armeekleidung war zerrissen und angesengt und blutbefleckt, und ich wusste, sie würde nach Blut und Rauch und Schwefel riechen. Der Whiskey war tatsächlich ein gutes Zeichen; Gin machte sie rührselig und dann neigte sie dazu, Leute zu erschießen. Meist Leute, die von Rechts wegen erschossen werden sollten, aber es dämpfte eben auch jedes Mal die Partystimmung. Der Wolfskopf hatte allerdings noch nie etwas gegen ihre Gegenwart einzuwenden gehabt. Offenbar glaubten sie, sie verleihe dem Klub etwas Charakter. Ich rief ihren Namen und ihr Kopf fuhr herum, eine Hand fiel auf die Knarre an ihrer Seite. Ich stand sehr still, bis ich sicher war, dass sie mich erkannt hatte. Dann winkte ich sie zu Molly und mir herüber. Sie nahm ihre Hand von der Knarre, nickte kurz und kam zu uns, die Leute, die ihr nicht schnell genug aus dem Weg gingen, mit den Schultern beiseite schiebend. Keiner war so dumm, sie deshalb anzumachen. Immerhin war sie Janitscharen Jane: Dämonenkillerin, erfahrene Kämpferin und völlig durchgeknallte Psychopathin. Sie hielt vor Molly und mir an, begutachtete uns beide ein wenig wie eine Eule und prostete uns dann mit der Whiskeyflasche zu. »Hallo, Jane«, sagte ich leichthin. »Hallo, Shaman«, sagte Janitscharen Jane spitz. Sie war vielleicht das einzige andere Wesen hier im Club, das wusste, dass ich ein Drood war. »Was willst du von mir?« »Ich organisiere eine größere Operation gegen ein paar Dämonen. Ich könnte deinen Rat und deine Expertise gebrauchen. Du kriegst die übliche Bezahlung für die Zeit, plus einen großzügigen Bonus, wenn wir das Ding erfolgreich abschließen.« »Warte mal«, unterbrach Molly. »Wir bezahlen sie?« »Natürlich«, sagte ich. »Sonst würde sie doch nicht kommen. Oder, Jane?« »Ich bin eine Professionelle«, sagte Janitscharen Jane. »Aber für wen genau würde ich denn kämpfen?« »Spielt das eine Rolle?« »Natürlich spielt das eine Rolle!«, erwiderte Jane scharf. »Es gibt Schlimmeres als Dämonen. Sowas wie die Droods zum Beispiel.« »Diesmal nicht«, sagte ich. »Es geht gegen die Abscheulichen und wir werden nicht aufgeben, bis sie entweder komplett ausradiert oder für immer und ewig gebannt sind.« Janitscharen Jane pfiff lautlos und nahm noch einen Schluck aus ihrer Flasche. Sie taxierte mich nachdenklich. »Die Abscheulichen. Das ist … ehrgeizig. Ich hasse Dämonen. Alles Bastarde. Aber Seelenfresser sind das Allerschlimmste. Auf der anderen Seite habe ich ein paar Sachen gehört. Über die Droods. Es heißt, dass ihnen etwas Schlimmes zugestoßen ist. Keiner scheint sicher zu sein, was genau es ist, aber da gibt es Leute, die erzählen herum, dass sie ihre Macht verloren haben.« »Es gibt immer Gerüchte«, sagte ich leichthin. »Alles was du wissen musst, ist: Das Geld ist garantiert. Es ist uns ernst mit den Abscheulichen, Jane. Und wir könnten deine Hilfe gebrauchen.« »Verdammt, ja, das könnt ihr! Die Abscheulichen sind Hardcore-Dämonen. Seelenfresser töten dich nicht einfach nur, sie machen dich zu einem von ihnen.« Sie lächelte ein wenig. »Das will ich auf keinen Fall verpassen. Wenn die Abscheulichen wirklich untergehen, dann will ich diejenige sein, die ihnen die letzten Köpfe einschlägt. Ihr wollt mich, ihr habt mich.« »Großartig«, sagte ich. »Ich muss nur noch ein paar andere Leute fragen, dann nehme ich euch mit nach Hause, um euch den anderen vorzustellen.« Janitscharen Jane hob eine Augenbraue. »Nach Hause? Nach Hause wie in Herrenhaus? Verdammt. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal das Innere des Herrenhauses sehen würde!« »Was treibst du so, Jane?«, fragte Molly jetzt. Sie war etwas beleidigt, weil sie so lange von der Konversation ausgeschlossen gewesen war. »Ach, ich hatte viel zu tun«, sagte Jane. »Ich komme grade aus einem anderen Dämonenkrieg. Um ehrlich zu sein, werde ich langsam zu alt für so was. Aber als ich gefragt wurde, habe ich eben unterschrieben, wie immer. Das Ganze endete schließlich in dieser alternativen Zeitlinie, in der die Technologie so fortgeschritten war, dass sie sämtliche Magie vergessen hatten. Sie dachten, sie machen einfach ein Tor in eine andere Dimension auf - und es stellte sich raus, dass es ein Tor in die Hölle war. Die Dämonen strömten nur so heraus, haben alles in Sichtweite umgebracht und vor Freude über die leichte Beute geheult - und all die Technologie dieser Welt reichte nicht aus, um sie aufzuhalten. Die Sonne wurde schwarz, das Wasser in den Flüssen zu Blut und die Dämonen überzogen die Erde mit all den verschiedenen Arten Horror, die sie so auf der Palette haben. Nirgendwo war es sicher. Es gab keine Kirchen oder heilige Orte. Und Waffen, die nur dazu gemacht sind, Leute umzubringen, töten keine Dämonen. Die Menschheit an diesem Ort hatte all die alten Schutzzauber vergessen. Allerdings haben sie schnell gelernt. Und irgendwie haben sie es geschafft, uns zu rufen. Wir haben unser eigenes Dimensionstor geöffnet und sind rüber, um den Kampf der Guten zu kämpfen. Und um Dämonen zu töten. Ich hasse Dämonen.« »In wie vielen Kriegen hast du schon gekämpft?«, fragte ich ehrlich neugierig. Sie zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Zu viele. Ein paar hab ich gewonnen, noch mehr verloren und währenddessen haben zu viele Freunde ins Gras gebissen. Ich bin viel älter, als ich aussehe, das kommt von den regelmäßigen Erneuerungen. Aber die halten das Gefühl, alt zu sein, nicht auf in dir. Ich hab mal gekämpft, weil ich an meine Sache geglaubt habe. Dann, weil ich Dämonen einfach hasse. Und jetzt tu ich's - weil ich sowas eben tue.« »Trotzdem«, sagte ich. »Ein echtes Höllentor, eine direkte Verbindung zwischen einer materiellen Ebene und der Hölle an sich, das ist selten, oder?« »Aber ja«, sagte Jane. »Oder die Menschheit wäre schon vor langer Zeit ausgelöscht worden. Wir hatten eine ganze Armee von erfahrenen Dämonenkämpfern, Helden und Kriegern und Soldaten, Veteranen aus Hunderten von Kriegen, aber alles, was wir tun konnten, war sterben. Wir hatten die Waffen und die Taktik, aber sie waren in der Überzahl. Ich habe Städte brennen sehen, Berge von abgeschnittenen Köpfen, bin durch Blut und Eingeweide gewatet … aber die Schreie haben nie aufgehört. Schließlich haben sogar die Gesetze der Realität sich geändert, sie wurden von der Gegenwart all der Dämonen einfach verzerrt. Wir haben um jeden Quadratzentimeter Boden gekämpft. Um sie zurückzudrängen, sind wir über die Leichen unserer Kameraden geklettert, nur um uns ihnen nochmal entgegenzuwerfen - und keiner von uns hat es geschafft. Wir töteten und töteten und sie kamen immer noch und haben uns ausgelacht.« Sie hörte auf zu sprechen. Sie hob die Flasche zum Mund, aber ließ sie wieder sinken, als ob sie wüsste, dass das nicht half. Ihre kalten grauen Augen waren weit weg, versunken in Erinnerungen, die sie nicht vergessen konnte, egal wie sehr sie es versuchte. »Was passierte dann?«, fragte Molly schließlich. »Diese Dimension gibt es nicht mehr«, sagte Jane. »Die Dämonen gewannen, also haben wir sie in die Luft gejagt, um die Höllenwesen daran zu hindern, sie als Basis für Invasionen zu benutzen.« Sie lächelte säuerlich. »Um das Universum zu retten, mussten wir es zerstören. Einige Dinge ändern sich nie. Und nur ich bin entkommen, um davon zu erzählen. Spendier mir einen Drink, Shaman. Was Stärkeres.« »Du musst dich uns nicht anschließen«, meinte Molly. »Doch, das muss ich«, sagte Jane. »Ich brauche eine Schlacht, die ich gewinnen kann.« »Ach du liebe Güte, du bist das«, hörte ich hinter mir eine bekannte Stimme sagen. Wir alle sahen uns um und da war der Blaue Elf. Er sah besser aus als das letzte Mal, das ich ihn gesehen hatte, aber das war auch nicht schwierig. Der Blaue Elf war auf dem Zahnfleisch gegangen, physisch und psychisch, und die Figur vor uns war schlanker, fitter und sehr elegant angezogen. Sein Gesicht hatte immer noch einen unglaublich lasterhaften Ausdruck, die paar hübschen Züge beinahe völlig unter den tiefen Falten der Erfahrung vergraben, aber das musste man beim Blauen Elf auch erwarten. Er hatte nie weise gelebt, aber gut, und das sah man. Er zog eine Grimasse bei unserem Anblick, aber besonders zu mir. »Meine halbelbische Natur sagte mir, dass ich heute Abend im Wolfskopf jemanden Wichtiges treffen würde, aber wenn ich gewusst hätte, dass du es bist, dann wäre ich zu Hause geblieben und hätte mich unter der Bettdecke versteckt, bis ich zu zittern aufhöre.« »Du siehst gut aus, Blue«, sagte ich freundlich. »Besonders, wenn ich an das letzte Mal denke, als ich dich gesehen habe. Du hast mit irgendeiner Monstrosität gekämpft, die du in einer anderen Dimension geangelt hast.« Der Blaue Elf zuckte mit den Achseln. »Es hat sich ergeben, dass es genau das war, was ich brauchte. Irgendeine Art von Psycho-Vampir, der meine ganzen Süchte aufgefressen hat. Es ist möglich, dass ich ihn unbewusst angezogen habe.« »Manche Leute haben eben immer Glück«, meinte Molly. »Wohl kaum«, sagte der Blaue Elf. »Dann würde ich euch nicht ständig über den Weg laufen. Wie auch immer, ich habe meine Gesundheit wieder und meinen Stolz und so sehr ich es hasse, es zuzugeben, suche ich nach einer anständigen Arbeit für mich, um mein missbrauchtes Karma etwas aufzupolieren. Da mich mein Schicksal hergeführt hat - ihr braucht nicht zufällig Hilfe?« »Zwei Fliegen mit einer Klappe«, sagte ich. »Ich suche grade eine Truppe zusammen, mit der wir ein für alle Mal gegen die Abscheulichen vorgehen können. Sowas wie ein Familienausflug. Wir könnten deine Hilfe brauchen, Blue.« »Ist die Bezahlung gut?« »Natürlich.« »Na, dann muss es wohl sein.« Der Blaue Elf schüttelte trübsinnig den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass mal der Tag kommen würde, an dem ich deiner berüchtigten Sippschaft mal Schützenhilfe leisten würde.« »Hier bin ich Shaman Bond«, erinnerte ich ihn schnell. Der Blaue Elf war auch einer derjenigen, denen ich auf meiner Flucht letzthin gezwungenermaßen meine wahre Identität hatte enthüllen müssen. Es schien mir, dass es schon viel zu viele gab, die davon wussten, aber so kurz vor dem Keulen überflüssiger Dämonenbestände sah ich keine andere Möglichkeit. »Jaja, das hab ich nicht vergessen. Ich bin nicht ganz sicher, was ich abgesehen von meiner jahrelangen Erfahrung darin, aus alarmierenden Situationen rauszukommen, beitragen kann, aber ich bin dabei.« Molly warf mir einen bedeutsamen Blick über ihre Brillengläser zu und ich wusste, was sie dachte. Du kannst ihm nicht trauen. Er ist halb Elb und einem Elben kannst du nie trauen. Sie haben immer irgendeinen eigenen Plan und hinter dem noch einen anderen. »Hey, hey, hey, seht mal, wen wir hier haben«, sagte eine laute und fröhliche Stimme hinter uns in einem starken russischen Akzent. »Wenn das mal nicht unser alter Freund und Kunde, der Blaue Elf, ist. Du siehst ja aus wie das blühende Leben, muss ich sagen. Großartig, dass ich dich hier treffe, in diesem sehr teuren und hippen Klub, wo du doch so viele Schulden hast.« Wir alle drehten uns um und da standen zwei sehr große Gentlemen vor uns, gekleidet in teure, schwarze Ledermäntel, mit rasierten Köpfen und einem hässlichen Grinsen auf den unangenehmen Gesichtern. Der Blaue Elf warf nur einen Blick auf sie und versuchte sofort, sich hinter mir zu verstecken. »Blue«, sagte ich. »Kennst du diese Jungs etwa?« »Unglücklicherweise ja«, sagte der Blaue Elf. »Darf ich dir die Vodyanoi-Brüder vorstellen? Russische Mafiabrüder, die hier in London die Zelte aufgeschlagen haben, nachdem ihnen in Moskau das Pflaster zu heiß wurde. Ich habe scheißviel Geld von ihnen geliehen, als ich dachte, ich müsste sterben und habe es für Wein, Drogen und zwei sehr hübsche Callboys ausgegeben. Ich dachte echt, ich wäre schon lange tot, bevor die wieder auftauchen, aber unglücklicherweise lebe ich immer noch und das Geld ist immer noch weg. Und diese beiden Gentlemen wollen es wiederhaben. Zusammen mit ganz exorbitant hohen Zinsen.« »Ja wirklich. Sind wir die Vodyanoi-Brüder«, sagte der Schlägertyp auf der linken Seite. »Bin ich Gregor Vodyanoi und habe ich hier kleinen Bruder Sergei Vodyanoi! Und wir sehr gefährliche Leute sind.« »Wirklich sehr gefährliche Leute!«, sagte Sergei und starrte uns alle der Reihe nach an. »Auf mein Wort, das sind wir.« »Zeig ihm, wie gefährlich wir sind, Bruder«, sagte Gregor. Sergei zog eine sehr lange Handfeuerwaffe aus seiner Manteltasche, hielt sie an seine linke Schläfe, zeigte uns allen grinsend seine sehr großen Zähne und schoss sich selbst in den Kopf. Er erbebte von Kopf bis Fuß, aber er fiel nicht. Es gab keine Blutspur, die aus der Wunde an seinem Kopf rann und das Loch schloss sich schnell wieder. Um uns herum zogen sich Leute still zurück. Sergei würgte ein paar Mal, dann spuckte er die deformierte Kugel auf seine Hand. Er zeigte sie uns und Gregor schlug seinem kleinen Bruder stolz auf den Rücken. »Ich denke, ihr stimmt zu, dass wir sind außergewöhnlich gefährlich«, sagte Gregor. »Haben wir jetzt noch die Frage von Geld, das uns gehört. Beträchtliches Geld, mit Zinsen noch mehr. Fällig ist jetzt, jawohl.« »Oder ganz anders«, meinte Sergei. »Wir sind die Vodyanoi-Brüder und niemand legt uns rein.« Der Blaue Elf sah mich an. »Hilfe?« »Ich hätte wissen müssen, dass du mehr Ärger bedeutest, als du wert bist«, knurrte ich. »Ich nehme an, Ratenzahlung kommt nicht infrage?« Ich lächelte die Vodyanoi-Brüder an. »Irgendeine Chance, dass wir das zivilisiert regeln?« »So etwas wir machen nicht zivilisiert«, sagte Gregor. »Schlecht für Geschäft«, sagte Sergei. »Entweder er uns bezahlt oder wir ihn fressen«, sagte Gregor und grinste breit, um seine sehr großen Zähne zu zeigen. »Wenn man arbeitet in unserem Business, ist sehr wichtig, Exempel zu statuieren.« Ich wandte mich zu Molly. »Liebling, hast du was dagegen, wenn ich das erledige?« »Aber ja doch«, sagte Molly, schnippte mit den Fingern und die Vodyanoi-Brüder verschwanden. Statt ihnen hockten zwei kleine, warzige und sehr überrascht aussehende Kröten auf dem Boden. Ich sah Molly vorwurfsvoll an. »Ich hatte an eine finanzielle Lösung des Problems gedacht.« »Dann hättest du das sagen sollen«, meinte sie und nippte an ihrem Drink. Ich schüttelte mit dem Kopf. »Man kann dich wirklich nirgendwohin mitnehmen.« »Ich hasse es, euch in eure Selbstbeweihräucherungsparade reinzufahren«, sagte Janitscharen Jane. »Aber ich habe das Gefühl, dass die Dinge grade echt unerfreulich werden.« Wir alle sahen wieder auf die Kröten unter uns, gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass sie rapide größer wurden, ihre Krötenform abwarfen und in alle Richtungen hin anwuchsen bis plötzlich wieder die Vodyanoi-Brüder vor uns standen und ziemlich angepisst aussahen. Der Blaue Elf versuchte wieder, sich hinter mir zu verstecken. »Das war wirklich gar nicht nett«, sagte Gregor. »Überhaupt nicht nett oder geschäftsmäßig«, sagte Sergei. »Ist wohl an der Zeit, dass wir gefährlich werden, Bruder.« »Furchtbar gefährlich, Bruder.« Und sie wechselten wieder die Form, schossen auf, wurden größer und breiter, ihre Gesichter verlängerten sich zu Schnauzen, ihre schwarzen Mäntel wurden zum silbergrauen Fell von enormen Wölfen. Werwölfe. Sie ragten über uns in die Höhe, nur Zähne und Klauen, mit enormen Muskelpaketen, die sich unter ihrem dicken Pelz wölbten. Sie stanken nach Blut und Tod und der Lust zu töten. Sie knurrten zufrieden und zeigten uns riesige Zähne in ihren langen Kiefern. Ich starrte den Blauen Elf zornig an. »Hättest du uns nicht früher sagen können, dass es sich hier um Formwandler handelt?« »Ihr habt mir keine Gelegenheit dazu gegeben!« »Sprich das nächste Mal einfach schneller!« Ich konnte nicht aufrüsten, ohne dem ganzen Klub meine wahre Identität preiszugeben, also zog ich meinen Spezialcolt und schoss beide Werwölfe mehrfach in den Kopf. Der Aufprall ließ beide schwanken, aber selbst als meine Kugeln ihre langen Schädel zerschmetterten und ihre Wolfsgesichter zerrissen, heilten die Wunden bereits. Der Colt war nicht imstande, vorbeizuschießen, aber er konnte keine silbernen Kugeln abfeuern. Ich machte mir gerade eine gedankliche Notiz, das bei Gelegenheit mit dem Waffenmeister zu besprechen, als ich wieder zu mir kam. Die Vodyanoi-Brüder heulten grimmig, während sie weiter auf uns zukamen, mitten in meinen Kugelhagel hinein. Ich tat ihnen weh, aber das war alles. Der Blaue Elf war bereits unter dem nächsten Tisch verschwunden. Janitscharen Jane zog zwei lange Dolche aus ihren Stiefelschäften. Die gezackten Kanten der langen Klingen leuchteten silbrig. Janitscharen Jane grinste bösartig und ging mitten durch die zwei Werwölfe hindurch, hackte und stach mit diesen sehr fiesen Messern nach ihnen. Blut spritzte durch die Luft, als die Klingen tief ins Fleisch schnitten. Jane täuschte an und duckte sich unter jedem Hieb, den die beiden Wölfe ihr verpassen wollten. Sie tat, was sie am besten konnte und sie tat es hervorragend. Bis schließlich doch einer der Vodyanoi-Brüder sie mit einem festen Schlag traf und Janitscharen Jane in die gaffende Menge warf. Sie schlug auf dem Boden auf und erhob sich nicht mehr. Die Leute wichen jetzt in alle Richtungen zurück, aber nicht so weit, dass sie nicht eine gute Sicht auf das gehabt hätten, was jetzt geschah. Viele begannen bereits, darauf zu wetten, wer gewann; sie jubelten oder buhten je nach Laune. Mittlerweile begannen die Sicherheitsvorrichtungen des Wolfskopfs zu greifen, sprühten die Vodyanoi-Brüder mit Weihwasser aus der Sprinkleranlage ein und trafen sie mit Lasern aus den Lampenfassungen - was die beiden Werwölfe nicht im Geringsten interessierte. Der Klub hatte auch handfestere Maßnahmen in petto, aber ich nahm an, dass das Management sich scheute, diese zu benutzen, solange der Kampf nicht in etwas ausartete, das die ganze Bar gefährdete. Was bedeutete: Meine Freunde und ich waren ganz auf uns gestellt. Molly hatte die Vodyanois jetzt schon eine Weile mit Zaubersprüchen bombardiert, aber sie glitten einfach ab und waren nicht in der Lage, sich an der unnatürlichen, glitschigen Natur der Werwölfe festzuklammern. Der Krötenspruch hatte nur funktioniert, weil er so überraschend kam. Molly hatte es darauf reduziert, Feuerbälle auf sie zu werfen, aber obwohl das silbergraue Fell lichterloh brannte und grausam stank, heilte es sich schnell selbst. Also zog ich Merlins Spiegel hervor, schüttelte ihn zu voller Größe aus, sagte die richtigen Worte, die ihn aktivierten und warf ihn zwischen die beiden Werwölfe. Scharfe Krallen fuhren durch die Luft und gingen haarscharf an mir vorbei. Als ich wieder hochkam, klappte der Spiegel über den nächststehenden Wolf und transportierte ihn sofort zum Polarkreis. Der andere Bruder hörte sofort auf zu toben, völlig perplex, also klappte ich den Spiegel auf ihn und schickte ihn in die Antarktis. Viel Glück, wenn ihr da wegkommen wollt, Jungs! Die Sicherheitssysteme des Klubs schalteten sich sofort ab. Im Wolfskopf breitete sich relative Ruhe aus, während jeder die verlorenen Wetten bezahlte und wieder zu dem zurückkehrte, was er gerade getan hatte. Ich steckte Merlins Spiegel weg und ging nachsehen, was Janitscharen Jane so trieb. Sie saß bereits wieder und untersuchte sich auf Verletzungen. Sie war doch eine taffe Braut. Sie schlug meine hilfsbereit ausgestreckte Hand beiseite und kam ohne Hilfe wieder auf die Füße. »Ich bin okay. Mach nicht so ein Theater, Shaman. Es braucht schon mehr als zwei Import-Werwölfe, um mich umzuhauen. Sie hätten mich sowieso nicht getroffen, wenn ich vom letzten Dämonenkrieg nicht ein bisschen müde gewesen wäre.« »Natürlich«, sagte ich beschwichtigend, aber ich fragte mich - es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der niemand sie getroffen hätte, unter keinen Bedingungen. Vielleicht wurde sie doch langsam alt. Aber auf der anderen Seite wollte ich sie ja nur als Tutorin, nicht als Soldatin. Wir gingen zurück zu Molly, die den Blauen Elf unter seinem Tisch hervorzog. Einer der Barkeeper nickte seinen Dank zu mir herüber. »Gut gemacht, Shaman. Ziemlich nützliches Spielzeug, das du da hast. Wo hast du das her?« »Ebay.« »Na klar«, sagte er. »Woher sonst.« Kapitel Sechs Vier Tutoren und ein Friedhof Janitscharen Jane hatte Armeen von Dämonen in unbeschreiblichen Höllendimensionen bekämpft und der Blaue Elf hatte zahllose Schlachten mit seinen inneren Dämonen ausgefochten - aber beide sahen ausgesprochen besorgt aus, als ich ihnen sagte, dass wir sie allein zum Herrenhaus schickten, während Molly und ich nach weiteren Tutoren suchen würden. Das Heim meiner Familie hat einen ganz bestimmten Ruf, hauptsächlich weil wir das so wollten. Heißt: Gäste sind selten und Unbefugte werden gefressen. Also zog ich schließlich wieder Merlins Spiegel hervor und öffnete ein Tor zwischen einer stillen Ecke im Wolfskopf und der Waffenmeisterei der Familie, um Janitscharen Jane und den Blauen Elf der etwas überraschten Fürsorge des Waffenmeisters zu überantworten. Tatsächlich sah Onkel Jack ausgesprochen perplex aus, als ich Jane und den Elf durch das gähnende Loch schob und schnell wieder schloss, bevor er protestieren konnte. Ich glaube fest daran, dass jeder mit seinen Problemen allein fertig werden muss. Molly sah den Spiegel nachdenklich an, als ich ihn wieder in seine normale Form schüttelte. »Das ist ein wahnsinnig nützliches Ding, Eddie. Mir fallen wirklich viele sinnvolle Verwendungen dafür ein. Was zum Beispiel, wenn wir es zu Hause dafür benutzen würden, einen Schwarm Piranhas in das Bidet der Matriarchin zu transportieren?« Ich musste lächeln. »Deine Ideen sind wirklich die besten, Molly.« »Heißt das ja?« Ich drehte der Bar den Rücken zu und winkte den nächsten Barkeeper heran. »U-Bahn Ute und Mr. Stich - sind die in letzter Zeit hier gewesen?« Der Barkeeper dachte ein wenig nach, während er ein Glas polierte, das es ganz offensichtlich nicht nötig hatte. »Nein. Aber wenn ich so darüber nachdenke, habe ich beide schon lange nicht mehr gesehen. Ein paar Wochen mindestens. Und das ist … ungewöhnlich.« »Das ist es verdammt noch mal wirklich!«, sagte Molly naserümpfend. »Ute hat sich sicher zurückgezogen, nach der Sache mit dem Manifesten Schicksal, aber Mr. Stich? Den bringt doch nichts aus der Ruhe.« »Irgendeine Idee, wo wir nach ihnen suchen sollen?«, fragte ich. »Aber natürlich«, antwortete sie sofort. »Ich habe immer Ideen. Ich bin die Ideenfrau! Lass es krachen, Schätzchen, wir gehen in den Untergrund.« Um genau zu sein, brachte Molly den Spiegel dazu, uns zur U-Bahn-Station Cheyne Walk zu bringen, die eine von U-Bahn Utes Lieblingsplätzen war. Wir traten in die Schatten am Ende des Bahnsteigs und niemand bemerkte das, weil niemand auf irgendjemanden achtet, wenn er auf den Zug wartet. Molly und ich zogen durch mehrere Tunnel und über einige Bahnsteige, bis wir U-Bahn Ute endlich auf einem überfüllten Bahnsteig fanden. Ich hätte sie beinahe nicht erkannt. Eine ältliche, gebeugte Frau, die in Lumpen und Fetzen von Kleidern von der Fürsorge herumlief, schlurfte sie langsam durch die Menge. Die Leute zogen sich zurück, um nicht mit ihr in Kontakt zu kommen. Sie sah aus wie jede andere Obdachlose, die einen um Wechselgeld anbettelt, und sogar Molly musste zweimal hinsehen, bevor sie ihre alte Freundin erkannte. U-Bahn Ute fuhr herum, als Molly sie rief. Dann zuckte sie zusammen und wandte sich ab, als ob sie nicht wolle, dass Molly sah, was aus ihr geworden war. Molly griff nach ihrer Schulter und drehte sie entschlossen zu sich um. Dann schnitt sie eine Grimasse und rieb ihre Hand fest an der Hüfte, um sie zu säubern. Ich machte ihr keinen Vorwurf. Aus der Nähe roch U-Bahn Ute ziemlich ranzig. Molly starrte ihr böse ins schmutzige Gesicht. »Du lieber Gott, Ute, was zur Hölle ist dir denn passiert?«, sagte Molly so geradeheraus wie immer. »Du siehst scheiße aus.« »Wenn das die Hölle ist, dann stecke ich mittendrin«, sagte U-Bahn Ute. »Ach, die alten Witze sind doch die besten. Hallo, Molly, Edwin. Was macht ihr denn hier unten?« »Nach dir suchen«, erwiderte ich. »Na, und da ihr mich jetzt gefunden habt, könnt ihr ja gleich wieder gehen«, meinte U-Bahn Ute bestimmt. »Nicht, bis du uns erzählt hast, was los ist«, sagte Molly im gleichen Ton. U-Bahn Ute seufzte und es klang sehr erschöpft. »Mein Glück hat mich verlassen. Alles davon.« »Aber du bist ein Glücksvampir«, sagte ich. »Warum hast du dir nicht einfach etwas von jemandem anders gestohlen?« Sie warf mir einen langen, gequälten Blick zu. »Wenn es nur so einfach wäre. So wie ich aussehe, ist es schwierig, nahe und lange genug an jemanden heranzukommen, um ein ernsthaftes Quäntchen Glück aus jemandem herauszusaugen. Und außerdem - ach, verdammt, ihr werdet nicht abhauen, bis ihr die ganze, traurige Geschichte gehört habt, oder?« »Natürlich nicht«, sagte Molly. »Dann kommt mit. Hier können wir nicht reden. Nicht vor Zivilisten.« Sie führte uns ans Ende des Bahnsteigs. Jeder sah höflich in eine andere Richtung, als wäre ihre Armut ansteckend. U-Bahn Ute blieb vor einer unauffälligen Tür stehen, auf der »Zutritt für Unbefugte verboten« stand, öffnete das schwere Vorhängeschloss mit einem ausgesprochen schmutzigen Messingschlüssel und führte uns dann in eine Art leere Putzkammer. Sie zog die Tür sorgfältig hinter uns zu und schob mit der Hand die gegenüberliegende Wand fort. Diese öffnete sich plötzlich und gab den Weg in ein weites Gewölbe frei, das nur von einer einzigen Glühbirne erleuchtet wurde, die bei unserem Eintreten aufleuchtete. Es war U-Bahn-Utes Zuhause. Es war wirklich nur ein Loch, ausgestattet mit Abfall, den sie gerettet hatte. Es gab leere Dosen und Plastikflaschen, um Wasser aufzubewahren, Plastikboxen für Überreste von Lebensmitteln und einen Haufen Decken, um darauf zu schlafen. Der Ort sah aus wie einer, an dem Tiere leben. Molly sah sich um, offenbar war sie zutiefst erschrocken. »Ute, was ist passiert? Du bist eine der bekanntesten Glücksvampire von London. Ich dachte, du würdest in dieser herrlichen Wohnung im West End wohnen, in Luxus und mit aller Bequemlichkeit?« »Das glaubt jeder«, sagte Ute und ließ sich auf ihren Deckenhaufen fallen. »Und für eine Weile war das auch richtig. Ich hatte das beste Glück, gestohlen von den Reichen und Mächtigen und was ich nicht selber brauchte, habe ich für viel Geld verkauft, sodass ich mir alles leisten konnte, was ich nur wollte. Aber - ich hab alles verbraucht. Und wenn sich das Glück erst einmal gegen dich wendet, dann wird es richtig mies. Als wäre da irgendeine Balance, die gehalten werden will. Glaubt ihr vielleicht, dass jemand wie ich überhaupt erst von solchen Leuten wie denen vom Manifesten Schicksal gefangen werden könnte?« »Ich hatte mich darüber schon gewundert«, meinte ich. »Einer, den ich kannte, hat mich betrogen«, sagte U-Bahn Ute. »Eigentlich kein Freund, wenigstens das, aber immerhin einer, den ich kannte. Er hat die Lüge des Manifesten Schicksals geschluckt und alles geglaubt, was Truman ihm versprochen hat, der Idiot. Er hat sich an mich rangeschlichen, als ich während des Berufsverkehrs abgelenkt war, und hat mir das meiste meines Glücks selbst ausgesaugt, bevor ich wusste, was passiert war. Und dann standen Trumans Gauner schon bereit und haben mich geschnappt.« »Was ist mit diesem Bastard passiert?«, fragte Molly. »Willst du, dass ich ihn für dich finde?« »Nicht nötig«, sagte Ute. »Seine Extraportion Glück ermöglichte es ihm, Trumans Leuten zu entkommen, als sie nach ihm suchen wollten, und er ist seitdem auf der Flucht. Vor ihnen und den anderen seiner Art. Er ist jetzt für den Rest seines Lebens allein. Ich habe wirklich das letzte Restchen Glück aufgebraucht, dass ich hatte, um uns aus Trumans Konzentrationslager rauszuholen. Und als ich endlich da raus war, habe ich den Fehler gemacht, mir etwas Glück von einem Reisenden zwischen den Dimensionen holen zu wollen, der sich als Mensch getarnt hatte. Der hat es bei der ersten Berührung gespürt, und wusste sofort, was ich bin. Es … hat etwas mit mir gemacht, und jetzt habe ich immer Pech.« Sie lächelte freudlos. »Nach all diesen Jahren, in denen ich mich als Obdachlose getarnt habe, damit ich näher an meine Beute rankomme, bin ich jetzt wirklich eine geworden. Das Leben ist scheiße. Was machst du hier, Molly? Ich wollte nie, dass du mich so siehst. Was willst du von mir?« »Ich will dich als Tutorin für die Drood-Familie anheuern«, sagte ich. »Ich will, dass du ihnen beibringst, wie es in der wirklichen Welt zugeht. Und von Dingen erzählst, von denen sie nicht mal wissen, dass sie sie nicht kennen. Du müsstest im Herrenhaus leben und deine … Bedürfnisse etwas einschränken, aber die Bezahlung wäre mehr als genug, um dir ein völlig neues Leben zu kaufen, wenn du uns mal verlassen hast.« »Siehst du«, sagte Molly zu U-Bahn Ute und strahlte. »Dein Glück hat sich wieder gewendet.« »Nein«, sagte Ute. Sie wandte den Blick von uns ab und schien in sich zusammenzusinken. »Sieh mich an, ich bin zu sowas in meinem Zustand nicht zu gebrauchen.« »Im Herrenhaus sieht's besser aus«, sagte ich. »Wir werden dich schon wieder auf Vordermann bringen, egal, was man dir angetan hat. Wir werden einen ganz neuen Menschen aus dir machen.« »Genau davor habe ich Angst«, sagte U-Bahn Ute. »Ich habe Geschichten über die Leute gehört, die man zum Drood-Familienanwesen gebracht hat.« »Von denen sind aber nur ein paar wahr«, widersprach ich. »Vertrau mir«, sagte Molly. »Wir werden nicht zulassen, dass dir etwas Schlimmes passiert.« »Aber was kann ich den hochwohlgeborenen und mächtigen Droods denn schon bieten?«, fragte Ute. »Was kann ich ihnen beibringen, das sie nicht schon wissen?« »Überlebensstrategien«, sagte ich. »Wie du überlebst, wenn du alles verloren hast, auf dass du dich je verlassen hast.« U-Bahn Ute sah erst zu mir hin, dann zu Molly. Ich gab mein Bestes, um aufmunternd zu lächeln. »Eddie hat im Herrenhaus derzeit das Sagen«, erläuterte Molly. »Die Dinge liegen also jetzt anders.« »Ich muss meiner Familie einfach die Augen für ein Leben öffnen, von dem sie nicht einmal wissen, dass es existiert«, fügte ich hinzu. »Komm und spiel die Tutorin. Teil deine Erfahrung mit uns. Hilf mit, den Blick der Droods auf die Welt zu formen.« Ute lächelte kurz, aber sie schien noch nicht überzeugt. »Du und deine Familie haben mich und meinesgleichen für Jahrhunderte gejagt. Ihr habt uns wie Ungeziefer verfolgt, nur weil wir die Sünde begangen haben, zu sein, was wir sind. Du hast das Blut meiner Familie und meiner Freunde an den Händen deiner Rüstung, Drood. Und du willst, dass ich für dich arbeite? So schlecht geht es mir dann doch noch nicht.« »Oh doch, das tut es«, sagte Molly freundlich. »Du musst mir glauben, wenn ich sage, dass du im Herrenhaus wirklich sicher bist. Ich weiß nicht, ob du der ganzen Familie trauen kannst, aber Eddie kannst du trauen. Er hat seine Familie am Kragen gepackt und die Art und Weise, wie sie die Dinge angehen, kräftig durchgeschüttelt. Er will ändern, wie sie denken und die Welt sehen und das ist der Grund, warum ich dich als aushäusige Tutorin vorgeschlagen habe. Du wirst auch nicht allein da sein. Wir werden uns als Nächstes Mr. Stich suchen.« »Na prima«, sagte Ute. »Soll mich das beruhigen? Auf der anderen Seite - es ist überall besser als hier. Ihr habt ja keine Ahnung, wie sehr man sanitäre Anlagen vermissen kann, wenn man keine mehr hat. Und ich schulde dir was, Eddie, weil du mir geholfen hast, mich von Truman zu befreien. Weißt du, dass er sich an einem neuen Ort neu organisiert hat?« »Nichts Genaues«, sagte ich. »Weißt du, wo wir ihn finden können?« »Ich habe nur Gerüchte gehört, das ist alles. Er soll eine neue unterirdische Basis haben, außerhalb von London, an einem Ort mit uralter Macht. Du hättest ihn töten sollen, als du die Gelegenheit hattest, Drood.« »Ich werde es das nächste Mal noch ernsthafter versuchen«, sagte ich. »Bist du so weit?« »Verdammt, ja. Ist ja nicht grade so, als würde mich hier irgendwas halten, oder? Oder als ob es etwas gäbe, was ich mitnehmen wollte.« Ich tat das Übliche mit Merlins Spiegel und schubste sie durch die Öffnung in die Waffenmeisterei, aus der Onkel Jack mich finster anstarrte. »Eddie, verdammt, jetzt warte doch mal eine Minute!« »Tut mir leid, Onkel Jack, keine Zeit! Bis später!« Dann ließ ich den Spiegel wieder zusammenschnurren, damit er mir nicht all die Gründe aufzählen konnte, warum ich ihn nicht laufend mit meinen neuen Tutoren belästigen konnte. Molly sah mich an. »Was glaubst du, wollte er von dir?« »Nichts, was nicht warten könnte, bis wir zurück sind«, sagte ich leichthin. »Und jetzt zu Mr. Stich.« »Ich wünschte, du würdest aufhören, solche Grimassen zu schneiden, Eddie, ich bin sicher, das ist nicht gut für dich.« »Ich gehe auf deinen Vorschlag hin ein höllisches Risiko ein«, sagte ich. »Wenn er erst einmal im Herrenhaus ist und etwas schiefgeht …« »Dann ist alles meine Schuld, ja, das haben wir ja schon festgelegt. Sieh mal, Eddie, ich weiß, wie gefährlich er ist. Ich weiß das besser als jeder andere. Aber ich werde da sein und ein sehr strenges Auge auf ihn haben. Und … na ja, was kann er in einem Haus voller Droods denn schon anstellen? Nicht mal seine alte Magie kann einer Rüstung etwas entgegensetzen. Du musst mir da einfach vertrauen, Eddie.« »Dir vertraue ich«, erwiderte ich. »Ihm aber nicht. Aber wenn er dir so wichtig ist …« »Das ist er«, sagte Molly. »Ich muss daran glauben, dass Leute sich ändern können. Selbst die Schlimmsten.« »In Ordnung. Wo glaubst du also, dass wir ihn zuerst suchen sollten, den berüchtigsten ungefassten Serienmörder von London?« »Ich habe schon darüber nachgedacht. Und ich glaube, wir sollten beim Orden der Jenseitigen anfangen.« »Willst du mich auf den Arm nehmen? Meinst du diese Kaschemme unten am Grafton Way, wo besessene Leute herumsitzen und irgendwelches Geschwafel von sich geben? Warum sollte Mr. Stich sich denn ausgerechnet da rumtreiben?« »Zuhören«, antwortete Molly. »Er glaubt, dass er etwas lernt, wenn er lange genug zuhört, irgendein altes Geheimnis oder ein altes Wissen, um die Bedingungen seiner Unsterblichkeit zu ändern.« »Damit er sich heilen kann?« »Oder damit er noch besser töten kann.« »Damit erhöhst du mein Vertrauen in ihn nicht gerade, Molly.« »Na, komm schon.« »Bevor oder nachdem wir noch etwas Vernunft in unsere Schädel geprügelt haben?« »Ach, sei still. Sei ein guter Junge und ich werde dich danach zu einem schönen Abendessen einladen.« »Ich bin zu leicht zu bestechen.« Merlins Spiegel brachte uns direkt zum Grafton Way, in eins der älteren, eher traditionelleren Viertel des West Ends. Hier können Sie alles finden: Botschaften von kleineren Staaten, Bürohäuser, Literatur-Agenten - und der Orden der Jenseitigen befindet sich mitten in einem gewöhnlichen, unauffälligen terrassenförmigen Bürohaus. Nichts weist auf ihn hin als eine einfache Messingplakette am Eingang, die den Namen preisgibt und die strenge Ermahnung: »Keine Wiedergänger, Wiedergeburten oder Zwangsvollstrecker«. Ich drückte die Klingel und als mich eine kalte Stimme über das Interkom nach meinem Namen und meinem Begehr fragte, sagte ich nur »Shaman Bond«. Nach einer Pause ging die Tür mit einem Klicken auf. Meine Tarnidentität hat einen langen und sorgfältig gepflegten Ruf, überall mal aufzutauchen und im Prinzip harmlos zu sein. Einfach nur ein weiteres Gesicht, mit einem regen Interesse an allem, was illegal, unmoralisch oder unnatürlich war. Shaman Bond war ein Glücksritter, ein kleiner Gauner und überhaupt nicht wie Eddie Drood. Das mochte ich am meisten an ihm. Die Rezeption erwies sich als bewusst leer und anonym, ohne Hinweis auf das, was einen erwartete. Leere Wände, ein leerer Boden und eine sehr professionelle Empfangsdame hinter einem sehr einfachen Empfangstresen. Die Empfangsdame schien hinreichend austauschbar, mit dem üblichen leeren, aber attraktiven Gesicht, Augen aus purem Eis und einem Lächeln, das überhaupt nichts bedeutete. Die Art, die mit ihrem Kalender lebte und starb und für niemanden eine Ausnahme machte, selbst wenn man das massiv gesprayte Haar anzündete. Ich wusste von Anfang an, dass wir nicht miteinander auskommen würden. Molly und ich schlenderten zu dem Tresen hinüber, als wollten wir mal sehen, warum er wohl dastand, und stellten uns direkt vor die Rezeptionistin. Sie ignorierte uns natürlich und konzentrierte sich voll auf die Papiere, die vor ihr ausgebreitet waren, um uns zu zeigen, wo wir hingehörten. Also lehnte ich mich nach vorn, raffte all die Papiere zusammen und warf sie in die Luft. Dann lächelte ich ihr ins entsetzte Gesicht, als das Papier um uns herum zu Boden flatterte. »Hi«, sagte ich. »Ich bin Shaman Bond, zu Ihren Diensten. Die sehr gefährliche Person neben mir ist Molly Metcalf, die ausgesprochen legendäre wilde Waldhexe. Sie hat Interesse an dem geäußert, was hier beim Orden der Jenseitigen so vor sich geht und ich, weil ich viel zu viel Angst habe, ihr das abzuschlagen, sagte, dass ich sicher sei, Sie lassen sie herein.« »Weil, wenn Sie das nicht tun, dann werde ich mir verschiedene Namen merken und Arschtritte verteilen«, sagte Molly fröhlich. Die Empfangsdame kämpfte um ihre Haltung. »Haben Sie einen Termin?« »Nein«, sagte Molly. »Ich werde viel Spaß haben. Und anfangen werde ich mit Ihnen, wenn Sie nicht voran machen.« Ich sah, wie die Empfangsdame nach dem Alarmknopf unter dem Tisch angelte und wackelte mit dem Finger vor ihrer Nase herum. »Molly Metcalf? Verwandelt Menschen in Sachen? Hat einen ganz grässlichen Sinn für Humor - klingelt da bei Ihnen was?« »Gehen Sie einfach den Gang hinunter«, sagte die Empfangsdame. »Ich wollte diesen Job sowieso nie.« Sie drückte einen anderen Knopf unter ihrem Tisch und eine große Falltür öffnete sich auf der anderen Seite des Raums im Boden, still und wie von selbst. Molly und ich gingen hinüber und sahen hinunter. Eine lange, steinerne Treppe führte hinab tief in die Erde. Da war ein starker Geruch nach Blut und Schwefel und ein entferntes Stimmengemurmel. Ich bestand darauf, zuerst zu gehen, und Molly ließ mich das büßen, indem sie sich die ganze Zeit gegen meinen Rücken drängte. Die Falltür schlug hinter uns mit einem lauten, satten und sehr endgültig klingenden Knall wieder zu. Von den nackten Steinmauern lief Wasser wie Schweiß und die Luft wurde heiß und stickig, als wir weiter hinabgingen. Ich konnte spüren, dass dort unten Präsenzen waren, wie schwere Gewichte, die sich auf die Welt drückten und sie schreien ließen. Wir gingen an einen bösen Ort, wo schlechte Dinge auf uns warteten. Schließlich bogen die Stufen in einem scharfen Knick zu einer Seite hin ab und führten uns in eine große Höhle aus natürlichem Stein, tief unter der Straße gelegen. Der Steinboden erstreckte sich in alle Richtungen und war über und über mit blauen Kreide-Pentagrammen, Salzkreisen und Reihen von gedrungenen Käfigen aus Stahl, Silber oder Messing übersät. Alles war dazu da, die armen besessenen Kreaturen festzuhalten, die den eigentlichen Zweck des Ordens der Jenseitigen ausmachten. Da gab es Männer und Frauen und selbst Kinder, gefangen wie Tiere. Einige saßen da und erklärten vernünftig, warum sie nicht an einen solchen Ort gehörten. Andere heulten und tobten und warfen sich immer wieder gegen die Gitter, die sie festhielten und schlugen mit bloßen Händen, die keinen Schmerz kannten, gegen die soliden Stäbe. Andere saßen einfach nur herum, starrten trotzig vor sich hin, hasserfüllt, ohne zu blinzeln und warteten darauf, dass jemand einen Fehler machte. Vor jedem besessenen Gefangenen war ein Mitglied des Ordens platziert, der ihn mit Schmeicheln und Locken dazu brachte, mit ihm zu reden. Normalerweise brauchte es nicht viel dazu. Besessene lieben es zu reden, jemanden zu ärgern und ihm zu drohen und das Publikum mit Lügen, Halbwahrheiten und schrecklichen Tatsachen zu erschrecken. Keiner, der dem Orden der Jenseitigen angehörte, war daran interessiert, auch nur einem einzigen dieser Leute zu helfen. Sie scherten sich einen Dreck um die Opfer. Sie wollten nur zuhören und alles aufschreiben, was sie hörten. Überall gab es Mikrofone, das ausgeklügeltste Equipment. Eine ganze Bande von Schreibern wartete darauf niederzulegen, was von diesen Stimmen gesagt wurde, das man nicht aufnehmen konnte, weil die Technologie nicht hinnahm, dass es existierte. Und überall in bequemen Sesseln saßen die geladenen Gäste, die sehr gut dafür zahlenden Kunden des Ordens der Jenseitigen, und hörten konzentriert zu. Dazu gehörte, wer auch immer darauf hoffte, etwas über das Verbotene Wissen oder die Hinweise auf Geheimnisse von Himmel und Hölle zu erfahren. Der Orden der Jenseitigen schickte komplette Transkripte von allem Gehörten an einen großen Verteiler; gegen eine exorbitante Gebühr, versteht sich. Aber es ging nichts darüber, persönlich hier zu sein, um selbst alles zu hören. Und jedem anderen damit voraus zu sein. Molly und ich standen wachsam am Fuß der Steintreppe und nahmen uns die Zeit, uns an das dämmrige Licht zu gewöhnen, das Auf- und Abschwellen der harten, sich überlappenden Stimmen und den Geruch von Hass und Furcht und den Dingen, die in unserer, wie wir glaubten, geistig gesunden und rationalen Welt nicht erlaubt sein sollten. Nicht alle Stimmen klangen menschlich, auch wenn sie von menschlichen Lippen stammten. Da ist ein Fluss in der Hölle, der aus den Tränen der Selbstmörder besteht. Tränen sind unter den Verdammten wie Wein. Habt acht vor den Vielwinkligen, der Hyperbrut! Habt acht vor der Schwarzen Sonne und dem, was darin brütet! Habt acht vor dem endlosen Heulen und den Zähnen, die die menschliche Seele zerfleischen! Selbst der Tod ist kein Ausweg aus dem, was da wartet, in den Welten jenseits aller Welten! Sie beobachten dich von der anderen Seite deiner Spiegel und geben nur vor, dein Spiegelbild zu sein, denn sie warten darauf, dass ihre Zeit kommt. Und dann, mitten in der Nacht, kommen sie heraus. Während du schläfst, greifen sie nach dir und zwingen dich auf die andere Seite des Spiegels, sodass sie deinen Platz einnehmen können und tun schreckliche Dinge an deiner Stelle. Nur, weil sie so aussehen wie du, sind sie es noch lange nicht. Blut soll es regnen und Gedärm und das große Tier, dass da heißt Babylon, wird wiederkehren und die Hölle wird mit ihm kommen … Die Himmlischen werden kommen und ihr Urteil über uns sprechen in ihren Raumschiffen, die über eine Million Meilen lang sind und vor ihnen werden wir wie die Ameisen sein … Bitte, ich will nicht hier sein, ich sollte nicht hier sein, da ist etwas, das in mir auf- und abläuft und es tut weh, so weh, so weh … Man kann jeden Tag Sendungen von Himmel und Hölle empfangen, auf ganz bestimmten Frequenzen. Um eine zu hören, wählen Sie einfach nur diese Nummer … »Okay«, sagte Molly. »Das meiste davon ist Bullshit und ich sollte das wirklich wissen.« »Ich wünschte, du würdest so etwas nicht sagen«, meinte ich. »Ich finde es wirklich sehr beunruhigend, immer daran erinnert zu werden, dass ich in ein veritables Höllenmädchen verliebt bin.« Molly zuckte mit den Achseln. »Man ist keine ernstzunehmende Hexe, wenn man sich nicht alle Seiten offenhält. Und ich muss dir sagen, Eddie, welche Seite welche ist, kommt sehr auf den Standpunkt an.« Sie betrachtete die düsteren Gestalten in den verschiedenen Käfigen genauer und zog die Nase hörbar hoch. »Die Leute bezahlen wirklich Geld für diesen Mist? Ich habe fast erwartet, dass einer von denen Erbsensuppe ausspuckt und dabei schreit ›Deine Mutter strickt Socken in der Hölle!‹. Dämonen lügen. Das tun sie nun mal.« »Außer, wenn eine Wahrheit einen mehr treffen kann«, erinnerte ich sie. Und dann rief mich ein ekelhaft fetter Mann, über dessen halbem Gesicht sich ein purpurfarbenes Muttermal ausbreitete, beim Namen. Bei meinem richtigen Namen, nicht meiner Cover-Identität. Ich war sicher, es wäre in dem enormen Stimmengewirr fürs Erste untergegangen, aber ich ging schnell zu seinem Käfig mit silbernen Gitterstäben hinüber, bevor er den Namen noch einmal verwenden konnte. Mein Reif würde die Aufnahmebänder daran hindern, etwas aufzunehmen, das Besorgnis erregen könnte, aber ich wollte niemandes Aufmerksamkeit erregen. Ich wollte hier nur Shaman Bond sein. Der Besessene war komplett nackt, seltsame Zeichen aus getrocknetem Blut, Exkrementen und Kotze waren auf seine totenbleiche Haut geschmiert. Er kicherte sanft und tätschelte mit seinen fetten Händen die Gitterstäbe, sodass ich sehen konnte, dass er all seine Finger abgenagt hatte. Seine Augen blinzelten nicht und waren voller Blut, und wenn er sprach, klang seine Stimme wie ein Kind, das mit Rasierklingen gurgelte. So, als würde dein bester Freund sagen, er hätte mit deiner Frau geschlafen oder wie ein Tumor reden würde, wenn er Stimmbänder hätte. »Edwin Drood, süßer Prinz einer ruinierten Familie, da treffen wir uns wieder. Erinnerst du dich an mich? Wir haben schon einmal miteinander gesprochen, unter Dr. Dee's Exorzistenhaus. Ich versprach dir die Welt und alles darin, doch du hast mich im Stich gelassen. Warst dir zu gut, um meinesgleichen zu lauschen. Aber nun bist du hier, um nach der Weisheit am seltsamsten aller Orte zu suchen. Soll ich dir sagen, was du wissen musst, süßer Drood?« »Du weißt nichts, was ich wissen müsste«, erwiderte ich. »Aber das tue ich, das tue ich! Nichts ist versteckt, sei es vor dem Himmel oder der Hölle. Du suchst den unsterblichen Killer, den Heiligen Schlächter, Mr. Stich. Und ich weiß, wo er ist.« »Und für welchen Preis würdest du uns das sagen?«, fragte Molly, die dicht neben mir stand, als wolle sie mich beschützen. »Was sollen wir tun, dich hier rausholen? Das glaube ich kaum.« »Kein Preis, gar kein Preis, kleine Hexe«, krächzte das ekelhafte Wesen hinter den starren Augen des fetten Mannes. »Weil das, was ihr wollt, euch nicht glücklich machen wird, oder frei, oder weise. Ihr Menschen bringt euch mit jedem Schritt, den ihr tut, selbst in die Hölle. Und deshalb gebe ich euch Mr. Stich. Mein höchsteigener vergifteter Kelch, ein Geschenk aus der Hölle, um es an den Busen eurer Familie zu legen.« »Ihr Dämonen seid derart selbstüberzeugt«, sagte Molly. »Wenn du was zu sagen hast, dann sag's.« »Wie du willst, liebe kleine beschränkte Seele. Gehe nun zum Café Nacht, und dort wird dir jemand sagen, wo du Mr. Stich finden kannst.« Er lachte immer noch, als wir wieder gingen, ein schreckliches, schmutziges und beunruhigendes Geräusch, selbst als die Aufseher ihn wieder und wieder wie Vieh mit Elektroschockern traktierten, um ihn zum Schweigen zu bringen. Mit Hilfe von Merlins Spiegel gingen wir direkt ins Café Nacht, eine ausgesprochen dunkle und düstere Spelunke, die sich in einer Ecke von Kensington befand, die man nicht ohne große Mühen auftreiben konnte. Von außen sah das Café aus wie jedes andere Kaffeehaus: ein Platz, wo Vorstadt-Mamis sich nach einem harten Tag voller Einkaufstouren niederlassen und klatschen können. Aber das war nur ein einfacher Illusionszauber, kombiniert mit einem ›Hier gibt es nichts zu sehen, bitte gehen Sie weiter‹-Spruch, um die Uneingeweihten von den Besuchern zu trennen. Das Café Nacht hat strikte Eintrittsregeln und Nichtmitglieder versuchen es auf absolut eigene Gefahr. Ursprünglich war dieser Ort mal ein Treffpunkt für Vampire und diese idiotischen Romantiker gewesen, die sich danach sehnen, ihre Opfer zu sein. Damals hieß es noch das Renfield. Heutzutage bediente das Café Nacht die Unsterblichen, die man nirgendwo sonst haben wollte. Ich trat die Tür auf und schlenderte hinein, als wollte ich den Platz auf seine moralische Gesundheit hin überprüfen. Das Café war angemessen düster, kaum beleuchtet von kunstvoll arrangiertem Licht, das dafür sorgte, dass es dunkel blieb, während man doch immer noch erkennen konnte, mit wem oder was man gerade sprach. Die Hintergrundmusik schwankte zwischen The Cure oder The Mission bis hin zu Gregorianischen Gesängen und die Luft war geschwängert mit dem Übelkeit erregenenden Duft von verfaulenden Lilien. Das Café Nacht hatte eine großartige Atmosphäre. Schattige Gesichter starrten mich böse von jedem Tisch aus an, aber niemand bewegte sich oder sagte etwas, weil ich vorsichtig genug gewesen war, hochzurüsten, bevor ich hereingeplatzt war. Zu einem kleinen Licht wie Shaman Bond hätte hier niemand auch nur ein Wort gesagt, also war es an der Zeit, Eddie Drood heraushängen zu lassen und Respekt auf die brutale Art einzufordern. Meine silberne Rüstung war vielleicht noch nicht so bekannt wie die goldene, aber sie zeichnete mich immer noch als das aus, was und wer ich war. Und was ich vielleicht tun würde, wenn ich nicht die Antworten bekäme, die ich wollte. Also waren die verschiedenen unsterblichen, dunklen und gefährlichen und sonst so eigenständigen Kreaturen froh, einfach nur still mit gesenktem Kopf dazusitzen und zu hoffen, dass ich jemanden anderes suchte. Ein paar standen in dem Moment, in dem ich hereinkam, auf, um zu gehen und wollten sich durch die Hintertür davonmachen. Aber ich hatte Molly bereits dorthin geschickt und die flüchtenden Unsterblichen hielten urplötzlich an, als sie Molly bedrohlich an der hinteren Tür herumlungern sahen. Sie kehrten widerwillig an ihre Plätze zurück und Molly kam vor ins Café, um mich anzulächeln. Von überall her richteten sich nun kalte Blicke auf mich, auf Molly und wieder zurück, aber immer noch sagte keiner ein Wort. Sie hatten nicht so lange gelebt, ohne gelernt zu haben, dass man den Mund hielt, bis man wusste, was abging. Hinter meiner formlosen silbernen Maske sah ich gemächlich in die Runde (da ist wirklich etwas an fehlenden Augenhöhlen, dass Leute in Angst und Schrecken versetzt) und ließ meinen Blick schließlich auf den paar wirklich wichtigen Personen ruhen, die hier waren. Die einzigen, die vielleicht zugeben würden, Mr. Stich zu kennen und die möglicherweise auch wussten, wo er sich gerade aufhielt. Sie gehörten nicht gerade zur Oberliga, keiner von ihnen. Ein Elbenlord in einer ausgesprochen fein verzierten Brünne, mit eingravierten Schutzzaubern in altem Elbisch. Ein Mönch in einer zerrissenen roten Robe mit einem so faltigen Gesicht, dass es fast unmöglich war, seine Gesichtszüge zu erkennen. Dass er interessant war, konnte man nur an dem sumerischen Amulett sehen, dass er um den Hals trug. Ein Paar von Baron Frankensteins erfolgreicheren Kreationen, von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet, um ihre vielen Narben zu verstecken. Und eine geradezu schmerzhaft magere Gestalt in einem schmuddeligen T-Shirt und ausgeblichenen Jeans, die ich nur vom Namen her kannte: Das Hungrige Herz. Er hatte einen Teller mit frischem rohem Fleisch vor sich stehen und schlang es so schnell herunter, wie er nur konnte. Blut tropfte unbemerkt sein Kinn herab. Wenn es noch Beweise gebraucht hätte, dass Unsterblichkeit nicht alles ist, hier hatte man sie vor sich. Der Elbenlord kam mir vage bekannt vor, also fing ich bei ihm an. Er schnaubte hörbar, als ich zu seinem Tisch hinüberkam, deutliche Geringschätzung in seinem arroganten Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Er rührte sich nicht, stand nicht auf und griff auch nicht nach seiner Waffe, aber selbst wenn er still saß, mit beiden Händen ruhig auf der Tischplatte, war er der gefährlichste Typ hier im Café und wir wussten das beide. »Ich kenne dich«, sagte ich. »Woher kenne ich dich, Elbenlord?« »Ich war dabei«, sagte er mit seiner süßen, Übelkeit erregenden, magischen Stimme. »Ich habe die Attacke auf dich angeführt, unseren Hinterhalt auf der Autobahn. Nachdem dich deine eigene Familie an uns verraten hat. Wir sind auf unseren Drachen gekommen, haben unsere Schlachtlieder gesungen, mit unseren schönen neuen Waffen. Wir waren in der Überzahl, wir hatten Pfeile mit seltsamer Materie und doch hast du triumphiert. Elbenlords und -ladies aus altem Geschlecht, Freunde und Familie, die ich über Jahrhunderte gekannt habe, alle sind sie unter dem Donner deiner schrecklichen Schusswaffe gefallen. Ich bin der einzige Überlebende dieses Tages, aber sei versichert, übler und verfluchter Drood - der Hof von Unseeli vergisst oder vergibt nie.« »Klasse«, sagte ich. »Ich auch nicht.« »Ich werde dir den Rest deines Lebens auf den Fersen sein!« »Natürlich wirst du das«, erwiderte ich. »Du bist ein Elb.« Damit kehrte ich ihm den Rücken zu und ignorierte ihn. Ich wusste, das würde ihn am meisten verärgern. Es war sinnlos, einen Elben zu verhören. Er würde sich eher seine Zunge herausschneiden, als dass er das Risiko einging, er könnte irgendetwas sagen, dass mir helfen würde. Ich sah nachdenklich zu dem Mönch in der scharlachroten Robe und er straffte sich selbstbewusst unter meinem silbernen Blick. »Wisse, o Sterblicher«, sagte er in einer überraschend vollen, tiefen und befehlsgewohnten Stimme. »Wisse, dass ich Melmoth der Wanderer bin, die ursprüngliche verlorene Seele, auf der die Legende gegründet ist. Lange bin ich gewandert, über die ganze Welt, durch Länder und zu Völkern, von denen selbst die Namen vergessen sind.« Und dann hörte er auf, weil ihn jeder im Café auslachte. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Ich habe schon zu meiner Zeit ein Dutzend Melmoths getroffen, die alle für sich beanspruchten, das Original zu sein, und ebenso viele Draculas, Fausts oder Grafen von St. Germaine. Selbst Unsterbliche haben ihre Vorbilder. Ich lehnte mich weiter nach vorn, um das sumerische Amulett näher betrachten zu können, und der Mönch zuckte in seinem Stuhl zurück. Aus der Nähe war das Ding ganz klar als Fälschung zu erkennen, und ich drehte dem Mönch ebenso meinen Rücken zu. Ich ging zu den Frankenstein-Monstern. Sie waren beide groß und ziemlich stämmig, aber sie konnten immer noch als menschlich durchgehen, wenn sie sich nur gut einpackten. Hier im Café Nacht, wo sie unter sich waren, kümmerte sie das nicht. Ihre schwarzen Motorradjacken hingen weit offen und enthüllten die Y-förmigen Autopsienarben auf ihrer Brust. Einer war mal ein Mann, der andere eine Frau gewesen, aber derart subtile Unterscheidungen hatten ihre chirurgische Wiedergeburt nicht überlebt. Es waren Monster, mit nichts Menschlichem mehr in ihren Gesichtern oder Gedanken. Ihre Gesichter waren grau, die Lippen schwarz, ihre Augen gelb wie Urin, die Augenlider fielen schlaff von trockenen Augäpfeln weg. Lange Reihen von Stichnarben konnte man auf ihrer Stirn sehen, wo der Baron ihre Schädel aufgesägt hatte, um ein neues Hirn hineinfallen zu lassen. Im Gegensatz zu allen anderen in diesem Café waren die beiden von mir nicht eingeschüchtert oder auch nur beeindruckt. Solche Gefühle hatten sie hinter sich gelassen, im Grab. Ihre Gedanken und Herzen waren kalt und sie kümmerten sich um nichts, womit ich ihnen hätte drohen können, weil ihnen das Schlimmste schon geschehen war. Es ergab keinen Sinn, sie irgendetwas zu fragen. Blieb nur noch das Hungrige Herz, das allein an seinem Tisch saß, in gebührendem Abstand zu jedem anderen, weil einige Dinge eben einfach zu beunruhigend sind. Selbst für Unsterbliche. Ein Mann, der so dünn war, dass er beinahe schon nicht mehr anwesend war, aber getrieben von einer schrecklichen Energie. Als wir seinen Tisch erreichten, sah er zu Molly und mir auf, fuhr aber trotzdem fort, sein rohes Fleisch zu essen. Er kaute verzweifelt und schob sich mit seinen dünnen, knochigen Fingern Stücke in den Mund zurück. Er brachte eine Art Lächeln zustande, und Blut lief sein Kinn herunter. Ich kannte seine Geschichte, das tat jeder. Es ist in unserer Zeit eines der großen, warnenden Beispiele mit Moral: Verärgere niemals einen Voodoo-Priester mit einem fiesen Sinn für Humor. Das Hungrige Herz lebt für immer im Griff eines niemals nachlassenden Hungers, der nie gesättigt werden kann und es kann nur überleben, wenn es alle 24 Stunden sein eigenes Körpergewicht in rohem Fleisch isst. Er muss sich schwer sedieren, um überhaupt hin und wieder ein paar Stunden schlafen zu können. Also - schlafen Sie nie mit der Tochter eines Voodoo-Priesters, schwängern Sie sie unter keinen Umständen und laufen Sie auf keinen Fall hinterher davon, weil Sie glauben, einmal um die halbe Welt zu fliehen, könnte Sie aus der Reichweite des Vaters bringen. Ich schätze, es war gut, dass das Hungrige Herz kein Vegetarier war. Das wäre wirklich schrecklich gewesen. Keiner weiß, wie alt das Hungrige Herz wirklich ist. Oder wie lange der arme Bastard wohl noch leben wird. Ich glaube, es kommt auf seine Stärke oder seinen Willen an. Er beendete den letzten Bissen des rohen Fleischs auf seinem Teller, leckte seine blutigen Finger ab, sah traurig auf den leeren Teller und erst dann auf Molly und mich. »Jedes Fleisch ist mir recht«, sagte er in einer überraschend sanften und alltäglichen Stimme. »So lange es roh ist. Menschenfleisch ist das beste. Wie eine Droge. Ich bin süchtig danach geworden. Ich frage mich: Wie geil wäre es, wenn ich etwas von einem … Drood zu essen bekäme?« »Tut mir leid«, sagte ich prompt. »Dosenfleisch ist heute nicht auf der Karte.« »Was wollt ihr hier?«, fragte das Hungrige Herz, und alle Müdigkeit der Welt lag in seiner Stimme. »Keiner hier will irgendwelchen Ärger. Wir haben selbst alle genug. Alles, was wir wollen, ist unsere eigenen Wunden lecken und dabei unter uns bleiben.« »Wir wollen nur eine kleine Information«, sagte Molly heiter. »Wir möchten wissen, wo sich Mr. Stich aufhält, und uns wurde zu verstehen gegeben, dass er hier manchmal auftaucht.« »Das ist nun wirklich eine Beleidigung«, sagte der Elbenlord und stand anmutig auf. In seiner Hand blitzte ein schlanker, schimmernder Dolch auf. »Als ob wir so einen Verruchten wie Mr. Stich in unserem ausgesuchten kleinen Kreis dulden würden. Wir haben unser Niveau.« »Ja«, sagte der Mönch und stand ebenfalls auf. Er schob die Ärmel seiner scharlachroten Robe über muskelbepackte Unterarme. »Ihr kommt her und beleidigt uns ins Gesicht? Werft uns mit jemandem wie Mr. Stich in einen Topf? Es gibt auch für uns eine Grenze, bis zu der wir uns ausnutzen lassen.« Die Frankenstein-Monster waren jetzt auch aufgestanden und sahen so noch imposanter und größer aus. Und das Hungrige Herz seufzte, schob seinen leeren Teller weg und erhob sich ebenfalls. »Ich habe Hunger«, sagte es. »Hat jemand einen Dosenöffner?« »Ich vielleicht«, sagte der Mönch. Er zog ein kurzes Messer unter seiner Robe hervor. »Das ist das Messer, das Judas Ischariot vom Baum schnitt, nachdem er sich daran erhängt hatte, auf dem Blutacker, dem Hakeldama. Die Legende sagt, dass dieses Messer durch alles schneiden kann. Vielleicht sogar durch eine Drood-Rüstung.« Für jemanden, der so alt war, zuckte er unglaublich schnell nach vorn. Der Dolch bohrte sich in meine Seite, rutschte an der silbernen Rüstung funkenschlagend ab und ließ sie vollkommen unbeschädigt. Der Mönch stolperte, verlor die Balance und ich schlug ihm auf den Kopf. Die ganze linke Seite seines Gesichts wurde platt, Knochen krachten und splitterten, aber er fiel nicht. Er hob sein Messer erneut, um nach mir zu stechen, also schnappte ich mir mit beiden silbernen Händen seinen Kopf und drehte ihn so um, dass er nach hinten sah. Sein Genick brach mit lautem Knacken, aber immer noch fiel er nicht. Ich schubste ihn weg und er stolperte im Café herum, verwirrt und fassungslos. Jetzt war jeder im Café zum Ausgang gestürzt, weil er sich nicht mit einem Drood in voller Rüstung anlegen wollte und ich war froh, sie gehen zu sehen. Sie wären nur im Weg gewesen. Die beiden Frankenstein-Kreaturen hatten Molly umzingelt und griffen mit großen, nicht zusammenpassenden Händen nach ihr. Molly lachte ihnen in ihre hässlichen Gesichter und traf sie mit einem einfachen Zauberspruch, mit dem sich all ihre Nähte auf einmal lösten. Die beiden Monster schrien mit schrillen, hoffnungslosen Stimmen auf, als uraltes Katgut wie durch Feuerwerk in ihrer Haut aufplatzte und die Narben aufgehen ließ wie Reißverschlüsse. Sie fielen auseinander, Stück für Stück, und ihre Einzelteile platschten auf den Boden. Erst langsam, dann immer schneller. Hände fielen von Armen, Arme von Ellbogen und dann von den Schultern. Beine brachen zusammen. Torsi fielen zu Boden, brachen auf und verteilten längst abgestorbene und konservierte Organe auf dem Fußboden. Die Köpfe waren zuletzt dran. Ihre Gesichtszüge glitten einer nach dem anderen herunter, bis schließlich die Schädel aufplatzten und das vertrocknete, graue Hirn herausfiel. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich allerdings schon andere Probleme. Der Elbenlord kam auf mich zu und lächelte sein widerliches, überlegenes Lächeln. Er wedelte mit seinem langen, schimmernden Dolch vor meiner Nase herum und ich wusste, was das war; was das sein musste. Die Klinge war aus seltsamer Materie, wahrscheinlich aus den Schmiederesten der Silberpfeile gemacht, die mich nach dem Autobahn-Hinterhalt beinahe umgebracht hatten. Aber konnte eine Klinge aus seltsamer Materie durch eine Rüstung aus demselben Material schneiden? Ich entschied mich dafür, es nicht drauf ankommen zu lassen. Ich konzentrierte mich und die Rüstung um mich herum erweiterte sich an meinen Händen zu zwei tödlichen langen Klingen. Wie es mein Onkel James mir beigebracht hatte, als er versucht hatte, mich zu töten. Der Elbenlord und ich umkreisten einander langsam, nahmen uns Zeit und hielten nach Schwächen in Stil und Haltung Ausschau, nach Zögerlichkeiten und Eröffnungen. Endlich schossen wir vor und zurück, stachen nacheinander mit glänzenden Klingen; hin und wieder weg in einem Moment. Die Rüstung machte mich übernatürlich stark und schnell, aber er war ein Elb, also waren wir ebenbürtig. Und während ich mein familiäres Training hatte, hatte er jahrhundertelange Erfahrung, also traf er zuerst. Sein Dolch kam aus dem Nichts, durchbrach elegant meine Verteidigung und rammte sich mir in die Rippen. Unwillkürlich schrie ich auf, aber als die Klinge meine Rüstung traf, nahm diese den Dolch einfach in sich auf. Der Elbenlord stand auf einmal nur mit einem Heft in der Hand da. Ich rannte ihn um. Wenn Sie eine Chance bei einem Elb haben, dann nutzen Sie die, Sie kriegen vielleicht keine zweite. Meine Hand schlug gegen seine Brust und meine erweiterte Klinge schnitt sein Herz entzwei. Er packte meinen Arm mit beiden Händen, als würde ihn das aufhalten. Ich drehte die Klinge und er fiel hin und starb. Ich ließ die Klingen wieder zu Händen schrumpfen, bog probeweise die Finger und sah mich nach Molly um. Sie starrte angewidert auf das Hungrige Herz, das sich über die aufgelösten Frankenstein-Kreaturen und ihr vergammeltes Fleisch hergemacht hatte. Er sah auf und lächelte entschuldigend. »Das schmeckt wie Staub, aber Fleisch ist Fleisch und in der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen. Wenn ihr wirklich Mr. Stich finden müsst, und ich kann mir nicht denken, warum ihr das müsstet, dann solltet ihr es mal auf dem Woolwich-Friedhof versuchen.« »Was sollte er denn dort tun?« »Fragt ihn selbst«, erwiderte das Hungrige Herz. »Ich würde mich das nicht trauen.« Merlins Spiegel transportierte uns umgehend zu einem trüben, verwilderten und verlassenen Friedhof im Woolwich Arsenal, tief im Herzen des East Ends, am anderen Ufer der Themse. Der Friedhof bestand hauptsächlich aus viktorianischen Gräbern, mit überdimensionalen Grüften, Mausoleen und noblen Gräbern. Dieses ganze Zeitalter war vom Tod und seinen Allegorien fasziniert gewesen und der gesamte Friedhof war förmlich übersät mit Statuen von weinenden Engeln, klagenden Putten und genug morbiden Statuen und Gravierungen, um selbst einen Totengräber ›Mein Gott, besorgt euch ein Leben, verdammt!‹ ausrufen zu lassen. Die Zeit hatte die Engelsgesichter verwittern lassen, was den Statuen einen bitteren, surrealistischen Ausdruck verliehen hatte. Die Putten sahen allerdings immer noch wie tote Babys aus. Eigentlich erinnerten sie mich sogar an eine Zeichentrickserie, die ich als Kind immer gesehen hatte: Casper, das tote Baby. Molly und ich folgten dem einzigen Kiesweg und gingen immer tiefer in den weitläufigen Friedhof hinein. Der Ort sah verlassen aus. Das Gras hatte man wachsen lassen und es gab überall Unkraut, selbst auf dem Kiesweg wuchs es in dichten Büscheln. Es gab keine Blumen auf den Gräbern und die Grabsteine waren so verwittert, dass es schwerfiel, die Inschriften zu lesen. Ein kalter Wind blies, das Licht wurde dämmrig, weil es Abend wurde, und die Schatten kamen von überall auf uns zugekrochen. »Ich mag diesen Ort«, sagte Molly. »Das denke ich mir«, erwiderte ich. »Nein wirklich, er ist friedlich. Moderne Friedhöfe sind für meinen Geschmack viel zu hektisch. Wenn ich mal gestorben bin, dann möchte ich keine Besucher und keine Blumen. Begrab mich nur tief, setz ein paar Minen, um Leichendiebe abzuschrecken, und lass mich friedlich bis zum Jüngsten Tag schlafen. Ich werde die Ruhe und die Stille brauchen, um mir ein paar gute Ausreden auszudenken.« »Alle Droods werden verbrannt«, sagte ich. »Nur um sicherzugehen, dass keiner unserer Feinde mit unseren Überresten irgendwas anstellen kann.« »Vielleicht könntest du deine Asche ins Weltall schicken wie Timothy Leary«, schlug Molly vor. Ich musste lächeln. »Alles, um von meiner Familie wegzukommen.« »Ich sehe Mr. Stich nirgendwo«, meinte Molly. »Und ich verstehe sowieso nicht, was er an so einem Ort wollen könnte.« »Wir sind nicht weit von seinen ursprünglichen Tatorten entfernt. Damals, als er sich zuerst einen Namen gemacht hat, in 1888.« »Vielleicht sind ein paar seiner Opfer hier begraben.« »Irgendwie denke ich nicht, dass Mr. Stich da sehr sentimental ist«, sagte ich. »Und überhaupt, nach allem, was man auf diesen Grabsteinen so lesen kann, sind sie beinahe alle älter als Jack the Ripper.« Wir gingen auf dem Friedhof auf und ab und her und hin und fanden kein Anzeichen dafür, dass Mr. Stich hier gewesen wäre. Zog man die Größe des Areals in Betracht, hätte es Stunden gedauert, alles abzusuchen und außerdem wurde ich ungeduldig. Und mir wurde kalt. Ich hatte meine Rüstung heruntergefahren, als wir das Café Nacht verlassen hatten, aber jetzt murmelte ich die Worte und rief gerade genug der Rüstung herbei, um mein Gesicht zu bedecken. Mit ein wenig Konzentration konnte ich Infrarot durch die Maske sehen und es dauerte nicht lange, bis ich die einzige andere menschliche Wärmequelle außer uns auf dem dunkler werdenden Friedhof gefunden hatte. Ich fuhr die Rüstung wieder herunter, um Mr. Stich nicht in die Defensive zu jagen, und ging zu der Stelle voran, an der er sich befand. Ich tat mein Bestes, um ruhig und nicht bedrohlich, aber auch nicht im Geringsten besorgt zu wirken. Er mag es nicht, wenn die Leute, mit denen er sich unterhalten will, sich die Scheiße aus dem Leib fürchten. Tatsächlich war Mr. Stich für einen unsterblichen Serienkiller bemerkenswert empfindlich. Er war formal in die Kleider seiner Epoche gekleidet, alles rein schwarz oder weiß, mit einem Zylinder und sogar einem Opernmantel. Wenn er seine Opfer verfolgte, dann konnte er in der Menge verschwinden wie jeder andere, aber wenn er sozusagen außerdienstlich war, zog er die Kleider vor, in denen er sich am wohlsten fühlte. Er war ein großer und kraftvoller Mann, mit breiten Schultern und langen Armen. Er hatte ein breites, väterliches Gesicht, wie ein freundlicher alter Familienarzt - bis man ihm in die Augen sah. Und alle Schrecken der Hölle einen anstarrten. Er wandte uns langsam sein Gesicht zu, während wir näher kamen. »Molly,«, sagte er, »wie nett. Und Edwin Drood - mal wieder. Es ist mir eine Ehre.« »Was machst du ausgerechnet hier?«, fragte Molly so direkt wie immer. »Ich bin … nur zu Besuch«, erwiderte Mr. Stich. Er lächelte und zeigte große, quadratische Zähne, die von der Zeit ganz braun waren. Er deutete auf die Gräber um ihn herum. »Das hier war einmal ein bekannter Ort, die Leute sind buchstäblich dafür gestorben, hierher zu kommen. Es gab Sonderzüge, die die glücklichen Verstorbenen aus dem ganzen Land hierhergebracht haben. Das ist jetzt lange her und niemand erinnert sich mehr daran. Außer mir. Ich habe Freunde und Familie hier. Leute, die mich kannten, als ich noch nichts weiter als ein Mensch war. Die Letzten, die mich noch so kannten, wie ich war, bevor ich zu einem Namen wurde, mit dem man Leute erschreckt.« Ich fand es schwierig, mir vorzustellen, dass Mr. Stich je normal gewesen war, mit einem normalen Leben. Er muss das gespürt haben, denn er machte eine kurze, abschließende Geste und sah mich bloß noch kalt an. »Was willst du von mir, Edwin Drood?« Ich erklärte die Situation, aber er schüttelte den Kopf, bevor ich geendet hatte. »Was lässt dich glauben, dass ich so vertrauensvoll und dumm wäre, mich selbst in die Hand meiner langjährigen Feinde zu geben? Und was noch wichtiger ist: Selbst wenn du es schaffen würdest, mich von meiner Sicherheit zu überzeugen, warum sollte ich an den einen Ort gehen, an dem mir niemals gestattet würde zu töten? Ich muss morden, Edwin. Das ist meine Natur.« »Nachdem die Tutorentätigkeit beendet ist, kannst du so viele der Abscheulichen umbringen wie du willst.« »Die Droods haben ihre alte Bibliothek geöffnet«, sagte Molly. »Sie ist voll von vergessenen und verbotenen Texten, die Jahrhunderte alt sind. Irgendwo in dieser Bibliothek müssen sich auch Informationen darüber befinden, wie man dir helfen kann. Wenn man dich vielleicht auch nicht heilen kann, ist es aber eventuell möglich den Zwang, unter dem deine Unsterblichkeit steht, zu lindern. Du kannst vielleicht die Kontrolle darüber erlangen und müsstest nicht mehr ständig töten.« Mr. Stich sah sie nachdenklich an. »Und was lässt dich annehmen, dass ich das möchte?« »Weil du dich weigerst, mich zu töten und meine Freunde«, sagte Molly. »Und ich wüsste nicht, dass du das je für jemanden anderen getan hättest.« Er nickte langsam. »Du willst also, dass ich das tue, Molly? Auch wenn du wissen müsstest, dass das alles in Tränen enden wird?« »Ich will, dass du das tust, also wird es nicht in Tränen enden«, antwortete Molly. »Dann soll es so sein«, sagte Mr. Stich. Ich öffnete Merlins Spiegel zur Waffenmeisterei und winkte Mr. Stich durch. Er wurde von einem sehr genervt aussehenden Waffenmeister in Empfang genommen, und ich schloss den Spiegel schnell wieder, bevor Onkel Jack etwas sagen konnte. Er sah ganz so aus, als wollte er etwas sagen, aber ich war sehr sicher, dass es nichts war, das ich hören wollte. Ich steckte den Spiegel weg und sah zu Molly. »Ich denke, wir haben für einen Tag genug gearbeitet, meinst du nicht? Ich glaube, wir haben uns ein wenig Freizeit verdient, bevor wir wieder zurückmüssen. Was sollen wir machen?« »Naja«, sagte Molly und steckte ihren Arm durch meinen. »Ich habe dir ein gutes Abendessen versprochen und weil wir schon mal in London sind … was meinst du, eine Show im West End und danach ein Dinner im Ritz?« »Klingt sehr gut«, sagte ich. »Aber wir werden so kurzfristig niemals Karten für irgendetwas Anständiges kriegen.« »Liebelein, ich bin eine Hexe, schon vergessen? Vertrau mir, Karten sind kein Problem.« Ich dachte, es sei das Beste, wenn ich der Familie Zeit gäbe, sich an die Tutoren zu gewöhnen, bevor ich mich wieder im Herrenhaus zeigte und so genoss ich die Show und das Abendessen. Wir sahen uns die neue Produktion in der Shaftesbury Avenue an: König der Diebe: Das Musical. In den Hauptrollen waren Robbie Williams als Robin Hood, Paris Hilton als Lady Marian und Ricky Gervais als der Sheriff zu sehen. Musik, Handlung und Texte von niemandem, von dem Sie je gehört hätten. Karten waren wirklich kein Problem: Molly wandte eine Art Jedi-Gedankentrick am Theaterpersonal an und so hatten wir eine Loge ganz für uns. Danach gingen wir ins Ritz und bestellten in dem Wissen, dass wir nicht die geringste Absicht hatten, für irgendetwas zu zahlen, das Beste von allem. Hey, ich sorge dafür, dass die Welt sicher und die Menschheit geschützt ist. Mir stehen ein paar Sonderzulagen und Privilegien zu. »Eine interessante Produktion«, sagte ich zu Molly über den leicht gebräunten Toastscheiben, auf die wir Beluga-Kaviar gehäuft hatten. »Ja - aber warum diese Besessenheit, erfolgreiche Filme in Bühnenmusicals umzuschreiben? Und warum haben sie den Bryan-Adams-Song nicht gesungen? Er ist sowieso das Einzige, woran sich die Leute bei dem Film erinnern.« Ein paar Flaschen wirklich guten Champagner später gaben wir dem Kellner eine imaginäre Kreditkarte, tanzten im Tango die Treppe des Ritz hinunter und benutzten Merlins Spiegel, um nach Hause zu kommen. Wir gingen durch die Waffenkammer, wo der Waffenmeister auf uns wartete. Er sah gar nicht glücklich aus. »Was habt ihr euch dabei gedacht, mir diese vier Psychopathen zu schicken? Ich habe genug Ärger damit, die Psychopathen unter Kontrolle zu halten, die unter mir arbeiten! Und ich habe mehr als genug Arbeit, auch ohne die besonderen Bedürfnisse eurer Freunde zu befriedigen!« Ich sah mich um, aber von meinen Tutoren war nichts zu sehen. Ich sah den Waffenmeister misstrauisch an. »Onkel Jack, was hast du mit ihnen gemacht?« Er zog beleidigt die Nase hoch. »Ich habe sie Penny überlassen, damit sie auf sie aufpasst. Du weißt ja, wie sie es liebt, Dinge zu organisieren. Und Leute.« Ich sah ihn an, erschrocken und plötzlich stocknüchtern. »Du hast was gemacht? Sie ist niemals in der Lage, mit einer so gefährlichen Bande fertig zu werden. Allein schon der Blaue Elf könnte Penny völlig fertigmachen, ohne in Schweiß auszubrechen, von Mr. Stich mal gar nicht zu reden! Wo sind sie jetzt?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Frag Penny. Und jetzt raus hier. Ich muss mich um ein Taschenuniversum kümmern, dass Stabilisierung braucht.« Ich aktivierte meine geistige Verbindung zu Seltsam im Sanktum. »Roter Alarm, Notfall, Notfall!« »Hi, Eddie! Willkommen zurück. Hattest du eine schöne Zeit in der Stadt? Hast du mir was mitgebracht, ein Geschenk?« »Lass das jetzt.« »Hast du nicht, oder? Du hast mich einfach vergessen.« »Wo sind Penny und die vier Tutoren, die sie beaufsichtigen sollte?« »Sie sind natürlich in ein paar der Hörsäle. Sie hat schon die ersten Seminare organisiert, sie laufen bereits. Das ist alles so aufregend!« Ich unterbrach die Verbindung zu Seltsam, bevor ich etwas sagen konnte, was ihm und mir später leid tun würde, und benutzte Merlins Spiegel, um Molly und mich direkt zu den Vorlesungssälen im Südflügel zu bringen. Ich hatte dieses schreckliche Bild vor meinem geistigen Auge: Ein ganzer Hörsaal voller toter Droods, mit Blut, das die Gänge zwischen den Stuhlreihen herunterlief, während Janitscharen Jane und Mr. Stich mit ihren abgeschlagenen Köpfen Football spielten. Aber als wir in der Lobby vor den Hörsälen ankamen, schien alles ruhig und still zu sein. Penny ging seelenruhig auf und ab und hörte mal an der einen, dann an der anderen Tür. Sie zuckte ein wenig zusammen, als Molly und ich durch den Spiegel kamen und kam dann zu uns herübergelaufen. Sie bedeutete uns, leise zu sein. »Vielen Dank für diese vier!«, sagte sie, und weil sie flüsterte, kam der begeisterte Dank ein wenig gedämpft rüber. »Gib dem Waffenmeister die Schuld«, sagte ich automatisch. »Wo sind sie, Penny? Hat es Ärger gegeben?« »Überhaupt nicht«, sagte sie. »Ich dachte, es sei das Beste, wenn ich sie gleich alle miteinander zum Arbeiten schicke. Und die Familie mal sehen lasse, was sie tun können. Also habe ich jedem einen Hörsaal gegeben, damit sie über das reden können, was immer sie wollen - und sehr zu meiner Überraschung flutscht es. Es funktioniert prima. Es gibt nur noch Stehplätze, in allen vier Sälen, und wann hatten wir das das letzte Mal?« »Und es hat keine … Vorfälle gegeben?«, fragte Molly. »Noch nicht«, erwiderte Penny. »Ein Teil von mir wartet noch darauf, dass die Bombe platzt.« »Warum flüstern wir?«, flüsterte ich. Penny hob eine Augenbraue. »Wir wollen sie doch nicht unterbrechen, oder?« Ich ging zur nächsten Tür hinüber und schlüpfte leise hinein, um mich hinten hinzustellen. Molly war schnell neben mir. U-Bahn Ute war vorn am Pult, ging hin und her und bombardierte das faszinierte und von ihrer Erzählung gefesselte Publikum damit, wie es war, am Rand der Gesellschaft zu leben. In der Stadt zu sein, aber kein Teil davon, allein und ohne Unterstützung, nur auf den eigenen Verstand angewiesen, um zu überleben. »Ihr wisst nicht, wie leicht es ist, durch das Raster zu fallen«, sagte sie. »Alles, was es braucht, ist ein richtig mieser Tag und ihr könntet enden wie ich. Ich hatte einmal ein Heim, einen Job und ein Leben. Ich hatte Freunde und eine Familie. Und dann habe ich sie einer nach dem anderen verloren, alle. Ich habe sie verloren oder sie wurden mir genommen. Und schließlich endete ich als eine Obdachlose, lebte auf den Straßen. Denn selbst wenn du nichts mehr hast, sind die Straßen doch immer noch da. Nach einiger Zeit wurde ich zur Glücksvampirin und habe mir ein neues Leben aufgebaut. Ich hätte in mein altes Leben zurückkehren können, aber ich wollte es nicht mehr. Aber wieder war nur ein einziger mieser Tag nötig und ich habe noch einmal alles verloren. Was ihr lernen müsst, ist, sich niemals auf andere zu verlassen, nur auf euch selbst. Weil es nichts gibt, was ihr haben könnt, das die Welt euch nicht wegnehmen kann.« Die Zuhörer waren völlig gefesselt, atemlos. Sie hatten noch nie jemanden wie U-Bahn Ute getroffen. Ich schlich mich aus der Hintertür, Molly hinter mir her und wir gingen, um nach Mr. Stich zu sehen. Er stand völlig entspannt auf der Bühne und funkelte sein ähnlich gefesseltes Publikum an, während er ihnen von der Kunst des Tötens, dem Verfolgen von Opfern und den Freuden des Abschlachtens erzählte - und wie selbst der kleinste Spross des Bösen in einem Menschen aufkeimen und ihn korrumpieren kann. Er sprach davon, die Beute zu jagen, unverdächtig ein Ziel zu verfolgen, tagelang oder sogar wochenlang, wenn nötig. »Sie müssen diese Dinge wissen«, sagte er. »Sie haben Ihre legendäre Rüstung nicht mehr, Sie sind keine unüberwindlichen Krieger mehr, also müssen Sie zu Jägern werden. Sie müssen sich die Techniken des Hinterhalts und des Kampfes und des Tötens aneignen. Und darüber weiß niemand mehr als ich. Lernen Sie von mir und ich garantiere Ihnen, dass die meisten von Ihnen den großen Krieg, der kommen wird, überleben werden.« Im nächsten Hörsaal lümmelte der Blaue Elf auf einem Barhocker auf dem Podium und nippte an einem Cocktail mit einem kleinen Papierschirmchen darin. Er hielt einen Vortrag über Elben und ihre oft unerwarteten Einmischungen in die moderne Welt. »Elben und Elfen gibt es schon lange nicht mehr«, sagte er leichthin. »Sie wanderten vor Jahrhunderten neben die Sonne und verließen unsere Welt für immer. Jeder weiß das, aber - wie ebenfalls jeder weiß - ist das einfach Schwachsinn. Die meisten Elfen und Elben sind weg, aber einige gibt es immer noch und sie sind auf Rache aus. Sie hassen die Menschheit, weil sie die Welt regieren, die einst ihnen gehörte und sie leben, um uns zu schaden und uns fertigzumachen. Sie werden auf jedermanns Seite stehen, oder auf der Seite von jedem Ding, wenn es ihnen bei ihrer bitteren, endlosen Sache nutzt.« Und zuletzt hörten wir Janitscharen Jane zu, wie sie der Familie erzählte, wie man Dämonen bekämpft. Sie marschierte auf ihrem Podium hin und her. Ihre kalte, pragmatische Stimme ließ das, was sie zu sagen hatte, noch verstörender und beängstigender klingen. »Mit Dämonen kann man nicht diskutieren«, sagte sie rundheraus. »Man kann sie auch nicht bestechen. Man kann mit ihnen nicht verhandeln. Sie sehen uns nur als Gegenstand; etwas, das man benutzen kann. Einige kommen aus der Hölle, andere aus der Vergangenheit oder der Zukunft und einige von anderen Welten oder aus anderen Dimensionen. Das ist egal. Alles, woran ihr euch erinnern müsst, ist, dass sie nur existieren, um das, was ihr liebt, zu zerstören. Sie nehmen euch euer Leben, eure Welt, eure Seelen und benutzen alles für ihre eigenen Zwecke. Es sind Heuschrecken, die über eine Gegend herfallen und nichts übrig lassen - wenn ihr sie nicht mit allem, was ihr habt, bekämpft. Ihr werdet lernen müssen, zu kämpfen wie eine Armee, denn das hier ist ein Krieg. Ihr könnt keine Krieger mehr sein, die eigene Duelle ausfechten. Ihr könnt keine Helden mehr sein. Ihr müsst zu Soldaten werden, die für eine größere Sache kämpfen. Ihr müsst lernen, in einer Armee zu kämpfen, denn es gibt Armeen von ihnen.« Penny lächelte, als Molly und ich ein wenig überwältigt in die Lobby zurückkamen. »Na, Eddie«, sagte sie. »Sieht fast so aus, als hättest du mal was richtig gemacht.« »Siehst du wohl«, erwiderte ich. »Arsch«, sagte Molly. »Siehst du wohl, Arsch!«, antwortete ich. Kapitel Sieben Tausendundein Fluch Es war früher Nachmittag an einem sonnigen und lauen Sommertag. Das Gelände des Herrenhauses summte in organisiertem Chaos. Janitscharen Jane übte mit der halben Familie Militärmanöver. Eingeteilt in Gruppen, die so knackige, effiziente Namen wie Alpha, Beta und Omega trugen, rannten Männer und Frauen die Wiesen herauf und herunter, schrien ihre Schlachtrufe hinaus und erschreckten damit die Greifen. Eine Gruppe griff die andere mit falscher Munition, Holzschlägern und sogar blanken Fäusten an und dann versammelten sich alle wieder völlig fertig unter Janes gebellten Befehlen. Ich beobachtete das alles von einem bequemen Liegestuhl aus und fand, dass sie wirklich eine gute Figur machten. Auch wenn sie dabei die sorgfältig gepflegten Rasenflächen verwüsteten. Das Gärtner-Team hatte bereits sämtliche Spaten hingeschmissen und sich zum gemeinsamen Schmollen und Lästern in den Schuppen verzogen. Janitscharen Jane hielt die Familie jetzt schon seit zwei Wochen mit diesen Übungen auf Trab und ich musste zugeben, dass die ganze Familie sich bei militärischer Disziplin und dem Training wohlfühlte wie ein Fisch im Wasser. Wir waren alle von klein auf darauf trainiert, den guten Kampf zu kämpfen, aber die Rüstungen hatten es uns einfach gemacht. Es ist nicht schwierig, mit ein paar Soldaten fertig zu werden, wenn man eine Rüstung hat, die einen schnell und stark macht und einen davor bewahrt, verletzt zu werden. Trotzdem zeigen nicht viele die Begabung. Das ist der Grund, warum die Frontagenten in der Familie immer nur einen kleinen Teil ausmachten. Das Training ohne die Rüstung war etwas komplett anderes. Man konnte verletzt werden, und der Gegner ebenfalls. Überraschenderweise hatte das nicht so viele Familienmitglieder abgeschreckt, wie ich vermutet hatte. Im Gegenteil, sie hatten sich begeistert auf die Möglichkeit gestürzt. Weil es sich … echt anfühlte. Ihre Bemühungen fühlten sich einfach realer an. Und sie beteten Jane förmlich an, die alles getan hatte, was die Droods schon immer getan hatten und noch mehr, und das ohne die Hilfe einer Familienrüstung. Penny kam über den Rasen geschlendert, um mir Gesellschaft zu leisten; sie sah in einem blendend weißen Sommer-Outfit trotz der Sommerhitze kühl und konzentriert aus. Sie stand über mir und ich bot ihr ein Glas Champagner aus der offenen Flasche an, die kühl in einem Eimer voll Eis neben mir stand. Sie schnaubte geringschätzig. »Bist du sicher, dass es bequem genug für dich ist, Eddie? Hast du alles, was du brauchst? Vielleicht sollte ich schnell zurücklaufen und noch einen Fußschemel für dich holen!« »Oh, das würdest du tun?«, fragte ich. »Ich wäre dir ja so dankbar!« »Schlag dir das aus dem Kopf.« Penny sah auf die Männer und Frauen, die in ihren Gruppen aufgeregt hin und her flitzten und sich mit höchstem Eifer und Begeisterung aufeinander warfen. »Es scheint, als gewöhnten sie sich dran, nicht wahr?« »Verdammt richtig«, sagte ich. »Ich bin schon vom Zusehen erschöpft. Und was noch wichtiger ist, das Ganze ist verflixt gut für die Familienmoral. Alles, was sie erreichen, haben sie selbst erreicht, nicht dank ihrer Rüstung. Es tut Wunder für ihr Selbstbewusstsein.« Penny sah mich an. »Und das ist genau der Grund, warum du Janitscharen Jane hierher gebracht hast.« »Um ein Beispiel zu setzen, ja. Ich habe der Familie den Boden unter den Füßen weggezogen, als ich ihnen die goldenen Rüstungen wegnahm. Ihren Stolz, ihr Selbstvertrauen und ihren Glauben an sich selbst. Janitscharen Jane prügelt es ihnen wieder ein, und sie lieben es.« »Ich nehme an, du hast gesehen, dass Harry sich das alles aus gebührendem Abstand ebenfalls ansieht, zusammen mit seinen traditionalistischen Kumpels?« »Natürlich«, erwiderte ich. »Er will an nichts teilnehmen, was ich organisiere, aber er verpasst nichts von dem, was passiert. Er macht sich wahrscheinlich Notizen für seinen regelmäßigen Bericht an die Matriarchin. Sie darf nicht dabei erwischt werden, dass sie selbst Interesse bekundet, aber seit er hier ist, dient Harry als ihre Augen und Ohren.« »Ich hab dir gesagt, wir hätten ihn in den Inneren Zirkel aufnehmen sollen«, sagte Penny. »Man sollte seine Feinde nah bei sich behalten und so.« »Nein«, sagte ich rundheraus. »Ich vertraue ihm nicht.« »Das sagst du ständig, aber du willst mir nicht sagen, warum.« Penny wartete, aber ich hatte nicht mehr zu sagen. Sie seufzte tief. »Na gut, sein bester Freund ist ein Höllengezücht, aber du bist mit der Hexe der Wilden Wälder zusammen. Und die hast du auch in den Inneren Zirkel gelassen.« »Ich vertraue Molly«, sagte ich. »Zum Teufel, ich vertraue sogar dir, Penny, mein Liebling. Harry dagegen ist vielleicht ein wenig zu sehr wie ich selbst. Ausgekocht, verschlagen und immer nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht.« »Du hast sogar den Seneschall in den Inneren Zirkel gebracht«, sagte Penny. »Und du hasst seinen Schneid. Und du weißt sehr gut, dass er alles, was wir sagen, der Matriarchin hinterbringt.« »Cyril ist anders«, sagte ich. »Ich kann ihm vertrauen, dass er das Wohl der Familie über alles andere setzt. Sogar über die Matriarchin.« »Nun. Ich hasse es wirklich sehr, diese wichtige Faulenzerei zu unterbrechen, der du dich so hingebungsvoll widmest, aber ich bin geschickt worden, um dich energisch daran zu erinnern - und das mit Gewalt, wenn notwendig -, dass es Zeit für ein Treffen des Inneren Zirkels im Sanktum ist. Wir haben endlich die Liste der Kandidaten für die neuen Rüstungen für dich zur Prüfung.« »Wurde ja auch Zeit«, sagte ich und stand ungraziös aus dem Liegestuhl auf. Nicht allzu weit entfernt, verloren zwei Teams von Übungskriegern die Geduld und sprangen aufeinander zu, wälzten sich krakeelend über den Rasen hin und her, mit fliegenden Fäusten, Tritten und gelegentlichen Bissen. Janitscharen Jane eilte hinüber, um sie auseinanderzuprügeln und ich entschied mich, sie sich selbst zu überlassen. Sie würden eben ohne meinen moralischen Zuspruch auskommen müssen. Wir trafen uns im Sanktum und unter dem beruhigend roten Leuchten des sich manifestierenden Seltsam. Wir hatten uns alle an den Namen gewöhnt, obwohl es hartnäckig darauf bestand, dass Ethel viel besser zu ihm passe. Irgendwo muss man ja eine Grenze ziehen. Der Waffenmeister war natürlich schon da, der Seneschall ebenfalls. Molly wartete an der Tür, als Penny und ich ankamen. Sie sah Penny lange und ein wenig giftig an und ich glättete die Wogen, indem ich meinen Arm durch ihren steckte, als wir den Rest des Inneren Zirkels betraten. »Jacob fehlt noch«, sagte der Waffenmeister, ohne sich lang mit den üblichen Hallos und Wie-Geht's aufzuhalten. »Es ist zwei Wochen her, dass ihn irgendjemand gesehen hat. Er ist nicht in der alten Kapelle und selbst die kopflose Nonne hat klagend gefragt, was denn mit ihm passiert ist. Was sie allerdings an ihm findet … Ich glaube langsam, dass ihm etwas passiert ist.« »Könnte ihm überhaupt etwas passieren?«, fragte Penny. »Ich meine, er ist tot. Seit Jahrhunderten.« »Es ist viel wahrscheinlicher, dass er etwas plant«, grummelte der Seneschall. Seitdem er sich als Cyril geoutet hatte, war die Tonlage seiner Stimme deutlich dunkler geworden. »Zweifellos etwas Übles und Mieses, das er schrecklich lustig findet.« »Jacob kann auf sich selbst aufpassen«, sagte ich entschieden. »Ich bin sicher, er wird wieder auftauchen, wenn er gebraucht wird. Ob wir das wollen oder nicht. In der Zwischenzeit - Penny hat mir gesagt, dass ihr euch endlich auf eine Liste von möglichen Kandidaten für eine neue Rüstung geeinigt habt.« »Ja, endlich«, meinte der Waffenmeister und funkelte jeden gleichermaßen an. »Wir sind nach einem entsprechenden Prozess, reiflicher Überlegung, Schreien und Haareraufen auf fünfzig Namen gekommen.« »Das heißt«, fügte der Seneschall düster hinzu, »dass es auch an der Zeit ist, um über unseren ersten Angriff zu reden. Wir müssen unsere Stärke zeigen, so bald wie möglich. Der Welt beweisen, dass wir stark und geeint sind, und nach wie vor eine Macht, mit der man rechnen muss.« »Nein«, sagte Penny sofort. »Wir sind noch nicht so weit. Wir brauchen mehr Zeit, mehr Training und verdammt viel mehr als fünfzig Torques, bevor wir erfolgreich ins Feld ziehen können.« »Das sieht für mich aber schon ganz gut aus«, sagte ich sanft. »Und ausnahmsweise bin ich der gleichen Meinung wie der Seneschall - also streicht den Tag rot im Kalender an. Wir müssen etwas Großes und Aggressives tun und wir müssen es bald tun. Einige Politiker und andere Feinde werden zunehmend unruhig. Aus aller Welt treffen Berichte ein über Säbelrasseln zwischen verschiedenen Ländern, Invasionen und Einmärsche. Damals, als wir noch mit goldener Faust regiert haben, passierte so etwas nicht und alle waren nett zueinander. Dann sind da all die üblichen Verdächtigen, die immer wieder hier und da für Ärger sorgen, nur um mal auszuprobieren, wie weit sie gehen können. Dr. Delirium, das Kalte Eidolon und Truman in seiner neuen Basis, wo auch immer das ist. Ich kann übrigens nicht glauben, dass wir da noch nicht mehr wissen. Erinnert mich daran, dass ich da noch in ein paar Hintern trete. Nein, Leute, wir müssen sofort etwas unternehmen. Etwas Schock und Ehrfurcht in die Feinde prügeln, beweisen, dass wir noch mitmischen und dass den bösen Jungs ernsthaft der Hintern versohlt wird.« »Dann nenn uns ein Ziel«, sagte der Seneschall. »Egal wen, Hauptsache, er ist eine Gefahr. Du redest doch immer von den Abscheulichen?« »Das geht mir alles zu schnell«, sagte Penny stur. »Etwas unternehmen, bevor wir so weit sind, könnte nach hinten losgehen. Wir können es uns nicht leisten, der Welt zu zeigen, wie schwach wir sind.« »Woran willst du erkennen, wann wir so weit sind?«, fragte Molly vernünftigerweise. »Training kann dich nur bis zu einer bestimmten Stärke bringen. Manchmal muss man die Küken aus dem Nest werfen und hoffen, dass sie fliegen.« »Ich weiß nicht, ob das was nützt«, sagte Seltsam auf einmal dazwischen. »Aber ich habe hier einen Bericht aufgefangen, der gerade in den Lageraum gekommen ist. Es scheint drinzustehen, dass wir definitiv einen Ort haben, an dem sich eine ungewöhnliche Menge von Abscheulichen versammelt hat.« Wir alle richteten uns auf und sahen uns an. Es hatte schon eine ganze Weile Berichte gegeben, dass sich die Abscheulichen in ungewöhnlichen Mengen versammelten, besonders irgendwo unten in Südamerika. »Wo?«, fragte ich. »In der Nazca-Ebene«, sagte Seltsam. »Wisst ihr, da, wo all diese riesigen Linien in den Boden gegraben sind, die Formen ergeben, die man nur aus dem Orbit oder so erkennen kann. Von Däniken hat in seinem Buch Erinnerungen an die Zukunft behauptet, dass sie Landeplätze für UFOs waren.« »Jetzt warte mal«, meinte Molly. »Du hast Däniken gelesen?« »Aber sicher!«, erwiderte Seltsam. »Lachen ist gesund.« Also machten wir uns alle auf in den Lageraum und gaben uns dabei Mühe, nicht allzu hastig zu sein, damit wir keine Aufmerksamkeit auf uns zogen. Die Familie überwachte alles, was der Innere Zirkel tat, mit großem Interesse und sie liebten den Klatsch über alles. Wenn wir unseren ersten Angriff planten, dann wollte ich die Information nicht im Voraus preisgeben. Der Mitarbeiterstab im Lageraum war mehr als nur ein wenig überrascht, uns zu sehen, weil der Bericht über die Abscheulichen von unserem Frontagenten, einem Callan Drood, immer noch übertragen wurde. Wir hatten derzeit kaum Agenten draußen und es war schwer, irgendjemanden dazu zu bekommen, sich ohne Torques freiwillig zu melden. Die Droods hatten eine Menge Feinde. Glücklicherweise waren die jüngeren Mitglieder scharf darauf, sich zu beweisen und hoffentlich auf der Überholspur, um eine der neuen Rüstungen zu bekommen. Ich kannte Callan. Ich war von seiner Einstellung und seiner Gründlichkeit beeindruckt gewesen, als ich erfuhr, dass er das Team anführte, das Trumans alte Wirkungsstätte unter London durchsucht hatte. Ich hatte vorgeschlagen, dass er sich ja als Frontagent freiwillig melden könnte und er hatte begeistert zugestimmt. Auch wenn er natürlich sarkastisch und voreingenommen hatte tun müssen, konnte er so doch auch vorgeben, ich hätte ihn wider besseres Wissen überredet. Er wollte nicht, dass irgendjemand dachte, das sei ein Kinderspiel gewesen. Ich hatte gelächelt und ihn nach Südamerika geschickt. Und jetzt war er derjenige, der die Abscheulichen für uns gefunden hatte. Ausgerechnet Südamerika. Was zum Teufel wollten sie bloß in Südamerika? Callans Gesicht füllte einen der Hauptbildschirme. Er sah nicht sonderlich glücklich über die Lage aus, aber das tat er nie. Sein jugendliches, breites Gesicht war sonnengebräunt, sein dünnes blondes Haar klebte am Kopf und der Schweiß lief in Strömen an ihm herunter. Alles, was ich im Hintergrund sehen konnte, war ein großes plumpes Gesicht aus dunklem Sandstein und ein Himmel, der so blau war, dass es beinahe in den Augen wehtat. »Wird auch Zeit, dass ihr euch meldet«, sagte er. »Es sind 55 Grad im Schatten und es gibt keinen Schatten hier. Verdammt unnatürliche Hitze. Sobald diese Einsatzbesprechung beendet ist, werde ich nach einem Swimmingpool suchen und ihn austrinken. Ich seh' hier grade über die Nazca-Ebene. Die Abscheulichen kommen seit ungefähr sechs Monaten hier hin. Sie bauen da draußen in der Ebene irgendetwas. Ich weiß nicht, was, aber den Anblick mag ich trotzdem nicht. Die lokalen Behörden wurden bestochen, sich rauszuhalten und die ganze Region ist für Touristen gesperrt. Überall auf den hinführenden Wegen stehen Straßensperren und sorgen dafür, dass niemand zu viele Fragen stellt.« »Kannst du das Ding beschreiben, dass sie da bauen?«, fragte der Waffenmeister. »Nicht so richtig. Es ist groß, vielleicht dreißig, fünfunddreißig Meter hoch und halb so breit. Einiges scheint maschinell zu sein und einiges nicht und es bereitet mir Kopfschmerzen, wenn ich nur hinsehe. Es gibt Hunderte von Abscheulichen hier, die das ganze verdammte Ding umschwärmen und immer wieder etwas hinzufügen.« »Könnte irgendeine Waffe sein«; sagte der Waffenmeister. »Nein, tatsächlich?«, fragte Callan. »Und ich dachte schon, dass das möglicherweise das Herzstück des neuen Themenparks der Abscheulichen wäre! Hört mal, schwingt die Hufe und kommt her, ja? Die ganze Sache macht mir echt riesige Angst. Bringt Verstärkung mit. Und kalte Drinks.« »Könnte diese neue Konstruktion irgendetwas mit den alten Linien auf der Ebene zu tun haben?«, fragte Penny. »Und der ungewöhnlich hohen Temperatur?« »Ich habe verdammt noch mal keine Ahnung«; sagte Callan. »Jedenfalls nicht erkennbar.« »Diese Linien sind Tausende von Jahren alt«, meinte Penny und runzelte die Stirn. »Es gibt sie schon so lange in dieser Form, dass sich keiner mehr erinnert, wer sie gezogen hat und warum. Sie sind sogar älter als die Familie.« »Vielleicht finden wir etwas in der Bibliothek darüber«, schlug der Waffenmeister vor. »Der Ort kann kein Zufall sein«, überlegte der Seneschall. »Callan, bist du sicher, dass es da keine Verbindung gibt?« »Hört mal, ich erzähle euch nur, was ich sehe. Und ich komme nicht näher heran, um einen genaueren Blick drauf zu werfen. Die Abscheulichen haben alles und jeden angegriffen, was sich auf der Ebene zeigt und ich mag meine Seele genau da haben, wo sie ist, vielen Dank. Wenn ihr mehr über die Linien wissen wollt, lest euren Däniken selber.« »Sag nur nicht, du hast ihn auch gelesen«, fragte Molly. »Natürlich. Er hat eine Menge guter Erkenntnisse. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schwören, er ist einer von uns.« »Danke, Callan«, schaltete ich mich ein. »Behalte die Sache im Auge, bis wir ankommen und berichte über alles, das sich bewegt.« »Vergesst die kalten Drinks nicht.« Ich machte eine Geste hinüber zu den Jungs an der Bildübertragung und sah den Rest meines Inneren Zirkels an. »Das ist es. Die Gelegenheit, auf die wir gewartet haben. Die Abscheulichen tauchen in ungeahnter Menge auf und bauen … Was? Vielleicht eine neue Superwaffe? Wir können ihnen nicht erlauben weiterzumachen.« »Ich weiß nicht, ob ›ungeahnt‹ der richtige Ausdruck ist«, sagte der Waffenmeister nachdenklich. »Ich erinnere mich an etwas Ähnliches, damals, zu meines Großvaters Zeiten … Ich muss es in den Familienchroniken nachsehen.« »Normalerweise übernehmen sie nichts Größeres als eine kleine Stadt«, sagte Penny. »Und selbst dann kostet es sie große Mühen, das vor dem Rest der Welt zu verbergen. Diese Art, etwas vor den Augen der Öffentlichkeit abzuwickeln, passt nicht zu ihnen.« »Meinst du, es ist eine Falle?«, sagte Molly. »Ich sehe nicht, wie«, meinte ich. »Sie sind draußen, ganz offen. Und das Ding, das sie da bauen, macht mir Sorgen. Nein, wir haben unser erstes Angriffsziel. Eine größere Versammlung der Abscheulichen auszuradieren ist der beste Weg, der Welt mitzuteilen, dass man immer noch mit uns rechnen muss.« »Aber wir wissen nicht genug über die Lage«, wandte Penny dickköpfig ein. »Wir haben keine Ahnung, was sie da bauen, oder was für Gefahren drohen, wenn wir es zerstören. Wir wissen nicht mal sicher, was die Abscheulichen für Schutzmechanismen angewandt haben. Wir brauchen mehr Informationen, bevor wir einen größeren Angriff planen.« »Wir kommen nur an mehr Informationen, wenn wir da runterfahren und die Abscheulichen treten, bis sie uns sagen, was sie vorhaben«, meinte der Seneschall. »Ganz genau«, erwiderte ich. »Wir sind jetzt am Zug, solange sie das, was sie da machen, noch nicht beendet haben und bevor sie merken, dass wir davon wissen. Wir bringen unsere Armee hin, angeführt von den neuen Torques, zerstören so viele Eklige wie möglich und reißen alles nieder, was wir dort finden. Ich habe gesagt, dass wir einen Krieg gegen die Abscheulichen führen werden und das wird ein hervorragender Beginn sein. Penny, sag' der Familie, dass wir bereit sind, die ersten fünfzig Rüstungen auszugeben. Wir werden eine zünftige Zeremonie daraus machen. Die neuen Ritter in den Rüstungen der Drood-Familie.« »Willst du nicht erstmal die Namen prüfen?«, fragte Penny. »Nein«, antwortete ich. »Ich vertraue deinem Urteil. Ist denn einer dabei, bei dem ich Einwände haben könnte?« »Nur einer«, erwiderte Molly. »Harry.« »Ich wäre überrascht gewesen, wenn er nicht auf der Liste gewesen wäre. Er ist ein erfahrener Frontagent. Und James' Sohn.« »Aber du vertraust ihm nicht«, meinte Penny. »Natürlich nicht. Er ist James' Sohn.« Wir hielten die große Torques-Übergabezeremonie im Sanktum ab, um die Verleihung von fünfzig neuen Rüstungen an verdiente Familienmitglieder zu feiern. Das Sanktum war von einer Wand zur anderen mit aufgeregten Familienangehörigen vollgepackt, die Schulter an Schulter standen. Noch mehr waren draußen im Gang. Wir mussten im ganzen Herrenhaus Videoschirme aufstellen, damit jedes Familienmitglied das Ereignis sehen konnte. Das war der Beginn einer neuen Ära für die Droods und ich wollte, dass jeder sich als Teil davon fühlte. Selbst die Matriarchin und ihr Fußvolk sahen von ihrer Suite aus zu. Ich sah nach. Seltsam sandte sein wohltuendes Licht über uns alle, und übertrug sogar passende Musik, komplett mit Trompeten und Fanfaren an den richtigen Stellen. Einer nach dem anderen kam nach vorne und kniete vor dem scharlachroten Leuchten - alle fünfzig, die wenigen Auserwählten, die neuen Ritter der Familie - und aus dem Nichts erschienen silberne Reifen um ihren Hals. Für jeden Namen erklang großer Jubel, und die Familienmitglieder applaudierten, bis jedem die Hände wehtaten. Überall gab es Lächeln und Tränen und eine Menge Getrampel. Jeder schien zu denken, dass diese Torques etwas Besonderes waren, weil sie sich die Rüstungen verdient hatten. Am Ende schubste mich der Innere Zirkel nach vorn, damit ich ein paar passende Worte sagte. Ich wollte das eigentlich nicht, aber jeder schien das von mir zu erwarten. Ich bekam ordentlich Applaus, als ich vortrat, wenn auch vielleicht keinen so großen wie die auserwählten Fünfzig, und er erstarb auch schnell, als ich meine Hände hob und mit einer Geste um Ruhe bat. »Das ist der Beginn eines neuen Tages«, sagte ich. »Für die Familie und die Welt. Wir sitzen nicht mehr herum und erwarten die Gefahren, um erst dann darauf zu reagieren. Wir werden den Feind bekämpfen. Und wir werden damit anfangen, die Abscheulichen zu schlagen! Ich werde eine Kampfgruppe gegen ihre neue Operationsbasis anführen, fünfzig Männer und Frauen mit Rüstungen und zweihundert Freiwillige, die mit dem Allerbesten ausgerüstet werden, das die Waffenmeisterei hergibt. Begrüßt diese Krieger! Die Droods ziehen in den Krieg und die Abscheulichen sind Geschichte! Merkt euch diesen Tag, meine Familie, meine Freunde. Es ist an der Zeit, der Welt zu zeigen, dass die Droods wieder jemand sind!« Danach fragte mich Molly: »Wer hat dir bloß gesagt, dass du eine Rede halten kannst?« »Es ist ein dreckiger Job«, sagte ich. »Aber irgendjemand muss ihn tun!« Wir flogen mit der Familienflotte von Black Hawks nach Südamerika. Große schwarze Biester im Himmel, elegant und schnittig und angetrieben von kraftvollen Maschinen, die wir aus einem Alien-Raumschiff geborgen haben, das 1947 in einem Feld bei Wiltshire eine Bruchlandung hinlegte. Fünf Flugzeuge, die fünfzig Männer und Frauen mit ihren Rüstungen transportierten, zweihundert Freiwillige, mich selbst, Molly, Janitscharen Jane und Mr. Stich - und Harry und Roger Morgenstern. Ich wäre auch ohne Letzteren ausgekommen, aber Harry hatte ohne ihn nicht gehen wollen. Molly und ich waren dabei, weil ich es so gewollt hatte, Janitscharen Jane, weil sie die Leute trainiert hatte und mehr über die Bekämpfung von Dämonen wusste, als wir anderen zusammengenommen, und Mr. Stich, weil … na ja, hauptsächlich, weil ich einen teuflischen, übernatürlichen Serienkiller auf meiner Seite haben wollte, falls irgendetwas schiefgehen sollte. Und weil ich ihn in meiner Nähe haben wollte, wo ich ein wachsames Auge auf ihn haben konnte. Mr. Stich hatte sich dem Rest von uns nicht angeschlossen, als wir die Rüstungen im Sanktum vergeben hatte, aber ich hatte das auch nicht erwartet. Er war nicht gerade ein geselliger Mensch. Also schickte ich nach der Zeremonie Penny zu ihm, um ihm von dem bevorstehenden Angriff auf die Abscheulichen zu erzählen. Als sie nicht in einem angemessenen Zeitraum zurück war, war ich schon ein bisschen beunruhigt. Ich fand eine stille Ecke, schloss die Tür ab, stellte Merlins Spiegel entsprechend ein und befahl ihm, nach Penny und Mr. Stich zu suchen, egal, wo sie sich befanden. Mein Spiegelbild verschwand und die beiden erschienen darin, einträchtig im Park spazierend. Einfach nur herumschlendernd und schwatzend. Penny schien in Mr. Stichs Gegenwart völlig entspannt, selbst nachdem ich mich selbst übertroffen hatte, ihr zu beschreiben, was er war und was er getan hatte. Ihre Stimmen waren für mich klar zu hören. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie der Typ für Frischluft und offene Landschaften sind«, sagte Penny. »Ich hatte Sie als Stadtmensch eingeschätzt.« »Ich bin lieber hier draußen«, sagte Mr. Stich. »Ist das Zimmer, das wir Ihnen gegeben haben, nicht bequem genug?« »In all den Jahren habe ich eine Menge Zimmer kennengelernt«, sagte Mr. Stich. Er hatte seinen Blick geradeaus gerichtet und sah Penny nicht an. »Sie sind eigentlich immer gleich. Einfach Orte, an denen ich für eine Weile bleiben kann, bevor ich weiterziehen muss. In der letzten Zeit habe ich ein kleines Notizbuch bei mir, um mich daran zu erinnern, wo ich übernachte und welchen Namen ich gerade verwende. Für mich gibt es kein Heim, nicht mehr. Das ist eins der vielen menschlichen Dinge, die ich aufgeben musste, um zu werden, was ich bin. Mein Zimmer hier ist absolut passend. Sogar luxuriös. Aber nein, ich fühle mich nicht wohl hier im Herrenhaus. Mir wird nicht gestattet, zu töten und die Versuchung ist groß. Das ist wider meine Natur. Es nagt an meiner Seele, bis ich nichts anderes als Blut sehen kann. Und deshalb verbringe ich so viel Zeit in Ihrem großen Park, fort von der … Versuchung.« »Ich glaube, ich habe Sie noch nie so viel auf einmal sagen hören«, meinte Penny. »Sie sind ein sehr interessanter Mann, Mr. Stich.« Er sah sie das erste Mal an. »Sie haben keine Angst vor mir?« »Ich bin eine Drood«, erwiderte Penny. »Es braucht schon einiges, uns Angst einzujagen. Außerdem sind Sie bald in Südamerika, um gegen die Abscheulichen vorzugehen. Da wird es selbst für Sie genug zum Töten geben, wissen Sie.« »Das ist nicht dasselbe«, sagte Mr. Stich. »Ich muss morden, das Fleisch zerschneiden und Blut vergießen, um das Leid in den Augen der Opfer zu sehen. Das tue ich. Es ist alles, was ich habe.« »Und Sie töten immer nur Frauen?« »Ja. Weil es nunmehr die einzige Form der Intimität ist, die ich kenne. Meine Strafe und meine Belohnung.« »Ist es wahr, … dass Sie all die Dinge getan haben, die man Ihnen nachsagt?« »Aber ja. All das und mehr. Machen Sie keinen Fehler, Penny: Ich habe schreckliche Dinge getan und darin geschwelgt. Ich habe meine Arme tief in die Eingeweide des Schreckens versenkt und rot tropfend bis zum Ellbogen wieder herausgezogen. Sie haben mich Jack the Ripper genannt und das war ich. Die Dinge, die ich Marie Kelly in diesem kleinen verlassenen Zimmerchen antat … Ich habe sie wie ein Buch geöffnet und ihre Geheimnisse gelesen. Ich habe einmal der Presse einen Brief geschickt, und habe ihnen meine Adresse gegeben - aus der Hölle stand darauf. Und das war erst der Anfang.« »Und Sie … müssen töten? Sie sind gezwungen dazu?« »Ja.« »Dann …, wenn Sie keine Wahl haben, dann ist es doch gar nicht Ihre Schuld, oder?« »Doch, das ist es, Penny. Ich habe diese sechs Frauen aus freiem Willen getötet. Ich habe die Agonie und den Schrecken in ihren sterbenden Augen genossen und ihre letzten Atemzüge wie den feinsten Wein gekostet. Und wenn diese besondere Form der Unsterblichkeit auch nicht das ist, was ich nach der Schlachtzeremonie erwartet hatte, es ist die Hölle, die ich für das Böse bekommen habe, damals in diesem ungewöhnlich warmen Herbst 1888.« »Aber hier haben Sie noch niemanden getötet«, bemerkte Penny. »Ich habe mein Wort gegeben. Aber es wird nicht lange halten. Das tut es nie.« »Das ist ein neuer Ort. So etwas wie das Drood'sche Herrenhaus haben Sie noch nie erlebt. Alles ist hier möglich. Selbst die Erlösung. Kommen Sie mit zurück ins Herrenhaus. Und vielleicht … vielleicht kann ich Ihnen zeigen, dass Sie stärker sind als Sie ahnen.« Er sah sie für einen langen Moment an. »Das kann nur übel enden, Penny.« »Das glaube ich nicht«, sagte Penny. »Ich habe so etwas nie geglaubt.« Ich sah durch den Spiegel, dass sie beiläufig einen Arm durch den seinen zog und ihn über die weiten, grünen Rasenflächen zum Haus zurückführte. Ich muss in meinem Flugzeugsitz eine Grimasse geschnitten haben, weil Molly mich mit dem Ellbogen in die Rippen stieß. »Was ist, Liebchen? Flugangst?« »Nein, das ist es nicht. Ich habe nur … nachgedacht.« »Hör mit den Grimassen auf, das macht nur Falten. Weißt du, das ist echt ein tolles Flugzeug, Eddie. Ich bin in allen Fluglinien Erste Klasse geflogen, natürlich mit gefälschten Tickets, aber keine kam all dem hier gleich. Echt komfortable Sessel, ein großer Spielraum für die Beine - und es scheint kaum so, dass wir uns bewegen. Ich glaube, selbst der US-Präsident hat es in der Air Force One nicht so bequem.« Ich musste bei ihrer Begeisterung lächeln. Ich war selbst ziemlich aufgeregt. Mir war nie erlaubt worden, ins Ausland zu reisen. Ich war auch noch nie geflogen. Ich sah die ganze Zeit aus dem Fenster um sicherzugehen, dass ich wirklich unterwegs war. Und doch … Da lag etwas in der Luft der langen Kabine, eine Atmosphäre von Spannung und Erwartung. Familienmitglieder mit und ohne Rüstung saßen nebeneinander, sie sprachen nicht viel und gaben vor, die Magazine und Bücher zu lesen, die sie mitgenommen hatten. Die getunten Antriebe der Blackhawkes würden uns in weniger als zwei Stunden an unser Ziel bringen, aber es war mehr als genug Zeit für jeden, über alles nachzudenken, das schiefgehen konnte. Da war ich nicht anders. Das war die erste große militärische Operation der Familie, seit ich das Kommando übernommen und alles geändert hatte. Wir mussten das hier gewinnen. Aus allen möglichen Gründen. Ich fragte mich außerdem, was ich wegen Penny und Mr. Stich unternehmen sollte. Es ist immer der böse Bube, der ein Mädchenherz höher schlagen lässt. Als ob ich mir nicht schon um genug Dinge hätte Sorgen machen müssen. Als wir den südamerikanischen Kontinent überflogen und über der Nazca-Ebene heruntergingen, waren wir alle über das Neue des Fliegens hinweg und mehr als bereit für ein bisschen Action. Molly konnte kaum darüber hinwegkommen, dass uns die Torques immun gegenüber jeder Form von Entdeckung machten - was hieß, dass unsere Flugzeuge ebenfalls so gut wie unsichtbar waren. Es gab faktisch nirgendwo Radar oder einen Spionagesatelliten, die unsere Gegenwart entdecken konnten. Nicht einmal für einen Moment. »Hör zu, vertrau mir«, sagte ich schließlich. »Keiner weiß, dass wir hier sind, keiner weiß, dass wir kommen. Verglichen mit uns sind Stealthbomber rosa angemalt, mit großen neonfarbenen Schildern, auf denen steht: Hey, Matrose, wie wär's mit uns? Das Einzige, was wir tun müssen, ist, andere Flugzeuge zu vermeiden, weil wir eben auf deren Radar nicht auftauchen. Wir bleiben in der Regel über allen Flugkursen, aber es besteht immer die Möglichkeit, in irgendein geheimes Militärmanöver zu geraten oder sogar auf gelegentliche UFOs zu treffen.« »Moment mal«, sagte Molly. »UFOs, wie fliegende Untertassen? Unheimliche Begegnungen der extrem unwahrscheinlichen Art, bei denen die Aliens einem was in den Hintern stecken? Wirklich?« »Nicht ganz so«, sagte ich. »Aber es gibt derzeit hundertsiebenunddreißig verschiedene Alien-Rassen auf der Erde, von denen wir wissen. Die meisten halten wir mit verschiedenen langjährigen Verträgen und Abkommen in Schach, andere treten wir ab und an, um sie daran zu erinnern, den Ball flach zu halten. Aber es gibt immer ein paar Unidentifizierte Objekte, die durch die Stratosphäre flitzen und die ihre eigenen, rätselhaften Missionen verfolgen. Und manchmal können die eine verdammte Plage sein.« »Wirkliche Aliens …«, staunte Molly. »Das ist echt der Hammer.« Ich musste lächeln. »Du hast keine Probleme damit, dass wir gerade unterwegs sind, einer Bande von Seelenfressern den Garaus zu machen, aber der Gedanke an Aliens ist erfreulich?« »Das sind zwei ganz verschiedene Dinge«, meinte Molly stur. »Ich treffe bei meiner Arbeit nicht gerade oft auf Aliens. Alles, was ich kenne, ist magisch. Vampire, Werwölfe, Ghouls, Geisterbeschwörer - alles kein Problem. Mit denen hab ich jeden Tag zu tun. Aber alles, was ich über Außerirdische weiß, habe ich aus Ridley Scotts Alien und John Carpenters Das Ding aus einer anderen Welt. Sag mir einfach, dass die nicht repräsentativ sind. Da muss es doch einen ET geben?« »Möchtest du die Wahrheit oder eine freundliche Notlüge?« »Ach, halt die Klappe. Sind wir noch nicht da?« Wir landeten auf einem privaten Flugfeld, weit weg von denjenigen Ausläufern der Zivilisation, die uns seltsame Fragen nach Pässen und Visa hätte stellen können. Die Familie besitzt oder mietet solche Plätze an allen möglichen Orten in der Welt für Fälle wie diesen. (Natürlich mit einer ganzen Menge falscher Namen und Sicherungen.) Alle verließen die Blackhawks, und die Hitze traf uns wie eine Wand. Die Sonne befand sich direkt über uns in einem wolkenlosen Himmel und meine Haut schmerzte auf der Stelle vor Hitze. Ich aktivierte sofort die Rüstung, nur aus Selbstschutz. Die Familie konnte keinen Heerführer mit Sonnenstich brauchen. Alle anderen Torques-Besitzer taten es mir gleich und ließen den Rest der Truppe deutlich so aussehen, als wollten sie gleich meutern. Molly wirkte einen schnellen, aber sanften Zauber und so hatten sie immer Schatten, wenn sie stehenblieben. Mr. Stich, Roger Morgenstern und Janitscharen Jane schienen die Hitze nicht zu bemerken. Zu ihrer Zeit hatten sie weit Schlimmeres mitgemacht. Ich unterhielt mich kurz mit dem Kerl, der das Flugfeld für uns betreute, ein alter Aussteiger mit einem dunklen faltigen Gesicht, der der Familie lange Jahre gut und loyal gedient hatte. Und der es auch immer weiter tun würde, solange er Geld dafür bekam. Meine Rüstung beunruhigte ihn nicht, er hatte so etwas schon gesehen. Auch wenn er mich zur neuen Farbe beglückwünschte. Ich fragte ihn, was er über das ungewöhnliche Treiben unten auf der Nazca-Ebene wusste und er sagte es mir in ausgezeichnetem Englisch. Es schien, als wären in den vergangenen Monaten Ausländer in kleinen Gruppen angekommen. Alle Nationalitäten, alle Arten, aber nicht die üblichen Touristen. Das hier waren seltsame Leute, selbst für Ausländer. Sie sprachen und benahmen sich seltsam, auch wenn er es schwierig fand, in Worte zu fassen, was ihn denn so an ihnen störte. »Als dächten sie ständig an etwas anderes«, war das Beste, was er fertigbrachte. Sie kauften eine Menge Sachen in den nahe liegenden Städten und bezahlten immer in bar. Der ansässige Einzelhandel liebte sie und hoffte, sie würden für immer bleiben. Als ich ihn danach ausquetschte, was diese Fremden denn so kauften, sagte er, es seien meist technische Dinge; Zeug, das man als Massenware bezeichnete und auch besondere Dinge. Außerdem eine außergewöhnliche Menge Vieh. Wahrscheinlich wollten sie es schlachten, weil keiner der Ausländer ein Interesse an Landwirtschaft gezeigt hatte und sie kauften mehr, als sie jemals zu essen hoffen konnten. Ich dankte ihm und steckte ihm extra etwas für seinen Ärger zu, um die freundschaftlichen Beziehungen zu pflegen. Ich musste mir keine Sorgen machen, dass er über uns reden könnte. Er war klug genug, nicht über die Geschäfte der Droods zu reden: Er hatte uns geholfen, den ehemaligen Betreiber des Flugfelds zu begraben, nachdem dieser etwas zu geschwätzig worden war. Niemand hintergeht die Droods und überlebt das, um damit anzugeben. Janitscharen Jane teilte die Truppe in Abteilungen ein, lud sie auf die Jeeps, die uns der Besitzer überlassen hatte, und wir machten uns auf den langen, harten Weg zur Nazca-Ebene. Es gab keine Landschaft und keine Straße, nur eine endlose Reihe Schlaglöcher in einer öden, leeren Wüste unter einer glühenden Sonne. Die Reise schien ewig zu dauern, aber endlich hielten wir am Fuß einer Klippe an, von der aus wir über die Ebene sehen konnten. Wir stiegen von den Jeeps herunter, dehnten unsere Glieder und vertraten uns die Füße. Dann kletterten wir den steilen Aufstieg bis zum Gipfel hinauf und sahen über das Tal. Callan Drood wartete dort auf uns, sah sehr sonnenverbrannt aus und war extrem angenervt, dass wir keine kalten Drinks mitgebracht hatten. Molly holte aus dem Nichts eine Flasche geeiste Pepsi und er trank sie so schnell, dass er Kopfschmerzen bekam. Ich sah auf die Konstruktion hinunter, die die Abscheulichen auf der Nazca-Ebene zusammenbauten. Aus dieser Höhe sahen sie aus wie Ameisen, die um und auf der riesigen Konstruktion herumliefen, die aus der von Linien durchzogenen und gefurchten Ebene wie ein einzelner außerirdischer Wolkenkratzer herausragte. Das Ding musste mittlerweile über hundert Meter hoch sein; eine seltsame und unirdische Ansammlung von Stilen und Materialien. Seine Form ergab überhaupt keinen Sinn. Mein Verstand schien mit den unerwarteten Dimensionen und Verformungen nicht fertig werden zu können. Allein das Hinsehen ließ meine Augen schmerzen. Callan stellte sich neben mich. »Es ist besser, wenn du immer nur für ein paar Augenblicke hinsiehst. Ich bin ziemlich sicher, dass wir da etwas haben, dass in mehr als drei räumlichen Dimensionen existiert und dass das, was wir sehen, nur das ist, was unser Verstand erfassen kann. Frag mich nicht, was zur Hölle das sein soll oder wozu es gut ist, aber die Abscheulichen sind die ganze Zeit um dieses Ding herum; den ganzen Tag, die ganze Nacht, drinnen und draußen. Es gibt eine einzige Öffnung unten am Fundament und eine Menge von dem, was zu dieser Öffnung reingeht, kommt nicht wieder raus. Ich habe das Gefühl, es ist fast fertig. Die Arbeitsgeschwindigkeit hat sich in den letzten zwölf Stunden beschleunigt, als würden sie gegen eine Deadline anarbeiten. Wo sind übrigens meine Kaltgetränke? Ihr hattet kalte Drinks versprochen. Und nach dieser Sache will ich einen Torques. Ich habe hier draußen Wochen damit verbracht, den Patrouillen dieser Bastarde zu entgehen. Die Betonung liegt dabei auf ziemlich schwer bewaffneten Patrouillen. Sie töten jeden, der zu nahe rangeht; selbst völlig harmlose Touristen, ob sie nun etwas gesehen haben oder nicht.« Ich machte ihm ein Zeichen, dass er den Mund halten solle und er tat es. Meine silberne Maske erlaubte mir, das hochaufragende Gebäude da unten heranzuzoomen, damit ich die Details so deutlich sehen konnte, als stünde ich direkt darauf. Die fremdartige Struktur schien mir genauso gut eine Maschine wie auch ein Bauwerk sein zu können, gebaut zum Zwecke … Nun, um irgendetwas zu tun. Aber je länger ich es ansah, desto weniger Sinn schien es zu ergeben. Aber es dauerte nicht lange, bis ich entdeckte, was sie mit all dem Viehzeug machten. Die Abscheulichen hatten Teile von ihnen in die Konstruktion eingebaut. Teile des Turms waren ganz klar technisch, selbst wenn ich ihren Zweck nicht erkennen konnte, aber andere Teile waren ganz klar organisch. Lebendes Fleisch, ganze Organe, blutige Eingeweide, verbindendes Gewebe, ja sogar ganze Gehirne und Köpfe. Alle lebendig, verwendet als Teil einer lebendigen Struktur. So etwas hatte ich noch nie gesehen, und ich hatte schon einiges an Alien- oder Fremddimensions-Technologie gesehen. Janitscharen Jane kam jetzt an meine andere Seite und ich beschrieb ihr, was ich sah. Sie nickte langsam. »Sowas hab ich schon mal gesehen … irgendwann. Es ist kein Höllentor. So etwas nicht. Aber es ist ein Tor irgendeiner Art.« »Also planen sie, eine Tür irgendwo anders hin zu öffnen«, mischte sich Molly ein, um uns zu zeigen, dass sie nicht außen vor bleiben würde. »Vielleicht haben sie davon gehört, dass du ihnen den Krieg erklärt hast und hauen ab, solange sie noch die Chance haben.« »Ein netter Gedanke, aber nein«, sagte ich. »Die haben schon damit angefangen, lange bevor ich die Kontrolle der Familie übernommen habe.« »Und ich glaube nicht, dass das einfach nur kreiert wurde, um einen Weg nach draußen zu öffnen«, sagte Janitscharen Jane langsam. »Es sieht eher so aus, als sei es erfunden worden, um etwas von außen hereinzuholen … und es in unsere Welt zu bringen.« »Verstärkung?«, fragte Molly. »Mehr Abscheuliche?« »Nein«, sagte Jane. »Mit der Macht, die dieses Ding braucht, muss es irgendetwas Mächtigeres sein … Etwas viel Schlimmeres als noch mehr Abscheuliche.« »Schlimmeres?«, meinte Callan. »Was könnte schlimmer sein als seelenfressende Dämonen?« »Bleib in der Nähe«, sagte ich. »Wenn wir dieses Ding nicht abschalten, bevor sie ihr Tor öffnen können, finden wir das vielleicht heraus.« »Ich will nach Hause«, antwortete Callan. »Ich hasse diesen Ort.« Molly sorgte für eine neue Flasche Pepsi für ihn und er ging davon, um düster auf den harten Boden einzutreten. Wir sahen alle der Reihe nach über die Kante des Felsens und studierten die Bewegungen der winzigen Gestalten, die unten herumflitzten. Es waren Hunderte von ihnen, Männer und Frauen und sogar ein paar Kinder, die überall auf der großen Struktur herumkletterten, ohne auf ihre eigene Sicherheit zu achten. Die vor Hitze flirrende Luft ließ die Sicht schwierig werden, selbst mithilfe der silbernen Masken, aber die extremen Temperaturen schienen die Abscheulichen nicht zu stören. Keiner hatte offenbar das Sagen, keine Befehle wurden gegeben, aber alle schienen genau zu wissen, was sie zu tun hatten. Als ich näher heranzoomte, um die Arbeiter genauer zu betrachten, traf mich ihre Fremdartigkeit wie ein Hammerschlag. Sie bewegten sich nicht wie Menschen und ihre Gesichter waren leer. Manchmal bewegten sie sich völlig einheitlich, in perfekter Präzision wie ein Vogelschwarm. Sie hatten nichts Menschliches mehr außer ihrer äußeren Form, alles andere hatten die Abscheulichen ihnen genommen. Für Mr. Stich war das Ganze neu und er bestand darauf, dass man ihm alles erklärte. Also gab ich mir Mühe, ihm die Kurzversion mitzuteilen. Die Abscheulichen kamen von irgendwoanders her, jenseits von Raum und Zeit, wie wir sie verstehen. Sie haben in unserer Welt keine physische Präsenz, also müssen sie einen Körper übernehmen, sowohl mental als auch physisch; bevorzugt menschlich, aber nicht immer. Wenn ein Ekliger einen menschlichen Körper übernimmt oder infiziert, dann frisst oder zerstört er die Seele - darüber ist man sich nicht einig - und bewohnt die verbliebene Hülle, die dann bald ausbrennt, wegen unerträglichen Stresses und der Belastungen, denen der neue Besitzer sie aussetzt. Nachdem der Körper gestorben ist und langsam verfällt, macht er trotzdem weiter. Er wird von der unirdischen Energie des Abscheulichen getrieben, bis der Körper schließlich auseinanderfällt und der Abscheuliche sich einen neuen Wirt suchen geht. Wir nennen die infizierten Menschen Drohnen. Im Grunde sind sie Zombies, für fremde Zwecke angetrieben von einem fremden Willen. Sie zerstören Leben und fressen Seelen. Und die Familie hat sie aus ganz persönlichen Gründen hergebracht. Wir hätten wissen müssen, dass uns die Sache aus dem Ruder läuft. »Manchmal übernehmen sie ganze Städte«, sagte Harry unerwartet. »Sie fangen bei einer Familie an, und dann nehmen sie sich die ganze Gemeinde, Haus für Haus. Wenn sie die Kontrolle über jeden einzelnen übernommen haben, dann zwingen sie die Stadt aus unserer Realität in irgendeine Dimensionstasche, die sicher ist vor der Entdeckung durch Menschen. Dann benutzen sie diese versteckte Basis, um die angrenzenden Städte anzugreifen. Glücklicherweise verraten sie sich immer, denn sie sind zu gierig. Die Familie radiert diese Städte aus, sobald wir sie finden. Ich war vor ein paar Jahren an so einer Razzia beteiligt. Es war in Frankreich, unten bei Bordeaux. Man nennt diese Städte auch Ghoulstädte. Die lokale Verwaltung hatte einen Hilferuf geschickt, nachdem sie bei einer Routinesuche nach einer vermissten Person über eine solche gestolpert waren. Ich war der nächstbeste Frontagent, also nahm ich den Auftrag an. Ich tat mich mit einem französischen Dämonenspezialisten zusammen, ihr Name war Mallorie. Ein bisschen verkopft, aber sie verstand ihren Job. Der Waffenmeister hatte uns einen Dimensionen-Schlüssel beschafft und mit der üblichen, besonderen Expressart zukommen lassen. Und Mallorie und ich haben eine französische Sondereinheit in diesen Ghoulort angeführt.« Er hielt einen Moment inne und erinnerte sich. Sein Gesicht war ruhig, überlegt, aber seine Augen spiegelten den Schrecken. »Ein schrecklicher Ort. Jeder Albtraum, den man nur haben kann. Das Licht war grell, fast zu grell für menschliche Augen. Die Schwerkraft fluktuierte und die Richtungen änderten sich ständig, wenn man nicht genau hinsah. Die Luft war kaum zu atmen, und es stank von Blut und Innereien und Abfall. Wir waren hineingegangen, weil wir hofften, noch etwas zu retten, aber es wurde bald klar, dass wir zu spät kamen. In dieser Ghoulstadt waren Männer, Frauen und sogar Kinder, aber alle waren infiziert. Die Abscheulichen hatten ihre Seelen gefressen. Die Kinder waren am schlimmsten. Sie versuchten, zu verbergen, was sie geworden waren, um uns anzulocken, aber sie wussten gar nicht einmal, wie sich Kinder benehmen. Sie griffen uns an. Haben sich nicht mal die Mühe gegeben, sich wie Kinder zu verhalten. Sie kamen aus jeder Richtung und wedelten mit den Armen wie zurückgebliebene Kinder. Sie kamen mit allen möglichen Waffen auf uns zu. Und mit bloßen Händen und sogar gebleckten Zähnen. Wir haben sie alle getötet. Niedergeschossen, niedergemetzelt, ihre Gesichter in den blutigen Boden getreten. Irgendetwas Menschliches, irgendwie menschlich und dann auch wieder nicht. Etwas, das einmal menschlich gewesen und jetzt hoffnungslos korrumpiert war, hat uns alle verrückt gemacht. Wir töteten und töteten, eine Straße runter und die andere wieder rauf. Wir traten die Leichen aus dem Weg, bis die Rinnsteine überliefen vor Blut. Ein paar taten so, als ob sie sich ergäben, aber es war nur ein Trick, um uns anzulocken. Als wir fertig waren, brannten wir die ganze Stadt nieder. Wir haben nichts stehenlassen. Es hat Stunden gedauert sicherzugehen, dass wir auch wirklich alle erwischt haben. Wir haben alle Häuser durchsucht, und sie manchmal aus Verstecken unter Treppen oder hinter Schränken hervorgezogen. Am Ende, als wir die brennende Ghoulstadt wieder verlassen hatten und wieder in unsere Welt zurückgekehrt waren, haben sogar erfahrene französische Parasoldaten offen geheult. Manchmal … träume ich, ich bin wieder da. Das werde ich wohl immer.« Er sah sich um. Wir alle hatten intensiv zugehört. Er hatte seine Rüstung heruntergefahren, damit wir alle sein Gesicht sehen konnten, während er erzählte, aber jetzt fuhr er sie wieder hoch und wurde zu einer silbernen Statue. Als könnte er so die Erinnerungen, die ihn verfolgten, ausschließen. »Also, wenn wir da runtergehen«, sagte er dann, »nicht vergessen: Sie sehen vielleicht wie Personen aus, aber sie sind es nicht. Es sind Dämonen. Tötet sie für das, was sie getan haben. Und für das, was wir ihnen antun müssen, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.« Die Droods, die zugehört hatten, nickten und raunten einander zu, während sie ihre Waffen zückten. Mr. Stich sah immer noch auf die Ebene herunter und war anscheinend nicht sonderlich beeindruckt von dem, was er gehört hatte. Aber ich mochte Harry für das, was er durchgemacht hatte, noch lieber. Und ich mochte sogar Roger Morgenstern ein wenig, als er seinen Arm um Harrys Schultern legte, um ihn zu trösten. »Also«, sagte Mr. Stich und drehte sich immer noch nicht um. »Die infizierten Menschen sind also Drohnen. Und das Ding da unten ist …?« »Ein Nest«, sagte ich. »Und wir sind die Kammerjäger.« »Prächtig!«, meinte Mr. Stich. »Wann fangen wir an?« Janitscharen Jane teilte uns in die arrangierten Einheiten auf und übergab das Kommando den designierten Teamleitern. Jede Gruppe hatte ein paar Droods mit Rüstungen, um sie anzuführen und hoffentlich einen Großteil des ersten Aufpralls abzufangen. Sie gab uns noch ein paar aufmunternde Worte auf den Weg, die Taktik betreffend, die man im Wesentlichen auf Nicht aneinanderkleben, nicht getrennt werden, alles töten, was nicht zu uns gehört und Das Ding, das sie bauen, zerstören, bevor es in Betrieb genommen wird reduzieren konnte. Es gab keine Fragen in letzter Minute, keine Diskussionen und keine Ausfälle. Wir waren alle bereit, loszuschlagen. Molly begann mit dem Zauber, den sie vorbereitet hatte, seit wir hier angekommen waren und ein heftiger Sturm erhob sich, hob uns alle überraschend sanft auf und trug uns sicher von der Klippe hinunter in die Ebene von Nazca. Wir rannten in dem Moment los, in dem wir auf dem Boden aufkamen und wandten uns direkt zu der hoch aufragenden Konstruktion vor uns. Die Drohnen sahen uns kommen und ließen alles fallen, um uns entgegenzulaufen und den Weg mit ihren Körpern zu versperren. Es kamen Laute aus ihren entstellten Mäulern, aber daran war nichts Menschliches. Einige hatten improvisierte Waffen, die meisten benutzten ihre bloßen Hände, deren Finger zu Klauen gekrümmt waren. In ihren Gesichtern konnten wir keine Gefühle entdecken, jedenfalls keine, die wir lesen konnten und sie entblößten ihre Zähne wie Tiere. Sie gaben nicht einmal mehr vor, menschlich zu sein. Sie sahen die gerüsteten Gestalten, die die Truppe anführten und wussten, wir waren Droods. Prompt kamen aus jeder Richtung mehr von ihnen gerannt - Männer, Frauen, Kinder und sogar Tiere. Die Abscheulichen waren nicht zimperlich bei der Auswahl derer, die sie übernahmen. Für sie war alles nur Fleisch. Aber selbst als unsere ersten Abteilungen mit der ersten Welle von Drohnen zusammenprallte, kamen immer noch mehr von ihnen aus der einzelnen Öffnung am Fuß des Gebäudes. Mehr und mehr und mehr von ihnen, viel mehr, als die Konstruktion hätte Platz bieten können. Anstatt Hunderte von Drohnen zu bekämpfen, wie wir erwartet hatten, waren es auf einmal Tausende. Vielleicht Hunderttausende - und es kamen immer noch mehr auf uns zugerannt oder heulten uns aus der Öffnung an. Der Kampf hatte gerade erst begonnen und wir waren schon jetzt hoffnungslos in der Unterzahl. Aber ich konnte nicht zum Rückzug blasen. Ich hatte uns alle zu diesem Angriff verpflichtet. Wir mussten weitermachen, wir mussten gewinnen, bevor die Abscheulichen dieses Tor öffnen konnten. Die beiden Kräfte verkeilten sich ineinander, silberne Fäuste schlugen unmenschliche Gesichter nieder, aber dennoch breitete sich eine tiefe Hoffnungslosigkeit in mir aus. Es waren so viele … Die Drohnen trafen uns schwer, alle waren sie übernatürlich stark, was sie den außerirdischen Energien verdankten, die in ihren gestohlenen, toten oder sterbenden Körpern brannten. Sie warfen sich selbst auf die ersten gerüsteten Droods und versuchten sie einfach durch ihre schiere Überzahl zu erdrücken. Als das nicht gelang, hielten sie sich an den silbernen Armen fest, umklammerten silberne Beine und versuchten, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen und auf diese Weise niederzuringen. Doch die gerüsteten Droods hielten stand und schlugen mit ihren silbernen Fäusten um sich. Menschliche Schädel zerplatzten und zersplitterten unter der fürchterlichen Kraft dieser Schläge, Genicke brachen und Köpfe wurden förmlich von den Schultern gerissen. Die gerüsteten Droods brachen Wirbelsäulen, Arme und Beine, schlugen in Brustkörbe und traten auf Köpfe. Blut und Innereien flogen durch die Luft und rannen in Schlieren über die silbernen Rüstungen. Dutzende von Drohnen starben in den ersten Sekunden der Schlacht, aber die schiere Menge ließ unser Überraschungsmoment völlig verpuffen und schon bald befanden wir uns in einer Sackgasse. Töten und wieder töten, aber kein Fortschritt. Die gerüsteten Droods eröffneten jetzt das Feuer mit den Waffen, mit denen uns der Waffenmeister ausgerüstet hatte. Großkalibrige Handfeuerwaffen, Granatwerfer und selbst magische Knochen und Fluchwerfer. Die Drohnen fielen reihenweise, als die Waffen hin- und herfuhren und sie niedermähten, aber es kamen kontinuierlich mehr, rückten vor und erkämpften sich ihren Weg an den gerüsteten Droods vorbei. Wir griffen die Drohnen mit allem an, was wir hatten und es war nicht genug. Sie kümmerten sich nicht darum, was sie verloren, fühlten keinen Schmerz oder Furcht oder Schrecken. Hundert von ihnen konnten sterben, wenn einer von ihnen durchkam, um zu töten. Alle unsere Pläne und Taktiken verschwanden und wurden durch einen brutalen Kampf ums Überleben ersetzt. Die Abteilungen wurden überrannt oder auseinandergezwungen und jeder war auf sich gestellt. Die meisten der ungerüsteten Droods wurden in den ersten Minuten niedergezwungen und abgeschlachtet, überwältigt von der schieren Übermacht; überwältigt von Drohnen, die in unsere Waffen rannten, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Droods starben schreiend unter fliegenden Fäusten, Händen wie Klauen, und stechenden Waffen oder solchen wie Keulen. Ich konnte sie überall um mich herum hören, ihre menschlichen Schreie mischten sich mit dem unmenschlichen Geheul der Drohnen. Und dann - eigentlich war das unmöglich - begannen selbst die gerüsteten Droods zu fallen, als die Drohnen unnatürliche und seltsame Waffen aus ihrem riesigen Gebäude holten. Einige gerüstete Droods verschwanden einfach. Sie wurden weiß Gott wohin teleportiert, als sich nacheinander die schimmernden Technikstücke auf sie richteten. Einige Droods fielen heulenden Energieklingen zum Opfer, die durch die Rüstungen und das Fleisch darunter hindurchfuhren. Eine Leiche mit Strahlenverbrennungen und glühenden Augen stampfte durch das Chaos. Sie widerrief irgendwie die Worte, die die Rüstungen aktivierten, sodass wie wieder in den silbernen Halsreif verschwanden und den Besitzer hilflos, verwirrt und verletzlich zurückließen. Mr. Stich erschien auf einmal aus dem Nichts und schlitzte die Kehle dieser Drohne mit einem aufschimmernden Skalpell durch. Auf einmal kämpften wir Seite an Seite und dann Rücken an Rücken, mit Molly Metcalf. Drohnen drangen aus allen Richtungen auf uns ein, manchmal mit Waffen, manchmal ohne. Ich feuerte meinen Repetiercolt wieder und wieder und fegte eine Drohne nach der anderen mit der Pistole vom Platz, die nie danebentraf und nie nachgeladen werden musste, aber bald hatten sie sich zu sehr genähert; sie kletterten dabei über die Leichen der Gefallenen, um mich zu erreichen. Ich steckte die Waffe weg, ließ silberne Dornen auf meinen Fäusten wachsen und watete mit all der schrecklichen Stärke und der Geschwindigkeit zwischen sie, die meine Rüstung mir gab. Ich schlug sie nieder und sie fielen gebrochen und blutig vor mir nieder. Ich riss die Gesichter von ihren Köpfen, zerschmetterte ihre Schädel, brach ihre Knochen und stampfte über sie hinweg, wenn sie fielen. Ich hob sie auf und benutzte sie als lebende Werkzeuge, mit denen man den Gegner schlagen konnte. Blut und Leichenfetzen rannen meine glänzende Rüstung herunter, weil sie keinen Halt finden konnte. Ich trat und wirbelte herum, schlug mit unmöglicher Kraft um mich. Ich formte meine silbernen Hände zu scharfen Klingen und stach und hackte, und schlachtete alles ab, was in meiner Reichweite war. Und immer noch schienen noch mehr zu kommen. Sie schlugen mich mit ihren Händen und feuerten ihre Waffen auf mich ab, doch keiner von ihnen konnte mich berühren. Aber die Drohnen mit den schrecklichen Waffen kamen langsam, unausweichlich näher. Molly warf ihnen jede Angriffsmagie entgegen, die sie kannte. Sie beschwor aus Leibeskräften einen Zauber und einen Fluch nach dem anderen. Drohnen wurden in hilflose Dinge verwandelt und unter den Füßen der anderen zertrampelt. Manchmal brach ihre Form einfach zusammen und sie zerliefen wie schlammiges Wasser. Sie rief Blitze aus dem Himmel herab, holte Feuer aus offenen Spalten in der harten Erde unter uns hervor und beschwor Wirbelstürme, die sie davonwehten. Seltsame Kräfte knisterten in der Luft vor ihr und verbrannten alles, was ihr zu nahe kam. Aber ihre Stimme brach vor Anstrengung und ich wusste, dass sie das nicht mehr lange würde durchhalten können. Magie fordert ihren Preis und selbst ihre gesammelten Energien würden bei dieser Beanspruchung nicht lange reichen. Als sich eine winzige Kampfpause ergab, sah ich mich um. Ich konnte Molly husten und schmerzvoll keuchen hören. Alle ungerüsteten Droods waren zu Boden gegangen. Tot. Es kämpften noch rund ein Dutzend gerüstete Droods, bahnten sich ihre Feinde niederschlagend langsam einen Weg durch das Chaos. Inseln in einem Meer von Tod. Janitscharen Jane hatte von Anfang an recht gehabt. Ich hätte eine Armee gebraucht, keine Krieger. Mr. Stich schritt elegant durch diesen Wahnsinn, nicht einmal ein Blutfleck war auf seiner feinen Kleidung zu sehen. Er schnitt und schlachtete mit beinahe unmenschlicher Grazie und Präzision und tötete alles, was ihm nah kam, und keine der Drohnen konnte ihn auch nur berühren. Er wurde von Kräften geschützt, die schlimmer waren als die der Abscheulichen. Er ging wie ein grausamer viktorianischer Kriegsgott über das Schlachtfeld und lächelte ein schreckliches, glückliches Lächeln. Er war in der Hölle völlig zu Hause. Roger Morgenstern kämpfte Seite an Seite mit einer silbernen Figur, von der ich annahm, es sei Harry. Grelle Flammen brannten um sie herum und verschlangen jede Drohne, die sie berührten. Roger lächelte ebenfalls. Harry kämpfte gut, mit kurzen, kontrollierten und brutalen Bewegungen, die die Drohnen mit beinahe klinischer Präzision niederstreckten. Es schien, als sei das nur ein Job, den er sehr gut beherrschte. Und Janitscharen Jane metzelte sich einen blutigen Pfad durch die aufgewühlten Massen mit ihrem berüchtigten alten Schwert. Sie war in ihrer kalten und furchtbaren Wut nicht zu stoppen - die größte Dämonenschlächterin, die je gelebt hat. Sie kämpfte sich einen Weg hinüber zu Molly und mir. Ich war unter meiner Rüstung klitschnass geschwitzt, ich war erschöpft, und dampfte aus allen Körperöffnungen. Meine Arme taten von der Anstrengung weh und mein Rücken brachte mich förmlich um. Die Rüstung kann bei Wundern helfen, aber wirken muss ich sie selbst. Aber ich kämpfte trotzdem weiter und ich war entschlossen, nicht zu fallen, solange Molly mich brauchte. Es war darauf reduziert und nicht mehr. Janitscharen Jane brüllte mir in meine silberne Maske. »Das ist der Turm!«, schrie sie, um den Schlachtlärm zu übertönen. »Da passiert irgendetwas! Ich kann es fühlen! Ich glaube, das Tor öffnet sich!« Ich schlug die nächsten Drohnen nieder und wandte mich um. Sie hatte recht. Ich konnte es ebenfalls fühlen. Ein grelles Licht strahlte jetzt aus der Öffnung und noch mehr quoll aus Hunderten von Löchern in der zerklüfteten Oberfläche der riesigen Struktur. Die Luft flirrte und schlug Wellen rund um das Gebäude herum, aber das hatte nichts mit Hitze zu tun. Ich konnte spüren, ja beinahe sehen, dass sich das Tor hinter dem Turm öffnete, ein großer und immer größer werdender Kreis wie eine schwarze Sonne - und auf der anderen Seite dieser Öffnung im Raum … irgendein riesiges und schreckliches und furchtbar wachsames Etwas. Es rannte unaufhaltsam gegen die schwächer werdende Barriere an, die das Einzige war, die es aus unserer kleinen und schrecklich verletzlichen Welt fernhielt. Etwas so Großes, dass ich weder die Form noch die Natur dieses Etwas erfassen konnte. Wie Gott, der zornig durch die Welt wanderte … Was auch immer die Abscheulichen da beschworen hatten, es war hier und wartete darauf, dass sich das Tor endgültig öffnete. Dann würde es kommen und uns grauenhafte, unaussprechliche Dinge antun. Nur, weil es das konnte. Etwas, das viel schlimmer war, als die Abscheulichen je hoffen konnten zu sein. Ich sah mich schnell um. Ich zählte noch zehn gerüstete Droods. Ich rief sie durch meine Rüstung. »Kommt zur Basis der Struktur! Jeder schnappt sich ein Stück davon und bringt damit die ganze Konstruktion zu Fall!« Ich drehte mich zu Molly um. Sie schwankte, ihr lief Blut aus Mund und Nase und sie hatte sogar blutige Tränenspuren auf ihren Wangen. Ihr Körper stand wegen des Stresses, dem sie sich aussetzte kurz vor dem Zusammenbruch - es war nurmehr ein verzweifelter magischer Fluss, der durch ihren Körper ging. Sie sah mich an und bewegte den Mund, aber ihre Augen verschwammen. Ich schrie ihren Namen, griff mit meiner silbernen Hand nach ihrer Schulter und krallte mich so fest hinein, dass sie aufjammerte. Ihr Bewusstsein kehrte in ihr Gesicht zurück. »Wir müssen zum Fundament der Struktur, schnell! Molly! Kannst du uns einen Weg bahnen?« »Ich bin müde, Eddie. So müde …« »Kannst du es?« Sie sah mich böse an. »Ja! Ja, ich kann es tun! Ich bin Molly Metcalf, verdammt. Aber das sollte besser funktionieren, Eddie …« Sie warf einen Arm in Richtung der hochaufragenden Konstruktion und einfach so explodierte jede Drohne zwischen uns und dem Gebäude in blutige Brocken. Ich machte mir eine gedankliche Notiz, Molly niemals richtig wütend auf mich werden zu lassen, schnappte mir ihren Arm und wir rannten durch die enge Passage, die sie uns geöffnet hatte, zum Turm hin. Zwischen den anderen Droods und dem Turm öffneten sich ebenfalls solche Pfade und jeder rannte los. Wir rasten über den steinigen Boden, während die Drohnen wieder zur Besinnung kamen und die Lücken füllten. Wir schlugen sie aus dem Weg, stießen sie weg, rannten sie über den Haufen hin zum Turm. Alle erreichten die Basis des riesigen Gebäudes und ich schrie den gerüsteten Droods zu, nach etwas zu greifen, das wichtig oder tragend aussah. Molly und Janitscharen Jane, Mr. Stich und Roger Morgenstern arbeiteten hart, die Drohnen zurückzuhalten, als wir alle den Turm packten und seinen Unterbau herausrissen. Für einen langen Moment passierte gar nichts. Der Turm war riesig und wir waren nur elf … aber wir waren Droods und wir hatten die unglaubliche Stärke der Rüstung auf unserer Seite. Wir rissen die Stützen einfach unter dem Turm weg und brachten das verdammte Ding zu Fall. Es brüllte und kreischte wie ein lebendiges Wesen und Explosionen rasten wie Bündel von Feuerwerkskörpern durch die zitternde Struktur. Neue Lichter brachen aus tausend neuen Löchern, während außen ein Krachen und Knacken hinauf- und hinunterlief. Die Beben liefen die komplette Länge und Breite entlang und dann begannen einzelne Stücke herunterzufallen. Die Struktur schwankte auf dem zerrissenen Fundament, das ganze Ding neigte sich nach vorn und fiel der Länge nach in die weite steinige Ebene. Es fiel, als sei es die Hand Gottes. Das Tor schloss sich. Weg, einfach so und mit ihr jede Spur des schrecklichen Dings auf der anderen Seite. Der Turm reichte fast bis zum anderen Ende der Ebene und als er fiel, zersplitterte er in eine Million Stücke. Die meisten der Drohnen wurden darunter begraben, die, die überlebt hatten, wandten sich um und rannten in hundert verschiedene Richtungen davon. Ich ließ sie laufen. Ich war mit Molly beschäftigt, die uns alle mit einem einfachen Schild beschützte und dabei das letzte Bisschen ihrer Kraft brauchte. Als es endlich vorbei war, waren wir nur noch fünfzehn. Molly klammerte sich an allen Gliedern zitternd an mich und ich hielt sie fest, nur gemeinsam konnten wir uns noch aufrecht halten. Roger Morgenstern stützte Harry. Janitscharen Jane rief Callan und seine Leute, die auf der Klippe geblieben waren, über Funk, damit sie uns abholten. Wir mussten unsere Gefallenen aufsammeln und sie von hier wegbringen, bevor die Behörden hier auftauchten. Die neun Droods fuhren ihre Rüstung herunter, sie sahen alle verwirrt aus und erweckten in mir den Eindruck als hätten sie ein Kriegstrauma erwischt. Mr. Stich sah auf die Berge von Toten und lächelte. Harry ließ Roger los und humpelte auf mich zu. Hinter der leidenschaftslosen Maske war seine Stimme kalt und hart. »Wir haben die Öffnung des Tors verhindert. Wir haben den Turm gestürzt und die meisten der Abscheulichen getötet. Aber war es das wert, Eddie? Sieh dir an, wie wenig wir noch sind! Jeder andere ist tot! Das war ein Debakel, ein Desaster. Wir haben niemals in unserer Geschichte in einer einzigen Operation so viele Familienmitglieder verloren! Alles nur, damit du den Helden spielen kannst, mal wieder. Wenn wir zurückkehren, werde ich sichergehen, dass jeder weiß, dass alles das deine Schuld war!« »Natürlich wirst du das, Harry«, sagte ich müde. »Das tust du doch immer. Geh, renn zur Matriarchin, braver kleiner Schleimer, der du bist. Du wirst ja schon sehen, was du davon hast.« »Wenn du nicht allen die Torques weggenommen hättest, wären die meisten dieser Leute noch am Leben!« »Ja, vielleicht triffst du damit den Nagel auf den Kopf.« »Du hättest allen neue Torques geben sollen. Nicht nur denen, von denen du glaubtest, dass sie auf deiner Seite stehen.« Ich sagte nichts. Was hätte ich sagen sollen? Er hatte recht. Harry wandte mir seinen Rücken zu und ging fort. Molly ließ mich endlich los und zog etwas aus einer versteckten Tasche. »Ich habe das hier gefunden, in den Trümmern des Turms. Es ist so voll von machtvoller Magie, dass es mich geradezu angeschrien hat. Erkennst du es wieder?« Ich drehte es in meinen Händen wieder und wieder langsam um. Es war ein Amulett von einer bestimmten Art, mit tief eingravierten kandarianischen Symbolen. Ich konnte nur ein Wort übersetzen. »Eindringlinge«, sagte ich. »Na prima«, sagte Molly. »Die Marsmännchen kommen.« »Nein«, sagte ich, zu müde, um zu lächeln. »Ich bin ziemlich sicher, dass das ein Teil der Beschwörung war. Eine Anrufung, um … das herzubringen, was auch immer wir aufgehalten haben. Nur … das hier ist Plural. Eindringlinge … nicht nur einer.« »Ich könnte kotzen«, sagte Molly. »Alles, was wir mitgemacht haben, um einen - was eigentlich? - aufzuhalten?« »Etwas von der Anderen Seite«, sagte ich. »Eine Invasionsflotte, von etwas wesentlich Schlimmerem als Seelenfresser. Geh mal beiseite. Ich glaube, ich muss auch kotzen.« »Eindringlinge«, sagte Molly. »Von den Abscheulichen gerufen. Heißt das … mehr Nester, mehr Türme, irgendwo in der Welt?« »Mit Sicherheit«, sagte ich. »Vielleicht in jedem Land der Welt. Das hier war nur der Anfang.« »Mann, du kannst einem manchmal sowas von auf den Sack gehen!«, sagte Molly. »Das macht der Job«, sagte ich. »Lass uns nach Hause gehen.« Kapitel Acht Familienangelegenheiten Wir kamen in den Blackhawkes nach Hause. Diesen wundervollen, eleganten und stillen Flugzeugen. Nichts ging schief mit ihnen. Aber sie schienen schrecklich leer zu sein, denn sie brachten nur ein paar von uns nach Hause. Wir waren nur noch elf Droods mit Torques und mussten uns über die Flugzeuge verteilen, damit wir unentdeckt durch die fremden Flugräume fliegen konnten, über einer Welt, die nicht einmal wusste, wovor wir sie gerettet hatten. Keiner der anderen Droods sah mich überhaupt an, als wir alle in unterschiedliche Flugzeuge kletterten. Molly saß den ganzen Rückweg neben mir, hielt meine Hand und sprach leise mit mir, aber ich könnte Ihnen nicht wiedergeben, was sie gesagt hat. Alles, woran ich denken konnte, war das, was wir in den den Gepäckräumen der Flugzeuge untergebracht hatten. All die toten Droods. Die Nachrichten eilten uns voraus. Das tun schlechte Nachrichten immer. Als die Blackhawkes endlich auf dem Flugfeld hinter dem Herrenhaus landeten, schien sich die ganze Familie versammelt zu haben, um zuzusehen. Und als ich und die schrecklich wenigen Überlebenden meiner ersten katastrophalen Mission aus den Flugzeugen stiegen, taten wir das in absolutem Schweigen. Vor Reihen von schockierten Gesichtern und anklagenden Augen. Ich hätte sie anschwindeln und ihnen sagen können, dass ich später ein offizielles Statement abgeben würde. Ich hätte einfach durch sie hindurch ins Haus gehen können. Aber ich tat es nicht. Ich stand da und wartete mit jedem anderen, während die Leichen aus den Gepäckräumen geladen wurden. Wir hatten nicht alle retten können. Die meisten der Leichen auf der Ebene waren entweder von dem fallenden Turm zerquetscht oder so vom Kampf zerstört gewesen, dass wir nicht wussten, wer wer war oder was zu wem gehörte. Von einigen gab es nur noch Einzelteile. Also hatten wir von denen nur die Köpfe mitgebracht. Wir hatten Stunden unter der heißen Sonne verbracht, uns durch das Durcheinander gewühlt und dieses Schlachtfest, das Blut und die Innereien und den Gestank sortiert, aber am Ende hatten wir weniger als die Hälfte nach Hause gebracht. Die versammelte Menge machte leise, erschrockene Geräusche, als die ersten Leichen auftauchten. Sie hatten nie so viele tote Droods gesehen. Das hatte keiner. So eine Tragödie, so ein hoher Verlust an Leben in einer Operation war noch nie dagewesen. Einige Mitglieder der Familie schrien auf beim Anblick bekannter Gesichter, gebrochen und verzerrt und verschmiert mit getrocknetem Blut. Einige Leute wollten nach vorne stürzen, aber der Seneschall war da mit seinen Leuten und wahrte die Ordnung. Die Würde der Familie muss immer gewahrt bleiben. Die Familienärzte und -schwestern hatten bald keine Bahren und Tragen mehr, obwohl sie die Leichen in der Leichenhalle einfach nur hinlegten und dann so schnell wie möglich wiederkamen. Also improvisierten sie und brachten Tische und Teewagen und andere flache Oberflächen an. Was die Körperteile und -stücke und die abgetrennten Köpfe anging, luden die Ärzte sie einfach in schwarze Abfallsäcke, um sie später zu sortieren. Die Menge schien das nicht zu mögen, aber die Entscheidung musste getroffen werden, um die Leichen so schnell wie möglich aus den Flugzeugen und aus der Sicht der anderen zu bringen. Meine Entscheidung war es allerdings nicht. Ich konnte an nichts anderes denken als daran, wie sehr ich die ganze Sache vermasselt hatte. Nein, ein einziger des Inneren Zirkels hatte weiter gedacht und die Entscheidung für mich getroffen. Sehr vorausschauend von ihnen. Auch wenn es hier natürlich nicht darum ging, wie ich mich fühlte, sondern ob das alles gut für die Familie war. Ich stand im Schatten meines Flugzeugs und zwang mich selbst, schweigend zuzusehen, bis auch die letzte Leiche ins Herrenhaus getragen worden und endlich zu Hause angekommen war. Das waren meine Pflicht und meine Strafe. Molly stand die ganze Zeit neben mir und hielt meine Hand. Ich hielt mich an ihr fest wie ein Ertrinkender und hatte ihre Hand so fest umklammert, dass es ihr wehgetan haben muss, aber sie ließ keinen Klagelaut hören. Ich sagte gar nichts, nicht einmal, als die Familie mich ansah, mit feuchten, heißen Augen und kalten vorwurfsvollen Gesichtern. Was hätte ich auch sagen können, außer: »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.« Nachdem die letzten Bahren und die letzten paar Plastiksäcke drinnen verschwunden waren, rührte Molly sich endlich und lehnte sich zu mir. »Habt ihr keine Leichensäcke?«, fragte sie still. »Für Katastrophen und Notfälle wie diese?« »Es hat noch nie so eine Katastrophe wie diese gegeben«, sagte ich. »Wir haben nie Leichensäcke gebraucht, weil wir noch nie so viele Leute verloren haben.« »Wir haben die Schlacht nicht verloren«, sagte Molly. »Wir haben das Nest und den Turm der Abscheulichen zerstört. Wir haben verhindert, dass das Böse durch das Portal kommt. Verdammt, wir haben die Welt gerettet, Eddie.« »Wenn das ein Sieg ist, dann will ich nicht wissen, wie eine Niederlage aussieht«, erwiderte ich. »Welchen vorläufigen Sieg wir auch errungen haben, wir haben mit unserem Blut dafür gezahlt. Diese Leute sind mir in eine Schlacht gefolgt, weil sie an mich geglaubt haben. Sie waren die Auserwählten, die ihren Platz durch ihre Leistung und harte Arbeit verdient hatten. Ich habe ihnen einen Sieg und Ruhm versprochen und eine Chance, Helden zu sein. Das hier … das hier sollte eine Demonstration der Macht der Droods werden. Es sollte keiner verletzt werden. Jetzt sind die meisten dieser mutigen Seelen tot und die Familie wird verwundbarer denn je erscheinen.« »Also … was wirst du tun?«, fragte Molly. »Ich habe keine Wahl mehr. Jeder Drood muss einen Torques bekommen, und die Rüstung, die dazu gehört. Ob ich nun glaube, dass sie sie verdienen oder nicht. Die Familie muss beschützt werden. Wenn es sein muss, sogar vor mir und meinen verrückten Ideen.« »Tu das nicht!«, erwiderte Molly scharf. »Fang nicht damit an, dein Urteil infrage zu stellen, nur weil eine Schlacht schiefgelaufen ist. Du hast alles richtig gemacht. Es gab keine Möglichkeit, alles über diese anderen Dämonen zu wissen, die im Turm versteckt waren.« Sie brach ab, als Harry auf uns zukam. Er hielt seinen Kopf hoch und schritt wie ein Soldat daher, jede seiner Bewegungen strotzte nur so von der Arroganz eines ganz und gar Selbstüberzeugten. Er wusste, dass die ganze Familie zusah. Er blieb mit einem Ruck vor mir stehen, nahm eine verurteilende Pose ein und hob seine Stimme, sodass jeder ihn hören konnte. »Das ist alles deine Schuld, Edwin. Alles. Ich habe dir gesagt, dass deine Angriffstruppe nicht groß genug war. Ich habe dir gesagt, dass wir alle Rüstungen brauchen, wenn wir die Abscheulichen besiegen wollen. Aber nein, du wolltest nicht hören, du wusstest es besser. Du musstest dich selbst als Führer beweisen. Und jetzt sind wegen dir, wegen deinem Stolz und deiner Arroganz, all diese guten Männer und Frauen tot. Geopfert auf dem Altar deines Ehrgeizes!« »Gute Rede, Harry«, sagte ich. »Dafür hast du wohl den ganzen Weg nach Hause geübt, nicht wahr? Ich musste mit den Informationen arbeiten, die ich hatte. Keiner von uns hätte das vorhersehen können. Wir haben es noch nie mit so etwas zu tun gehabt.« »Ich habe nichts anderes von dir erwartet«, sagte Harry. »Entschuldigungen! Sieh den Tatsachen ins Auge, Eddie, du hast es einfach nicht drauf. Das hattest du nie. Selbst als Frontagent wurdest du so zweitklassig eingeschätzt, dass dir niemals Einsätze außerhalb Londons gestattet wurden! Wenn du wirklichen Stolz hättest, wenn du wirklich das Beste der Familie wolltest, dann würdest du zurücktreten und jemand Qualifizierten den Job machen lassen.« »Und du hast da schon jemanden im Sinn, stimmt's, Harry? Vielleicht dich selbst?« »Das ist typisch für dich, Eddie, zu versuchen, das ins Persönliche zu ziehen«, sagte Harry überlegen. »Ich will die Familie gar nicht führen, ich will dich nur weghaben. Die Matriarchin wusste alles über dich. Sie wusste, dass man dir nichts wirklich Wichtiges anvertrauen kann. Deshalb hat sie dich von zu Hause weggehen lassen, weil dich sowieso niemand vermissen würde. Wir hätten dich wie jeden anderen Vogelfreien jagen und erledigen sollen.« »Ich war niemals ein Vogelfreier! Ich habe immer für die Familie gearbeitet!« Ich trat einen Schritt vor und ballte meine Hände zu Fäusten. »Nicht«, sagte Molly schnell. »Das will er doch nur.« »Hör auf deine bessere Hälfte«, sagte Harry und sein Hohn trat offen zutage. »Du hast doch gezeigt, wes Geistes Kind du bist, als du die da angeschleppt hast. Als du die schiere Frechheit besessen hast, die berüchtigte Molly Metcalf in unser Heim zu bringen, das läufige Flittchen der wilden Wälder!« Ich traf ihn hart, mitten in den Mund. Er stolperte zurück, aber er fiel nicht. Die Menge um uns herum ließ Laute des Schreckens hören, aber keiner bewegte sich. Sie warteten alle ab, was als Nächstes passierte. Ihre Augen leuchteten. Harry drehte sein Gesicht, sodass alle das Blut sehen konnten, dass ihm aus dem Mund über das Kinn lief und dann fuhr er seine Rüstung hoch. Das Silber schwappte in einem kurzen Augenblick über ihn und er stand stolz und groß vor der Familie, wie eine Allegorie der Rache. Ich hatte getan, was er wollte. Er hatte mich dazu gebracht, meine Geduld zu verlieren und ihn zuerst anzugreifen. Er hatte sich das den langen Weg zurück überlegt, er hatte geplant, mich vor der ganzen Familie zu blamieren. Ich wusste das alles, wusste, dass ich ihm in die Hand spielte - aber es war mir egal. Ich wollte jemanden verprügeln, und Harry kam mir gerade recht. Ich rüstete ebenfalls hoch und wir traten aufeinander zu, um uns anzusehen. Jeder von uns spiegelte sich in der Rüstung des anderen. »Na los«, sagte Harry. »Zeig mir, was du drauf hast. Zeig mir all die dreckigen Tricks, mit denen du meinen Vater umgebracht hast.« »Aber gerne doch«, sagte ich. Ich hob meine Hände und lange, silberne und scharfe Klingen wuchsen aus meinen Fäusten. »Hört auf damit!«, sagte der Waffenmeister und bahnte sich seinen Weg zu uns durch die Menge. »Hört sofort damit auf, ihr beiden! Seneschall, tu deine Pflicht, verdammt!« Da - und erst dann - kam der Seneschall nach vorn, um uns zu trennen. Der Waffenmeister war ebenfalls da und schlug mit einer Hand voller Leberflecken gegen meine silberne Brust und starrte mich böse durch meine konturenlose Maske an. Der Seneschall sah auf Harry und natürlich rüstete Harry sofort ab. Wie ein braver kleiner Junge, ein respektvolles Familienmitglied. Er hatte mich von Anfang an ausgespielt. Er hatte nie damit gerechnet, kämpfen zu müssen. Er wusste, irgendjemand würde sich einmischen, um uns aufzuhalten. Ihm war wichtig gewesen, mich vor der Familie schlecht dastehen zu lassen. Er warf mir einen triumphierenden Blick zu und schlenderte ins Herrenhaus, zusammen mit dem Seneschall. Wahrscheinlich, um der Matriarchin zu berichten. Keiner applaudierte ihm offen, aber es gab viel unterstützendes Gemurmel in der Menge. Ich rüstete ab und nickte dem Waffenmeister beschämt zu. Er grummelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und schüttelte den Kopf. »Rein mit dir, Junge. Hier kannst du nichts mehr tun.« Ich blickte auf die Familie, die mich nach wie vor beobachtete. Es war noch nicht lange her, da hatten sie sich versammelt, um laut meinen Namen zu rufen und mich den Familienretter zu nennen. Und jetzt sahen sie mich an, als sei ich eine Art Kriegsverbrecher. Es war nicht nur, dass ich eine Schlacht verloren hatte. Ich hatte sie enttäuscht, weil ich doch nicht der perfekte Held gewesen war. Ich nahm Merlins Spiegel aus der Tasche, schüttelte ihn auf volle Größe und ging durch ihn hindurch in die Waffenmeisterei. Molly und der Waffenmeister folgten mir rasch und ich schloss den Spiegel wieder. Das Gewicht der vorwurfsvollen Familienaugen verschwand und wir waren allein. »Weißt du, Eddie, es scheint mir, als wärst du langsam ein wenig abhängig von diesem Spiegel«, meinte Molly. »Quatsch«, antwortete der Waffenmeister brüsk. »Darum hab ich ihm den Spiegel ja gegeben, damit er sich gefahrlos dünne machen kann. Solche Geräte sind dafür gemacht, dass man sie benutzt. Wie wär's, wenn ich uns eine schöne Tasse Tee mache? Ich bin sicher, dass es hier irgendwo auch noch eine Schachtel gefüllte Kekse gibt.« Er unterbrach sich kurz und sah mich an. »Weißt du, Junge, du siehst scheiße aus. Bist du verletzt? Tut dir was weh?« »Nein«, sagte ich. »All dieses Schlachten und Metzeln und ich bin ganz ohne Kratzer da rausgekommen. Die anderen nicht, die Abscheulichen haben sie zerfetzt.« »Sieh nicht zurück, Junge«, sagte der Waffenmeister grimmig. »Konzentrier dich darauf, was du als Nächstes tun kannst. Es ist nicht schlimm, eine Schlacht zu verlieren, solange du den Krieg gewinnst. Sieh dir die Familienchronik an, wir hatten eine Menge Niederlagen. Natürlich müsste man weit zurückgehen, um eine solche Niederlage zu finden - aber das liegt daran, dass die Familie mit den Jahren weich geworden ist, selbstgefällig und vorsichtig. Sie hat die Drecksarbeit den Frontagenten überlassen. Sich nur die kleinen Schlachten ausgesucht, die kleinen Siege, die wir gewinnen konnten. Deshalb haben die Abscheulichen so lange hierbleiben und immer zahlreicher werden können. Vor noch nicht einmal einem Jahrhundert wäre das nicht möglich gewesen. Also hör auf, dir selbst leid zu tun, Eddie und denk mal nach! Hast du irgendetwas Nützliches aus dieser ersten Begegnung gelernt? Etwas, das du brauchen kannst, wenn du das nächste Mal gegen diese Bastarde vorgehst?« »Vielleicht«, sagte ich. Ich fühlte mich auf einmal müde und setzte mich auf den nächsten Stuhl. Molly sah besorgt aus und ich lächelte sie aufmunternd an. Auch wenn es nicht sonderlich aufmunternd gewirkt haben konnte, denn auf einmal sah sie noch besorgter aus. Ich kramte in meiner Jackentasche herum und holte das kandarianische Steinamulett hervor, das Molly aus den Trümmern des Turms gefischt hatte. Ich reichte das hässliche Ding dem Waffenmeister, der es für eine Weile genau betrachtete und sich dann neben mich setzte, um es sich unter einem riesigen Vergrößerungsglas noch genauer anzusehen. Molly zog sich ebenfalls einen Stuhl heran und setzte sich neben mich. Ich bemerkte es kaum. Ich konzentrierte mich auf das Amulett. Es musste etwas sein; etwas Wichtiges, etwas, das alles rechtfertigte, was wir durchgemacht hatten, um es zu kriegen. Der Waffenmeister rieb an dem grauen Steinamulett herum und piekte es mit seinen breiten und schweren Ingenieursfingern und murmelte dabei vor sich hin. »Hmmm. Also. Das ist wirklich kandarianisch. In besonders gutem Zustand, wenn man bedenkt, dass es sicher über dreitausend Jahre alt ist, wenn man den Stil der Gravierungen bedenkt. Aber auf der anderen Seite sind kandarianische Artefakte sehr … haltbar. Sie wurden gemacht, um die Zeiten zu überdauern und wurden für Prozesse benutzt, die wir heute nur raten können. Kandar - ein übler Ort, was man auch hört. Dämonenanbeter. Haben sich freiwillig zur Verfügung gestellt, um von außerdimensionalen Wesen übernommen zu werden. Haben alle anderen Kulturen, auf die sie trafen, unterjocht und ihnen Schreckliches angetan. Nur weil sie konnten. Sklaverei, Folter, rituelle Opfer; Schlachtfeste und Leiden waren Speis und Trank für die alten Kandarianer. Schließlich haben sie sich gegen sich selbst gewandt und ihre ganze Zivilisation wurde in einer einzigen, furchtbaren, blutdurchtränkten Nacht ausgelöscht. Keine ihrer Städte existiert heute noch. Ihre Kultur und ihre Leute sind vollkommen ausgerottet, höchstwahrscheinlich zumindest. Alles, was wir je von ihnen gesehen haben, ist das eine oder andere seltsame Amulett oder Waffe, die die Zeiten überdauert haben, obwohl sie schon längst von ihren inneren Energien hätten zerfressen und zu Staub zerfallen sollen. Wir verstehen die Sprache nur, weil so viele Sprüche und Beschwörungen ursprünglich darin verfasst wurden.« »Was ist mit dieser besonderen Glyphe?«, fragte ich und wies auf das Amulett. »Ich habe das als ›Eindringlinge‹ übersetzt.« »Hmm? Oh ja, Eddie, du hast ganz recht. Schön zu sehen, dass du wenigstens in ein paar deiner Schulstunden aufgepasst hast. Ja, ›Eindringlinge‹. Definitiv Plural. Und die umgebenden Glyphen lassen den Schluss zu, dass es sich hierbei um eine Beschwörung handelte, um diese Eindringlinge in unsere Welt zu bringen. Ich denke, wir müssen annehmen, dass die Präsenz, die du auf der anderen Seite von dem Nazca-Portal gespürt hast, nur eine von vielen war. Was umgekehrt den Schluss zulässt …« »… dass es andere Nester geben muss«, sagte ich. »Mehr Portale, die von den Abscheulichen gebaut werden, um eine ganze Invasionsarmee dieser Wesen herüberzuholen.« »Oh, Scheiße«, sagte Molly. »Es war schwer genug, eines von ihnen zu Fall zu bringen. Wie viele könnte es geben?« »Das weiß wohl keiner«, meinte der Waffenmeister. »Hunderte, Tausende, Hunderttausende? Nester, die in aller Herren Länder, in der ganzen Welt gebaut werden, und die ganze Menschheit bedrohen? Eine Bedrohung, von der wir nichts gewusst hätten - wenn du diese Attacke auf die Abscheulichen nicht losgetreten hättest, Eddie.« »Das ist wirklich eine völlig neue Liga«, sagte Molly. »Die ganze Welt bedroht? Was sollen wir tun?« »Wir halten sie auf«, meinte ich. »Das ist es schließlich, was die Familie so tut. Onkel Jack, müssen wir wieder den Armageddon-Kodex aufmachen?« »Sicher nicht«, sagte der Waffenmeister entschieden. »Ich habe den Kodex einmal für dich geöffnet. Und das war einmal mehr, als ich in meinem Leben jemals habe sehen wollen. Nein, diese Art Superwaffen sollten nur als letzter Ausweg benutzt werden, wenn die Realität selbst bedroht wird. Und die Dinge sehen nicht so schlecht aus. Noch nicht.« »Aber wenn die Welt kurz vor einer Invasion von andersdimensionalen Wesen steht …?« »Nein, Eddie. Die Familie kann das bewältigen. Das haben wir schon früher getan. Lies die Chroniken. Ich schwöre, wir bringen euch nicht mehr genug Familiengeschichte bei. Die Kodex-Waffen sind für den Fall, dass alles andere, einschließlich Tränen, Schwüren und Gebeten, versagt hat. Nicht einfach nur, um deinen Stolz zu retten, weil du eine Niederlage im Feld erlitten hast.« »Du warst nicht da«, sagte Molly scharf. »Du hast nicht gesehen, was wir gesehen haben. Gefühlt, was wir gefühlt haben - und es war übel, wirklich übel. Was auch immer das war, das sich einen Weg in unsere Realität erzwingen wollte, es war schlimmer als alles, was ich bis dahin erlebt habe. Und ich bin schon mit allen möglichen Dämonen und Teufeln fertiggeworden, mit Mächten über und unter unserer Realität, aber diese Invasoren … Sie haben mir richtig Angst eingejagt. Erinnerst du dich, Eddie, du hast gesagt, es gäbe zwei Arten von Feinden: Dämonen und Götter. Nun, die Abscheulichen sind vielleicht Dämonen, aber was auch immer sie beschwören wollten, war es ganz definitiv nicht.« »Die Familie kann damit fertig werden«, sagte der Waffenmeister unbeirrt. »Ich habe Waffen entwickelt, die schlimmer sind als eure schlimmsten Albträume. Du hast keine Ahnung, Molly, was den Droods möglich ist, wenn es wirklich einmal zum Krieg kommt. Wir haben zu lange herumgetrödelt und uns in alten Siegen gesonnt. Es wird Zeit, dass wir uns wieder einmischen und uns die Hände schmutzig machen. Wir waren mal Krieger und das werden wir auch wieder sein.« Der Waffenmeister lächelte. Doch seine sonst so freundliche, etwas geistesabwesende Art war verschwunden und war durch eine kalte und konzentrierte Boshaftigkeit ersetzt. Ich hätte nie vergessen dürfen, dass dieser Mann zu der kältesten Zeit des Kalten Krieges ein erstklassiger Frontagent gewesen war, beinahe so gelobt wie sein berühmter Bruder James. Mit der Lizenz zum Töten, heiß- oder kaltblütig, und so lange der Job getan werden musste. Der Waffenmeister drehte sich zu Molly um und war auf der Stelle wieder sein altes, schroffes Selbst. »Mach dir keine Sorgen, meine Liebe, alles wird gut. Du wirst schon sehen. Also, Eddie, wie kamst du mit dem neuen Kurzstrecken-Teleportationsarmband zurecht, dass ich dir gegeben habe? Hat es gut funktioniert? Gab's Probleme?« »Ah«, sagte ich. »Naja … um ehrlich zu sein, die Schlacht war so heftig und es war so viel los … ich hab irgendwie vergessen, dass ich es bei mir hatte.« Der Waffenmeister seufzte schwer. »Beug dich mal vor, Eddie.« Ich tat es und er gab mir eine feste Kopfnuss. »Hey! Verdammt, Onkel Jack, das hat wehgetan!« »Gut. Vielleicht erinnerst du dich dann beim nächsten Mal. Ich gebe dir dieses Zeug, um dir einen Vorteil in einer Schlacht zu verschaffen! Um dich am Leben zu erhalten! Ich erwarte, dass du es benutzt. Ich erwarte, dass du …« In der Nähe begann beharrlich eine Kom-Konsole zu piepsen und der Waffenmeister unterbrach sich. »Was ist? Ich habe zu tun!« Das Gesicht des Seneschalls erschien auf dem Monitor. Er nickte dem Waffenmeister kurz zu und sah dann an ihm vorbei Molly und mich an. »Ich dachte mir schon, dass ihr in der Waffenmeisterei untertaucht. Ich berufe den Inneren Zirkel ein, im Sanktum. Jetzt sofort. Wir müssen dringende Dinge besprechen.« »Ach ja?«, fragte ich. »Und seit wann hast du die Autorität, den Inneren Zirkel zusammenzurufen?« »Sei pünktlich«, erwiderte er. »Oder wir fangen ohne dich an.« Er unterbrach die Verbindung, bevor ich antworten konnte. »Es ist immer was los«, sagte Molly. »Und ich dachte, meine Familie wäre schlimm.« »Deine Familie?«, fragte ich. »Frag besser nicht.« Molly und ich verließen die Waffenmeisterei und gingen ins Sanktum. Ich hätte uns beide mit Merlins Spiegel dorthin bringen können, aber ich hatte es ausnahmsweise nicht eilig. Ich wollte Zeit haben nachzudenken, und planen, was ich sagen wollte. Der Waffenmeister hatte gesagt, er würde gleich nachkommen, und ich hoffte wirklich, dass Jacob sein Geistergesicht diesmal zeigen würde. Ich wusste, dass ich bei diesem Treffen alle Unterstützung gebrauchen konnte, die aufzutreiben war. Und dann blieb Molly ganz plötzlich wie angewurzelt stehen und verkündete, dass ich ohne sie weitergehen musste. »Tut mir leid, Eddie. Aber ich kann nicht mehr länger in diesen bedrückenden vier Wänden bleiben. Ich kann einfach nicht. Ich muss raus an die frische Luft, bevor ich anfange, zu vertrocknen.« »Aber … das ist eine Sache des Inneren Zirkels, Molly. Das ist wichtig. Ich brauche dich da, neben mir.« »Das kann ich nicht ändern. Ich muss hier raus, bevor ich anfange zu schreien. Du hast keine Ahnung, was dieser Ort mir antut, Eddie. Du kannst ja kommen und mich draußen im Park suchen, wenn ihr fertig seid. Ich brauche Zeit für mich, um meine Batterien wieder aufzuladen und die Kräfte wiederzuerlangen, die ich auf der Nazca-Ebene verbraucht habe. Im Moment habe ich keinen Funken Magie mehr in mir. Und so kann ich nicht leben.« Ich packte sie an beiden Schultern und zwang sie, mich anzusehen. »Ich brauche dich dieses Mal wirklich, Molly. Sie werden mich da drin kreuzigen. Ich kann ihnen nicht allein gegenübertreten.« »Doch, du kannst. Du brauchst mich nicht annähernd so sehr, wie du denkst. Du bist stärker als du glaubst, Eddie. Stärker als du dir selbst erlaubst. Ich sehe dich später.« Sie entzog sich meinem Griff und hastete den Korridor hinunter in Richtung des Haupteingangs und der Freiheit des Parks. Ich rief ihr nach, aber sie sah sich nicht einmal um. Also ging ich allein ins Sanktum und fragte mich, was zum Teufel ich sagen sollte. Als ich dort ankam, hatte der Waffenmeister es irgendwie fertiggebracht, vor mir dort zu sein. Er hob eine Hand, um sein Teleportarmband zu zeigen und winkte mir damit bedeutungsvoll zu. Ich ignorierte ihn absichtlich und sah mich um. Im sanften Leuchten von Seltsam waren Penny, der Seneschall - und Harry versammelt. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte mich selbstzufrieden an. Der Seneschall stand neben Harry, um seine Unterstützung für ihn zu demonstrieren. Penny sah mich nachdenklich an. Von Jacob war nichts zu sehen. Das scharlachrote Glühen von Seltsam fühlte sich nicht annähernd so besänftigend an wie sonst. Ich erwiderte die Blicke der anderen so fest ich nur konnte. »Na, das ist ja eine Überraschung. Harry Drood bei etwas, das eine private Versammlung meines Inneren Zirkels sein sollte. Was machst du hier, Harry?« »Ich bin eingeladen worden«, sagte er leichthin. Seine Lippen waren von dem Schlag immer noch angeschwollen und gerissen. Er hätte das leicht heilen können, aber so war es jetzt nützlicher: ein sichtbarer Beweis meines Temperaments und meiner Brutalität. Es hinderte ihn zumindest nicht daran, mich triumphierend anzulächeln. »Harold hat ein Recht, gehört zu werden«, sagte der Seneschall. »Ich verstehe«, sagte ich. »Und das denkt ihr alle?« »Er war bei dir, als alles schieflief«, erwiderte Penny. »Wir brauchen einen unabhängigen Zeugen, um genau herauszufinden, was passiert ist. Das musst du verstehen, Eddie.« »Oh, ich verstehe eine ganze Menge«, sagte ich. »Ich hätte mich daran erinnern sollen, dass Betrug und Hintenrum in dieser Familie ganz normal sind.« Der Waffenmeister wand sich unbehaglich. »Sei nicht so, Eddie. Du weißt, ich bin auf deiner Seite. Aber wir brauchen Fakten über die Geschehnisse. Und wir müssen zusammenhalten. Es kann ja sein, dass Harry uns Dinge über die Schlacht erzählen kann, die du nicht wahrgenommen hast. Wir werden jede Information brauchen, die wir kriegen können, wenn wir mehr Abscheuliche in ihren Nestern erwischen wollen. Wir sind nicht hier, um über dich zu urteilen.« »Ach nein?«, fragte ich. »Nun, du vielleicht nicht, Onkel Jack. Aber die anderen schon. Ihre Meinung steht fest. Ich habe dafür keine Zeit, Leute. Es müssen ganz andere Dinge erledigt werden. Zum Wohl der Familie.« »Wag es nicht, uns hier einfach stehenzulassen«, sagte der Seneschall. »Du kannst mich mal, Cyril«, sagte ich. Und ich ging einfach aus dem Sanktum hinaus, ohne mich umzudrehen, selbst als der Waffenmeister und Penny meinen Namen riefen. Ich war so wütend, dass meine Hände sich wieder zu Fäusten geballt hatten, so fest, dass sie mir tatsächlich wehtaten. Mein Herz pochte wie ein Vorschlaghammer und ich konnte spüren, dass ich vor Zorn rot im Gesicht war. Ich musste raus. Ich konnte nicht zulassen, dass sie mich dazu brachten, das Falsche zu sagen, das Falsche zu entscheiden. Es ergab keinen Sinn zu bleiben; die Richter hatten ihr Urteil gefällt. Und ohne Molly, die mir zur Seite stand, und mit einem schwankenden Waffenmeister wäre ich überstimmt oder überschrien worden, egal, was ich sagte. Von meinem eigenen Inneren Zirkel! Ich konnte nicht fassen, dass sie Harry eingeladen hatten, ohne das zunächst mit mir abzusprechen. Ich schritt durch die Korridore und Verbindungszimmer des Herrenhauses, schimpfte vor mich hin und warf wütende Blicke auf jedes Familienmitglied, das mir begegnete. Die meisten hatten Verstand genug, angemessenen Abstand zu halten. Keiner von ihnen sprach mit mir, sie sahen mir nur schweigend hinterher, während ich vorbeiging. Das passte mir gut. Nur ein dummer Kommentar und ich hätte ihnen eine reingehauen. Dennoch, so wütend ich auch war, ein Teil von mir stand im Hintergrund, schüttelte den Kopf und sagte immer wieder: Das bist nicht du. Du hast immer daran geglaubt, nicht wütend zu werden, sondern klaren Kopf zu bewahren. Als die Matriarchin mich zum Vogelfreien erklärte und mich zum Tode verurteilt hatte, war ich nicht ausgerastet; nein, ich bin damals sofort dazu übergegangen, zu planen, wie ich sie überführen könnte. Aber damals hatte ich gewusst, dass ich unschuldig war, ich hatte nichts Falsches getan. Das hatte mir Mut gemacht, trotz all der Hindernisse, die man mir in den Weg gelegt hatte. Das hier war anders. Nichts außer der Wut hatte Raum in mir und der größte Teil davon richtete sich gegen mich selbst. Weil ich es vermasselt hatte. Ich hatte meine Leute umgebracht. Meine Familie. Alles andere war unwichtig. Als ich am Haupteingang angekommen war, war die Wut einem dumpfen Druck gewichen und ich konnte klarer denken. Oder zumindest so klar, dass ich mir mehr Sorgen um Molly machte, als um mich selbst. Ich hatte sie nicht ernst genug genommen, als sie gesagt hatte, sie könne im Herrenhaus nicht wohnen, dass sie unter lebendigen Dingen leben müsse, in der Wildnis. Ich wusste, dass sie sich nur schwer eingewöhnte, aber ich hatte gedacht, dass sie es schaffen würde. Und jetzt musste ich mich fragen, ob ihr das je gelingen würde. Ob sie es je könnte. Sie war immerhin eine Frau, die sonst in ihrem eigenen privaten Wald lebte, während ich hier bleiben musste, im Herrenhaus, oder riskierte, die Kontrolle über meine Familie zu verlieren. Martha hatte mir schon ins Gesicht gesagt, dass sie nur darauf warte, dass ich alles so durcheinanderbrachte, dass sie wieder die Macht ergreifen und das Matriarchat erneut errichten konnte. Und was dann? Würde sie die alten Sitten wieder etablieren? Goldene Rüstungen statt silberner, für die mit Kinderopfern gezahlt wurde? Zurück zu der Zeit, in der die Familie die Welt regierte, statt sie zu schützen? Nein. Ich konnte das nicht zulassen. Meine Pflicht der Familie gegenüber wog schwerer als die Pflicht mir selbst gegenüber. Das war immer so gewesen. Ich konnte meiner Familie nicht den Rücken zukehren, nicht einmal für Molly. Es ist immer die Familie, die zählt, ob wir das nun mögen oder nicht. Aber so konnte ich Molly verlieren. Die einzige Frau, die ich je geliebt hatte. Ich kam am Haupteingang an, schritt durch die Tür und sah die lange, kiesbestreute Auffahrt entlang, als sich auf einmal aus dem Nichts eine Ambulanz materialisierte. Das sorgte definitiv für meine Aufmerksamkeit, denn eigentlich hätte sich auf unserem Grund und Boden nichts materialisieren dürfen, es sei denn, wir hätten es im Voraus erlaubt. Was wir meist nicht tun. Die Ambulanz kam röhrend die Auffahrt hinauf und hielt mit quietschenden Bremsen direkt vor mir und spritzte Kies auf meine Schienbeine, auf der Seite stand Dr. Syn's nächtlicher Fluglieferservice. Die Fahrertür öffnete sich und der Fahrer stieg aus. Ein fröhlicher Mensch mit einer traditionell weißen und gestärkten Uniform. Er schlenderte herüber zu mir und drückte mir ein Clipboard und einen Stift in die Hand. Dann salutierte er kurz. »Bitte unterschreibt hier, edler Junker. Ein Verrückter frei Haus und nein, ich beantworte keine Fragen. Ich liefere Leute einfach ab und verschwinde wieder, bevor es hässlich wird. Bitte, hier auf der gepunkteten Linie unterschreiben. Damit quittieren Sie die Lieferung eines William Dominic Drood, auch bekannt als Seltsamer John. Und machen Sie voran, Junker, ich habe auch noch diesen amerikanischen Gentleman und sein Riesenkaninchen abzuliefern.« Ich unterschrieb mit Harrys Namen und gab das Clipboard zurück. Ich war immer schon von der vorsichtigen Sorte gewesen. Der Fahrer salutierte noch einmal kurz und ging hinten an die Ambulanz. Dort schloss er ein sehr großes Vorhängeschloss auf und zog die Tür mit einem herzhaften: »Raus mit dir, mein Lieblingsverrückter, du bist zu Hause!« auf. William Drood trat heraus und blinzelte im hellen Sonnenschein, während der Fahrer ihn fest am Arm packte und ihn zu mir brachte. »Bitte sehr, Junker. Ein Bekloppter, wie bestellt. Stundenlanger Spaß für die ganze Familie. Versuchen Sie, ihn nicht zu verlieren. Sie würden nicht glauben, was für einen Papierkram ich hätte, wenn ich ihn wieder einfangen müsste. Ihnen einen schönen Tag noch! Ich hab Sie schon vergessen!« Noch ein Salut und er war wieder in seiner Fahrerkabine. Die Ambulanz brauste mit quietschenden Reifen den Kiesweg hinunter und verschwand in größtem Lärm. Auf einmal schien der Tag wunderbar still. »Eine beunruhigend fröhliche Person«, sagte William. »Ich darf nicht vergessen, ihm einen Dankesbrief zu schicken. Mit einer Briefbombe.« »Willkommen zurück, William«, sagte ich. »Willkommen zu Hause.« Er nickte vage und sah sich um. Er schien nicht besonders glücklich, wieder hier zu sein. Er sah besser aus als das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte, allein in seiner Zelle im Sanatorium »Fröhliches Delirium«. Sie hatten ihn in einen guten Anzug gesteckt, bevor sie ihn nach Hause geschickt hatten, auch wenn er aussah, als fühle er sich nicht sehr wohl darin. Genaugenommen sah er allgemein so aus, als fühle er sich unbehaglich. Sein Gesicht konnte sich nicht so recht für einen Ausdruck entscheiden, und seine Augen sahen wie immer gehetzt um sich, so als sehe er immer noch seltsame Welten und alternative Realitäten in den Augenwinkeln. Und wenn man bedachte, wer er war … Ich sagte wieder seinen Namen und sein starrer Blick wandte sich langsam wieder mir zu. Ich streckte meine Hand aus und nach einer Pause schüttelte er sie ernst. »Erinnerst du dich an mich?«, fragte ich. »Natürlich erinnere ich mich an dich, Edwin. Ich bin nicht völlig gaga. Du hast mich an diesem … Ort besucht. Du hattest eine Botschaft für mich, du meintest, es sei wieder sicher, heimzukommen. Also bin ich hier. Ich hoffe, du hast recht, Edwin.« »Es ist gut, dich wieder hier zu haben, wo du hingehörst«, sagte ich. »Ist es das?«, fragte er geistesabwesend und sah auf das Herrenhaus hinter mir, als sehe er es zum ersten Mal. »Es fühlt sich nicht wie ein Zuhause an. Aber das tat es nicht einmal, als ich ging. Ich habe etwas herausgefunden, weißt du, und danach schien nichts mehr beim Alten zu sein. Ich kann nicht einmal mehr sagen, dass ich mich wie William Dominic Drood fühlte. Ich denke, ich war als Seltsamer John glücklicher. Ich denke, vielleicht … habe ich William hier gelassen, als ich wegging. Vielleicht kommt er ja ebenfalls wieder, jetzt, wo ich wieder hier bin. Wenn es sicher ist. Ich habe etwas im Sanktum gesehen, weißt du …« »Es ist in Ordnung, William«, sagte ich schnell. »Ich weiß, was du gesehen hast, was du herausgefunden hast. Jeder weiß das jetzt. Das Herz ist tot und all seine Boshaftigkeit mit ihm. Wir haben jetzt eine neue Rüstung, aus einer neuen Quelle. Da ist nichts mehr, wovor man Angst haben muss.« Er sah mich traurig an. »Das wäre schön. Aber wir sind Droods. Also gibt es immer etwas, wovor man Angst haben muss. Das kommt davon. Ich hatte Angst vor so vielen Dingen, so lange schon.« Ich wechselte vorsichtig das Thema. »Gibt es jemand besonderen von der Familie, den du sehen willst? Jemand, den du vermisst hast?« »Nein«, sagte William nach einem Moment. »Ich hatte nie eine eigene Familie. Oder alte Freunde … Das scheint alles so lange her zu sein. Ich glaube nicht, dass ich will, dass sie mich so sehen. Ich bin … noch nicht wieder ich selbst. Wer auch immer das sein wird.« »Ich weiß, was du brauchst«, sagte ich entschieden. »Du warst der beste Bibliothekar, den die Familie je hatte und wir haben eine wundervolle Überraschung für dich. Wir haben die alte Bibliothek wiederentdeckt, nach all den Jahren. Wir brauchen jemanden wie dich, um sie zu ordnen.« William sah mich scharf an, sein Gesicht wirkte zum ersten Mal wach und interessiert. »Die alte Bibliothek? Aber die ist doch durch ein Feuer zerstört worden, vor Jahrhunderten schon!« »Nein«, sagte ich grinsend. »Sie wurde nur versteckt und wartete darauf, gefunden zu werden. Und du wirst nicht glauben, was für alte Schätze sich darin finden. Komm mit!« Ich brachte ihn durch das Herrenhaus und er sah sich staunend wie ein Tourist um, als hätte er es noch nie gesehen. Vielleicht hatte er alles vergessen, bei seinen Bemühungen, alles zu verdrängen, was er im Sanktum gesehen hatte. Er hatte es vergessen müssen, um zu überleben. Er hatte sich selbst in eine Irrenanstalt gebracht, vor der Familie versteckt und verdrängt, was er über sie entdeckt hatte. Er hatte vorgegeben, verrückt zu sein, um hineinzukommen, aber mit den Jahren hatte er es weniger und weniger vorgeben müssen. Er war jetzt schon so lange weg, dass keiner der Leute, denen wir begegneten, ihn erkannte, und er zeigte kein Interesse daran, mit einem von ihnen zu reden. Als ich ihn zur Bibliothek brachte, hellte sich seine Stimmung umgehend auf. Er ging durch die Regale, lächelte, wenn er dieses oder jenes Buch wiedererkannte, und schüttelte den Kopf über den Zustand des Ganzen. Er stand jetzt aufrechter, sein Blick war schärfer und er schritt mit mehr Selbstsicherheit aus. Jetzt, in vertrauter Umgebung, kam mehr und mehr seines eigenen Ichs wieder zu ihm zurück. Er sah beinahe wieder so aus und hörte sich so an wie der Bibliothekar, den ich aus meiner Kindheit kannte. Als ich glaubte, dass er fertig wäre, nahm ich ihn mit zu dem Porträt des alten Archivars an der hinteren Wand, öffnete es mit den richtigen Worten und wir gingen durch das Porträt in die alte Bibliothek - das riesige Lager von uraltem Familienwissen und vergessener Weltgeschichte. William nahm einen tiefen Atemzug und starrte mit großen Augen und entzückt wie ein Kind auf die kilometerlangen Regale. Stöße und Berge von Büchern, Manuskripten und Schriftrollen, ja sogar ein paar Steintafeln, erstreckten sich, so weit das Auge sehen konnte, in die Ferne. William lächelte plötzlich und es war, als würde auf einmal sein ganzes Gesicht lebendig. Ich lächelte ebenfalls, froh, endlich etwas richtig gemacht zu haben. Das Herrenhaus fühlte sich vielleicht für ihn nicht an wie ein Zuhause, aber die alte Bibliothek dafür ganz sicher. »Für den Anfang könntest du vielleicht für mich ein paar Nachforschungen anstellen«, sagte ich leichthin. »Ich brauche alles, was du über die kandarianische Kultur finden kannst und besonders ein paar alte Riten, die Wesen betreffen, die die Eindringlinge genannt werden. Nimm dir Zeit. Heute Abend würde vollkommen reichen.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte er in der typisch schnoddrigen Art eines Bibliothekars. »Manche Dinge ändern sich nie. Du willst das Unmögliche und das auch noch zu einem bestimmten Zeitpunkt. Muss ich das alles alleine tun oder habe ich irgendwelche Mitarbeiter?« »Gerade mal einen«, sagte ich. »Um genau zu sein, der derzeitige Bibliothekar. Rafe? Rafe, wo bist du?« Ein Kopf poppte aus einem Stapel Bücher weiter hinten heraus, eine Hand winkte fröhlich und ein freundlicher, junger Kerl mit einem breiten, strahlenden Gesicht kam zu uns herübergelaufen. Ich mochte Rafe. Der vorige Bibliothekar hatte seinen Posten abgegeben, als ich die Leitung der Familie übernommen hatte. Er war nicht nur ein Mitglied der Null-Toleranz-Fraktion, sondern gehörte auch zu den Anhängern der Matriarchin, und weigerte sich deshalb, für mich zu arbeiten. Ich war gezwungen gewesen, seinen Assistenten zum Vollbibliothekar zu befördern. Er hatte sich gar nicht so schlecht gemacht. Es half, dass er seinen Job liebte und praktisch in Ekstase verfallen war, als er der alten Bibliothek ansichtig geworden war. Er versuchte derzeit, einen Index zu erstellen, damit wir wenigstens wussten, was es hier alles gab. »Hi!«, sagte er zu William und schüttelte begeistert dessen Hand. »Ich bin Rafe. Eine Abkürzung von Raphael, was ich nie benutze. Ich bin keine Schildkröte. Sie müssen William sein. Sie sind eine Legende in Bibliothekskreisen! Die, wie man zugeben muss, gar nicht so groß sind. Aber! Hier sind Sie, wieder da und genau rechtzeitig, um mir zu helfen, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Keiner hat diesen Ort in den letzten Jahrhunderten genutzt und das sieht man ihm an. Ich habe schon gesagt, dass ich die Hilfe eines Experten brauche, aber es hat mich ja völlig umgeworfen, als Edwin gesagt hat, er könnte Sie kriegen! Und hier sind Sie! Ich freu mich echt darauf, mit Ihnen zu arbeiten!« »Keine Sorge«, sagte ich zu William. »Er wird sich schon wieder beruhigen, wenn er sich an dich gewöhnt hat. Und das Ritalin in seinem Tee hilft ihm dabei.« »An die Arbeit«, sagte William. Und er ging davon, in die Regalreihen hinein und sah sich nicht einmal nach einem von uns um. Rafe nickte mir kurz zu, grinste und hastete hinter seinem neuen Mentor her. Ich grinste ebenfalls und schüttelte den Kopf, als William Rafe von Bücherstapel zu Bücherstapel schickte, um alte Folianten und heilige Texte hervorzusuchen und hinter ihm herzurufen wie ein Hirte seinem Hütehund. Mit etwas Glück würde das Ordnen der alten Bibliothek William ein wenig helfen, sein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Als ich aus dem Portal in die Hauptbibliothek zurückkam, wartete Penny auf mich. Ich drehte mich um, um das Porträt zu schließen und ging dann wortlos an ihr vorbei. Vielleicht ein wenig kindisch, aber ich war wirklich nicht in der Stimmung, herumzudiskutieren. Penny ging einfach neben mir her, kühl und gesammelt wie immer. »Es ist nicht einfach, dich festzunageln, Eddie. Wenn nicht jemand gesagt hätte, dass er William Drood hier hat herumlaufen sehen, dann hätte ich nie hier nachgesehen. Ist er wirklich all die Jahre im Irrenhaus gewesen? Na, egal, du hattest mit den Tutoren recht, also hast du es hoffentlich mit den Vogelfreien ebenfalls. Bitte, lauf etwas langsamer, Eddie! Wir müssen reden!« »Nein, müssen wir nicht«, sagte ich und wurde nicht langsamer. »Doch, das müssen wir! In deiner Abwesenheit hat der Innere Zirkel Harry zu einem Vollmitglied gewählt. Jeder hat zugestimmt. Selbst der Waffenmeister, auch wenn er es sicher nur getan hat, weil Harry James' Sohn ist. Wie auch immer - der Punkt ist, dass der Innere Zirkel einstimmig beschlossen hat, dass dir nicht mehr erlaubt ist, militärische Entscheidungen zu treffen, ohne vorher den Inneren Zirkel zu befragen. Und dass du ohne die Zustimmung des Zirkels nichts Derartiges mehr in die Wege leiten darfst. Weißt du, was das bedeutet? Jetzt mach langsamer, Eddie, ich kriege Seitenstechen! Na, hast du nichts dazu zu sagen?« »Glaub mir, du willst wirklich nicht hören, was ich dazu gerne sagen würde.« »Eddie …« »Nichts davon spielt eine Rolle«, sagte ich kurz. »Ich habe den Inneren Zirkel einberufen, um mich zu beraten. Nichts weiter.« »Ich verstehe«, sagte Penny kalt. »Also bist du jetzt der Patriarch, ist es das? Du führst die Familie eigenmächtig, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen?« »Themenwechsel«, sagte ich und sie musste etwas in meiner Stimme gehört haben, denn sie tat es. »Ich habe endlich Kontakt mit dem Vogelfreien aufnehmen können, der als der Maulwurf bekannt ist. Mit ein bisschen Fantasie unserer Kommunkationsleute, die sich für meinen Geschmack ein wenig zu sehr mit geheimem Nachrichtenwesen befasst haben. Du sagtest, du willst den Maulwurf wieder hier im Schoß der Familie haben.« »Er könnte uns sehr nützlich sein«, sagte ich ein bisschen defensiv. »Als er vogelfrei wurde, ging er in den Untergrund, im wahrsten Sinne des Wortes. Und bastelte ein Informationsnetzwerk, das in der Welt seinesgleichen sucht. Er weiß Dinge, die sonst niemand weiß. Und er steht in Kontakt mit allen möglichen mächtigen Gruppen und Individuen, die nicht mal im Traum daran denken würden, direkt mit uns zu reden. Wir brauchen den Maulwurf und seine Quellen.« »Nun, unglücklicherweise weigert sich der Maulwurf, seine Höhle zu verlassen«, sagte Penny. »Auch wenn wir alles getan haben, um ihn von seiner Sicherheit hier zu überzeugen. Er hat sehr deutlich gesagt, dass er sein Refugium auf keinen Fall verlassen wird. Aber du musst ihn beeindruckt haben, weil er sich einverstanden erklärt hat, mit uns Informationen darüber zu suchen, was die Abscheulichen vorhaben und über die möglichen Standorte anderer Nester. Gerade jetzt ist er in einer Telefonkonferenz mit ein paar unserer besten Technogeeks und zweifellos bringt er ihnen alle möglichen üblen Tricks bei.« Ich nickte und ging ein wenig langsamer. Penny hatte angefangen zu keuchen. »Das ist das Beste, was wir beim Maulwurf erreichen können«, sagte ich. »Ich werde später mit ihm reden. Sind noch mehr Vogelfreie aufgetaucht?« »Wir haben allen die Nachricht zukommen lassen. Aber es liegt an ihnen, uns zu kontaktieren. Und viele von ihnen haben einen guten Grund, vorsichtig zu sein. Also, das ist alles an Neuigkeiten, was ich auf Lager hatte. Ich bin dann mal weg. Ich habe noch einiges vor.« »Jemand Bestimmtes?«, fragte ich. Es musste etwas in meiner Stimme gelegen haben, denn sie bedachte mich mit einem stechenden Blick. »Nicht, dass es dich etwas anginge, aber ja. Ich treffe mich mit Mr. Stich.« »Du willst doch nicht wirklich mit ihm reden«, sagte ich. Ich hielt an und sie mit mir. Ich sah sie nachdenklich an. Sie hatte einen grimmigen, trotzigen Gesichtsausdruck, also wählte ich meine Worte sorgfältig. »Du weißt nicht, was er ist, Penny. Ich habe einige seiner Opfer gesehen. Oder was von ihnen übrig war; aufgeschnitten, ausgeweidet. Ich habe einmal in einem seiner Verstecke seine alten Opfer gesehen, sie saßen arrangiert um einen Tisch herum, ausgestopft und mumifiziert, damit er ihren Tod wieder erleben und sich daran weiden konnte. Er konservierte ihren Schrecken und ihre Schreie. Er ist nicht menschlich, Penny. Nicht mehr. Er hat sich damals, 1888, zu etwas ganz anderem gemacht.« »Du kennst ihn nicht so wie ich«, sagte Penny. »Du hast dir nie die Zeit genommen, mit ihm zu reden und ihm zuzuhören, so wie ich. In ihm steckt mehr, als du denkst. Er braucht Hilfe, jemand, dem es wichtig genug ist, dass er sich ändert. Jeder kann geläutert werden, Eddie.« Ich suchte immer noch nach etwas, was ich ihr sagen konnte, als sie sich auf dem Absatz umdrehte und davonging. Ich hätte ihr nachgehen können, doch ich tat es nicht. Es hätte nichts genutzt. Einige Leute wollten nicht belehrt werden. Sie mussten es selbst erfahren, manchmal auf die brutale Art. Und welcher Mann verstand schon, was eine Frau in einem anderen Mann sah? Vielleicht konnte Mr. Stich ja gerettet werden. Molly glaubte an ihn. Ich … nicht. Das war Mr. Stich: Ein Mörder und Killer von Frauen seit über einem Jahrhundert. Ein Jahrhundert des Metzelns, von Frauen, die vielleicht ebenso geglaubt hatten, ihn zu verstehen, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er das Messer zog. Also ging ich und suchte mir eine stille Ecke, verriegelte die Tür und befahl Merlins Spiegel, mir zu zeigen, was Penny und Mr. Stich so vorhatten. Du benutzt den Spiegel zu oft, hatte Molly gesagt. Du wirst davon abhängig. Aber ich tat nur, was ich tun musste. Für die Familie. Penny und Mr. Stich spazierten durch den Park hinunter zum See. Der Himmel war sehr blau, die Bäume wiegten sich in einer starken Sommerbrise hin und her und schneeweiße Schwäne segelten majestätisch über das Wasser des Sees. Penny schnalzte mit der Zunge, um sie anzulocken, aber keiner von ihnen kam näher, solange sie Mr. Stich bei sich hatte. Die beiden gingen nebeneinander her, lächelten und sprachen miteinander wie alte Freunde. »Also«, meinte Penny. »Gefiel es Ihnen, all die Abscheulichen zu töten?« »Nicht wirklich«, erwiderte Mr. Stich. »Sie sind nicht gestorben wie normale Leute. Es gab kein wirkliches Leiden, keinen Schrecken in ihren Augen und das ist nun einmal das A und O für mich.« »War das Ganze so ein Desaster, wie Harry die ganze Zeit behauptet?« »Nein«, sagte Mr. Stich nach einer nachdenklichen Pause. »Wir haben die Abscheulichen davor zurückgehalten, ihren unheiligen Meister von der Anderen Seite herzuholen. Ihren Turm zerstört, die meisten von ihnen getötet und die anderen zerschlagen. Edwin hat den Plan entwickelt, der das möglich gemacht hat. Wenn er das nicht getan hätte, wenn dieses Wesen durchgekommen wäre, dann wäre das eine Katastrophe gewesen, und die ganze Welt hätte dafür gezahlt. Die Menschheit selbst wäre vielleicht ausgelöscht worden … Vielleicht sogar ich. Es war ein interessantes Ereignis, mich von Angesicht zu Angesicht einer Kreatur gegenüber zu finden, die noch bösartiger ist als ich.« »Fühlen Sie immer noch den Drang zu töten?«, fragte Penny plötzlich. »Oder sind Sie nun befriedigt?« »Ich fühle den Drang immer noch«, meinte Mr. Stich. »Ich fühle ihn immer.« Er sah sie offen an. »Warum suchen Sie mich auf, Penny? Sie wissen, was ich bin. Was ich Frauen antue. Wollen Sie, dass ich es Ihnen antue?« »Natürlich nicht!« »Also warum, Penny?« »Niemand ist je so schlimm, wie von ihm gesagt wird«, antwortete sie nach einer Weile. »Ich bin es.« »Vielleicht. Ich habe alle Geschichten gehört. Aber ich wollte den Mann hinter den Geschichten kennenlernen. Etwas zieht mich zu Ihnen hin.« Penny sah in sein Gesicht und hielt seinem kalten Blick unbeirrt stand. »Jeder kann gerettet werden. Jeder kann wieder ins Licht gebracht werden. Ich habe immer daran geglaubt.« »Was, wenn man nicht gerettet werden will?« »Wenn das wahr wäre«, sagte Penny, »dann hätten Sie Ihr Wort Molly gegenüber bereits gebrochen. Sie leben hier mit uns, umgeben von Versuchung, aber Sie tun nichts. Molly sagte, Sie seien ein guter Freund von ihr.« »Molly glaubt, was sie glauben will.« »Das tue ich auch«, sagte Penny. »Und jetzt genug geredet über dunkle und unerfreuliche Dinge! Ich werde Sie für eine Weile davon ablenken.« Mr. Stich nickte langsam. »Ja. Sie wären vielleicht dazu in der Lage.« »Ich dachte, ein Picknick wäre nett«, sagte Penny fröhlich. »Ich habe einen Korb mit allem gepackt, was man dazu braucht, in dem kleinen Wäldchen da drüben. Sollen wir?« »Warum nicht?«, sagte Mr. Stich. »Es ist lange her, dass ich etwas so … Zivilisiertes getan habe.« »Wir müssen uns einfach besser kennenlernen«, sagte Penny. »Wie lange ist es her, dass Sie mit jemandem völlig frei haben reden können? Wie lange ist es her, dass einfach jemand dasaß und Ihnen zugehört hat?« »Lange«, meinte Mr. Stich. »Ich bin seit einer sehr langen Zeit allein.« »Ich kann Sie nicht immer Mr. Stich nennen. Haben Sie keinen Vornamen?« Er lächelte. »Nennen Sie mich Jack.« »Ach, Sie!« Und sie gingen Arm in Arm zusammen davon. Ich steckte Merlins Spiegel weg und rannte mit Höchstgeschwindigeit zum Haupteingang. Ich wollte nicht, dass Penny mit Mr. Stich alleine war, weit weg von jeder Hilfe. Ich glaubte zwar nicht, dass er eine Drood direkt vor Drood Hall angreifen würde, aber … Ich lief durch die Hallen und Verbindungsräume und alle Familienmitglieder wichen zurück und machten mir großzügig Platz. Einige warfen mir böse Blicke zu, einige murmelten etwas vor sich hin, aber keiner hatte mir etwas zu sagen. Auch gut. Ich hatte ihnen auch nichts zu sagen. Als ich endlich zum Haupteingang kam, wartete Molly dort auf mich, zusammen mit einem Bekannten und einem Fremden. Sie hatte sie beide geradezu gemein an den Ohren gepackt und übte gerade genug Druck aus, um sie beide still zu halten. Sie warfen ihr wütende Grimassen zu. »Schau mal, wen ich gefunden habe!«, sagte sie fröhlich. »Die haben hier im Park herumgeschnüffelt.« »Wir haben nicht geschnüffelt!«, protestierte das Gesicht, das mir bekannt vorkam, mit so viel Würde, wie man aufbringen konnte, wenn einem jemand das Ohr in einen fiesen Knoten dreht. »Wir haben uns nur Zeit gelassen, entdeckt zu werden.« »Hallo, Sebastian«, sagte ich. »Ist schon ein Weilchen her, seit du mich an das Manifeste Schicksal verraten und versucht hast, mich zu töten. Wer ist denn dein sich windender Freund?« »Halt still!«, sagte Molly bissig. »Oder ich werde euch die Ohren abreißen und euch zwingen, sie zu essen.« »Alles in Ordnung, Molly«, sagte ich besänftigend. »Du kannst sie jetzt loslassen. Sogar ein so eingefleischter Dieb und Bauernfänger wie Sebastian Drood ist vernünftig genug, keinen Streit im Herrenhaus anzufangen. Stimmt's, Sebastian?« »Natürlich, natürlich! Lass mich los, Frau, bevor mein Ohr völlig deformiert ist! Ich werde brav sein. Ich versprech's.« »Verdammt, ja, genau das wirst du sein«, grummelte Molly. Sie ließ widerwillig los und Sebastian und sein Begleiter richteten sich auf und befingerten zimperlich ihre geröteten Ohren. Sebastians übliches kultiviertes Gehabe war dahin, aber er sah in seinem meisterlich geschnittenen Anzug noch sehr distinguiert aus und war für einen Mann in den Sechzigern sehr gut in Form. Selbst sein dünner werdendes Haar war offensichtlich gefärbt. »Ich bin nicht nur ein alternder Dieb«, sagte er hoheitsvoll. »Ich bin ein Gentleman-Einbrecher. Ich stehle wunderschöne Objekte von Leuten, die sie nicht zu schätzen wissen und gebe sie weiter an Menschen, die das können. Für eine kleine Provision. Ich stehle nur das Allerbeste, von den Allerbesten. Ich habe meine Prinzipien.« »Wie seid ihr ungesehen in den Park gekommen?«, fragte ich. »Wir haben die Sicherheitssysteme des Herrenhauses komplett überarbeitet, als ich wiederkam. Der Alarm hätte überall hörbar losgehen müssen, in dem Moment, in dem ihr auch nur daran gedacht habt, hier einzubrechen.« Sebastian schenkte mir sein bestes hochmütiges Lächeln. »Ich bin ein professioneller Einbrecher, mein Lieber, und ein Experte auf meinem Gebiet. Und ich habe ein paar alte Gefallen eingefordert. Du weißt ja, wie das ist.« »Nicht im Entferntesten«, sagte ich. »Erleuchte mich.« »Erzählst du mir vielleicht all deine Geheimnisse? Überflüssig zu sagen, dass es ein einmaliger Deal war und höchstwahrscheinlich nicht wiederholt werden kann. Und wenn du jetzt fragst, warum ich einen so unauffälligen Weg hierher gewählt habe, will ich nur sagen, ich war mir nicht völlig sicher, ob ich willkommen sein würde. Sieh nur deine eigene Vergangenheit. Deine Botschaft an die Vogelfreien besagte, dass alle Sünden vergeben sind, aber ich fürchte, ich bin in der Zeit, in der ich von der Familie getrennt war, schrecklich zynisch geworden.« »Du hast so viele Sünden, die dir vergeben werden müssten«, sagte ich. »Einschließlich derer, die du gegen Molly und mich verübt hast. Aber Schwamm drüber, Seb, du hast mich ja nur an meine Feinde verraten. Das erwarten wir heutzutage innerhalb der Familie. Aber du schienst doch so gut zurechtzukommen, draußen in der Welt. Warum hast du deine kleine Luxushöhle in Knightsbridge denn aufgegeben? Und wag es nicht, das Wort ›Pflicht‹ zu benutzen; ich kenne dich, Seb.« »Ich will meinen Torques wiederhaben«, sagte Seb rundheraus. »Ich habe mir in all den Jahren zu viele Feinde gemacht, um ohne einen lang überleben zu können.« »Ehrlich bist du ja«, meinte ich. »Aber wenn im Herrenhaus auch nur eines unserer kostbaren Erbstücke verschwindet, während du hier bist, dann weiß ich, dass du das warst. Und ich werde Molly dich in irgendetwas viel Schleimigeres verwandeln lassen, als du sowieso schon bist.« »Etwas ganz besonders Zähflüssiges und Glibbriges, mit Augäpfeln vorne drauf und Tentakeln«, sagte Molly hämisch. »Ich hab's geübt.« »Und da sagt man immer, man könne nicht heimkommen«, erwiderte Sebastian. »Genau so erinnere ich mich an die Familie: Kalt vorverurteilend und extrem bedrohlich. Sorge dich nicht, Edwin, ich bin nicht hier, um viel Lärm zu machen, ich will nur meine Rüstung. Selbst wenn ich - und ich kann nicht fassen, dass ich das sage - etwas tun muss, um sie zu verdienen.« »So ist es recht«, lobte ich. »Du wirst dich hier wohlfühlen.« »Ich habe gehört, du suchst Tutoren«, sagte er. »Ich hätte da so einige Tricks in petto, die ich … nun, sagen wir, geistig offenen jungen Droods beibringen könnte. Dinge und Fähigkeiten, von denen sie wahrscheinlich nicht einmal träumen würden.« »Ich hoffe, dass du das nicht tust«, sagte ich. »Oder wir müssten sie rauswerfen, so wie dich.« Sebastian schnüffelte verletzt. »Da ist wirklich nicht für einen Cent Nächstenliebe in dir, Edwin, oder?« »Kein bisschen«, antwortete ich. »Wurde mir alles chirurgisch entfernt. Also, wer ist dein Freund hier?« »Oh, ich bin Freddie Drood, Schätzchen«, sagte der junge Mann an Mollys anderer Seite. »Es ist ja so fabelhaft, dass wir uns kennenlernen!« Freddie war groß und hübsch, mit einer kaffeefarbenen Haut und kurzgeschnittenem, jettschwarzem Haar. Er trug eine Jacke aus Schlangenhaut über einem bis auf den Nabel offenstehenden Seidenhemd und Levi's, die so eng waren, dass ich sicher war, er hatte sie im Wasserbad schrumpfen lassen. Um seine Augen herum trug er Mascara. Er hatte einen buschigen Schnurrbart und ein breites Grinsen, bei dem er blendend weiße Zähne zeigte. »Freddie«, sagte ich. »Ich kann nicht behaupten, dass ich den Namen kenne.« »Wie unfreundlich«, sagte Freddie schmollend. »Ich war zu meiner Zeit absolut berüchtigt, mein Liebchen. Aber ich befinde mich finanziell in einer winzig kleinen Notlage, also hab ich mich mit Sebbie hier zusammengetan, sozusagen als Partner. Ich habe ihn in all die In-Partys eingeführt, damit er die Orte ausbaldowern konnte und dann sind wir später wiedergekommen und haben die armen Lieblinge ausgeraubt.« »Und warum hat die Familie dich rausgeworfen?«, wollte ich wissen. »Oh, ich war immer besonders. Auffälliger und größer als das Leben selbst, Süßer«, sagte Freddie, warf seinen Kopf zurück und nahm eine dramatische Pose ein. »Ich habe als Frontagent angefangen, aber einmal von den trockenen Familienbanden befreit, bin ich förmlich aufgeblüht! Ich war beinahe ein Star, Schätzchen, und wirklich hinter allem her, was mich in die Nähe der Reichen und Berühmten brachte. Die Familie hat das zuerst unterstützt, weil ich den allerfeinsten Klatsch über unsere vermeintlichen Herren und Meister kannte. Aber ich konnte nicht länger unter dem Radar bleiben, ich wurde langsam bemerkt. Also sagte mir die Familie, ich sollte wieder nach Hause kommen. Ich weigerte mich und sie drehten mir den Geldhahn zu. Diese herzlosen Schweine! Glücklicherweise lebte ich schon beim ersten einer ganzen Reihe von Sugar Daddys. Und alle waren sie bereit, mir den Lebensstil zu ermöglichen, an den ich mich schon gewöhnt hatte und den ich auf keinen Fall aufgeben wollte. Also hieß es für eine lange Zeit, Party, Party und lass es krachen! Bis ich den Fehler machte zu versuchen, selbst etwas zu meinem Lebensunterhalt beizutragen, mit einer kleinen, diskreten Erpressung. Die erste Person, die ich mir aussuchte, beging Selbstmord, das arme Herzchen. Er hinterließ einen Brief, der alles enthüllte. Danach war ich in den besseren Kreise eine Persona non grata, für eine so lange Zeit! Deshalb bin ich jetzt bei Sebbie. Ich lebe auf sehr großem Fuß, Liebelein: Tanzen und Trinken und Prassen, die ganze Nacht!« »Und was machst du dann wieder hier?«, fragte ich, als Freddie endlich einmal Luft holen musste. »Ich brauche einfach einen Torques, Süßer. Es gibt heutzutage einfach zu viele Krankheiten da draußen. Keine Sorge, ich bin gern bereit, für mein Abendessen zu singen. Ein Mädchen in meiner Lage hört in der Regel ein paar Dinge. Ich bin sicher, ich kann dir alles Mögliche sagen, was du hören willst.« »Da bin ich sicher«, erwiderte ich. »Okay, ihr beide erschreckt mich über alle Maßen, aber unglücklicherweise seid ihr jetzt in diesem Moment gerade das, was die Familie braucht. Herein mit euch, meldet euch beim Seneschall und findet einen Weg, euch nützlich zu machen. Seb, ich denke, wir können dich mit einer Reihe Seminaren und Vorlesungen beschäftigen. Wie man einen Torques für Illegales benutzen kann, um etwas aufzubrechen oder wie man in etwas hereinkommt und so etwas in der Art. Freddie, versuch dich zu beschäftigen und keinen Arger zu machen.« »Süßer, so beschäftigt wie ich sein werde, war ich in meinem Leben noch nicht«, erwiderte Freddie. Mit einem Winken und einem Augenzwinkern tänzelte er ins Herrenhaus, gefolgt von Sebastian mit Leichenbittermiene. »War das schlau?«, fragte Molly. »Man könnte einen Zehner wetten, dass die nur gekommen sind, um das Herrenhaus auszuräumen.« »Vielleicht«, sagte ich. »Hoffentlich wirft der Seneschall ein wachsames Auge auf sie. Entweder das, oder er bringt sie um. Und wir brauchen die Vogelfreien hier im Haus. Wir brauchen ihre unterschiedlichen Blickwinkel, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten.« »Selbst wenn das heißt, solchen Abschaum wie Sebastian wieder willkommen zu heißen?« »Jeder verdient eine Chance«, sagte ich. »Ich muss daran glauben, dass jeder erlöst werden kann.« In diesem Moment kam Freddie wieder, ohne Sebastian. »Ich hatte eine Idee«, sagte er strahlend. »Wenn ich das richtig verstehe, dann hat die Familie doch alle Vogelfreien wieder zurückgerufen, aber kaum jemand nimmt das Angebot an, oder? Dachte ich mir, ihr Süßen. Eigentlich verständlich, so leid mir's tut. Nicht jeder traut einem neuen Regime zu, so komplett anders zu sein als das alte. Aber ich bin bekannt dafür, dass ich zu meiner Zeit alle möglichen Vogelfreien getroffen habe, an allen möglichen interessanten Orten. Einige sind lange vergessen, ein paar tot geglaubt, jedenfalls von der Familie. Wie wäre es wenn ich rausgehe in die Welt, diese flüchtigen Kerlchen einfange und meinen geballten Charme einsetze, um sie wieder zur Heimkehr zu bewegen? Für ein großzügiges Kopfgeld pro Nase, versteht sich.« »Oh, natürlich«, sagte ich. »Klingt gut für mich. Mach deine Sache gut und ich garantiere dir einen neuen Torques. Hat ja nicht lange gedauert, bis du die alte Heimstatt wieder leid warst, oder?« »Süßer, ich habe ganz vergessen, wie bedrückend dieses alte Gemäuer ist«, sagte Freddie. »Ich könnte hier nie leben. Ich würde vertrocknen, ihr Schätzchen, absolut vertrocknen! Ich muss meine Freiheit haben!« »Und du hast sie«, sagte ich. »Hau schon ab.« »Und das Kopfgeld?« »Kommt drauf an, was du lieferst. Du findest deinen Weg raus, oder?« »Das tu ich immer, Herzchen.« Er tänzelte den langen Kiesweg hinunter und schwang dabei die Hüften noch ein wenig mehr, weil er wusste, wir sahen zu. Irgendwie wusste ich einfach, dass Freddie immer dann am glücklichsten war, wenn er Publikum hatte. »Deine Familie hört nicht auf, mich zu überraschen«, sagte Molly. »Mich überrascht sie auch manchmal«, erwiderte ich. »Mein eigener Innerer Zirkel hat sich gegen mich gewendet, weil du nicht da warst.« »Eddie, das ist nicht fair«, sagte Molly. »Wenn du sie nicht kontrollieren kannst, dann kannst du das sicher nicht von mir erwarten.« »Ich will sie nicht kontrollieren«, sagte ich. »Nicht auf diese Weise. Ich will, dass diese dummen Idioten begreifen, dass ich recht habe. Sie müssen daran glauben, dass ich das Richtige tue. Oder alles, was ich getan habe, um die Seele der Familie zu retten, war umsonst.« »Dafür brauchst du mich nicht«, sagte Molly. »Doch, das tue ich. Ich brauche dich einfach, Molly. Ich bin stärker, selbstsicherer, wenn du bei mir bist.« Molly lächelte und kam mir ganz nah. Sie legte die Hände auf meine Brust. »Das ist sehr süß, Eddie. Aber ich kann nicht immer bei dir sein. Das kann ich einfach nicht. Nicht hier. Ich hab dir gesagt, dass ich nie hierher passen werde. Ich gehöre in die Wildnis. Ich fange an zu glauben, dass ich einen Fehler gemacht habe, indem ich mit dir hierher kam. Ich liebe dich, Eddie, du weißt, dass ich das tue. Du bedeutest mir mehr als jeder andere vor dir. Ich will dich, Eddie, aber all das hier will ich nicht.« Sie sah mich einen langen Moment an, ihre dunklen Augen glichen tiefen und unauslotbaren Abgründen. »Du fängst einen Krieg an, Eddie. Einen Krieg, von dem ich nicht weiß, ob du ihn gewinnen kannst. Die Abscheulichen waren schlimm genug, aber dieses Ding, das sie beschworen haben? Überdimensional schlimm. Ich war einverstanden, gegen Dämonen zu kämpfen, nicht gegen Götter. Du musst mit etwas Kleinerem anfangen, etwas Überschaubarerem. Sowas wie das Manifeste Schicksal. Truman ist immer noch da draußen und stellt seine widerliche kleine Organisation wieder auf die Beine. Und diesmal wird er keine Null-Toleranzler auf seiner Seite haben, die ihn zügeln und ihn zurückhalten. Fang bei ihm an, Eddie. Mit einem Kampf, den du gewinnen kannst.« »Ich werd's mir überlegen«, sagte ich. »Und jetzt komm bitte wieder mit rein. Wenigstens für eine Weile. Ich bin müde, ich muss mal loslassen. Ein bisschen schlafen, die Welt und ihre Probleme für eine Weile vergessen. Morgen ist ein harter Tag.« »Aber natürlich, Süßer. Komm und leg dich mit mir hin und ich werde deine Sorgen für eine Weile verschwinden lassen. Und du kannst mir helfen, meine zu vergessen. Aber was ist denn an morgen so Besonderes? Was passiert morgen?« »Die Beerdigungen«, sagte ich. Der nächste Morgen kam viel zu schnell, und das beharrliche Scheppern eines nervigen Weckers stellte sicher, dass Molly und ich frisch, fröhlich und früh genug den neuen Tag begrüßten. Und natürlich all die Probleme und Kalamitäten, die er versprach. Molly und ich gingen hinunter, um in einem der großen Speisesäle zu frühstücken. Lange Reihen von mit weißem Tuch gedeckten Tischen standen dort, ein langer Tresen, auf dem alle Arten von Frühstück standen, die man sich nur vorstellen kann, und es gab lange Fenster, die einen Blick über die Rasenflächen gestatteten. Es gab geschmorte Nierchen, gebratenen Reis mit Fisch und Eiern, selbst Porridge, auch wenn man mich wohl nie dazu bringen würde, dieses Zeug zu essen, egal, wie viel Salz man darüber streute. Ich bin nicht gerade ein Frühaufsteher, das war ich nie. Und ich bin auch nicht sehr scharf auf Frühstück, aber an diesem Tag aller Tage musste ich gesehen werden, damit mich niemand beschuldigen konnte, die Beerdigungen zu versäumen. Meine Abwesenheit hätte als ein Schuldeingeständnis verstanden werden können. Also hielt ich mich an einer Tasse starken schwarzen Kaffees fest, während Molly sich den Bauch mit einem kompletten Teller Gebratenem, mit Leber und Pilzen und mehr Rührei, als ihren Arterien gut tun konnte, vollschlug. Ich hatte noch nie bemerkt, wie laut sie aß, aber vielleicht lag das auch nur an der Uhrzeit. Jedes Geräusch klingt am frühen Morgen noch lauter und eindringlicher. Es waren auch eine Menge Leute um uns herum, die frühstückten und angeregt miteinander sprachen Keiner von ihnen hatte mir oder Molly etwas zu sagen. »Warum stehen wir so früh auf?«, fragte Molly und griff ihren Berg von dampfendem Rührei erneut mit alarmierender Vehemenz an. »Begräbnisse werden hier immer früh am Morgen abgehalten«, sagte ich. »Das ist Tradition. Vielleicht ist das diesmal sogar gut, wir haben eine Menge zu tun. All die Leute, die ich verloren habe …« »Fang damit gar nicht erst an«, sagte Molly streng und drohte mir mit ihrer Gabel. »Nichts von dem, was passiert ist, war dein Fehler. Wenn es das wäre, dann würde ich es dir sagen. Laut und heftig und dort, wo mich jeder hören könnte.« Ich zog das in Erwägung. »Das würdest du wirklich, stimmt's?« »Also, warum halten sie das Begräbnis so schnell ab? Es ist ja nicht so, als würde jemand abhauen.« »Wir zögern nicht, wenn es darum geht, jemanden zu begraben«, meinte ich. »Die Familie hat zu viele Feinde, die versuchen könnten, unsere Toten gegen uns zu verwenden.« Molly kaute auf einem knusprigen Schinkenstück herum, nachdenklich und gründlich. »Wie laufen Begräbnisse bei euch ab?« »Oh, es wird eine große Zeremonie werden«, sagte ich. »Meine Familie hat eine Zeremonie für praktisch alles. Wir sind ganz groß, was die Tradition angeht. Hindert das Fußvolk daran, selbst zu denken. Und ich werde zum Schluss eine Rede halten müssen. Das wird von mir erwartet.« »Was wirst du sagen?«, fragte Molly. »Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich denke, ich könnte mich der Gnade der Familie ausliefern.« Molly schüttelte den Kopf. »Das würde ich nicht tun.« Nach dem Frühstück brachte ich Molly in den hinteren Teil des Haupthauses und durch die hohen französischen Fenster, die auf die weiten Rasenflächen zeigten, wo die Beerdigung abgehalten wurde. Die Särge schimmerten hell in der frühen Morgensonne, Reihen und Reihen davon erstreckten sich vor uns. Alle natürlich geschlossen, um die Tatsache zu verschleiern, dass die meisten von ihnen nur Körperteile enthielten und einige sogar gar nichts. Zweihundertundvierzig Holzkisten. Ich wusste nicht, dass wir so viele auf Lager gehabt hatten. Oder vielleicht hatte nur jemand einen Duplizierungszauber angewandt. Zweihundertvierzig Droods weniger, die in der Bresche zwischen der Welt und all dem Bösen darin standen. Jede Familie verliert Mitglieder. Aber in meiner Familie macht das mehr aus als in den meisten anderen. Die ganze Familie, oder zumindest schien es so, war zur Beerdigung gekommen. Sie kamen aus dem ganzen Herrenhaus, standen in Gruppen zusammen, die sich aus ihrem Beruf oder ihrem Rang ergaben. Keiner wollte neben Molly und mir stehen, nicht einmal die anderen Mitglieder des Inneren Zirkels. Lange Reihen der Lebenden standen jetzt vor den Reihen der Särge, während versteckte Lautsprecher getragene Musik spielten. Der Waffenmeister stand abseits und fuhrwerkte an einer Bedienungskonsole herum. Er steuerte damit das Energiefeld, dass uns vor feindlichen Attacken und Spionage schützen sollte. Die Musik endete schließlich mit einer bewegenden Interpretation des Stücks »Ich schwöre Dir, mein Land«, das wir als so etwas wie unsere Hymne betrachteten und dann kam ein Drood-Vikar heraus, um die Zeremonie zu beginnen. Er war ein Christ, mehr nicht. Die Familie hat sich nie um all die verschiedenen Schismen gekümmert, die die protestantische Kirche all die Jahre immer weiter aufgespalten hat. Wir wären vielleicht immer noch katholisch, wenn der Papst uns nicht befohlen hätte, Henry VIII. umzubringen, als der England von Rom getrennt hatte. Der Papst hätte es echt besser wissen müssen. Keiner kommandiert die Droods herum. Der Vikar führte schnell durch eine verschlankte Zeremonie und hielt nicht einmal für Kirchenlieder oder eine Predigt, dann trat er zurück und nickte dem Waffenmeister zu. Onkel Jack drückte mit der Handfläche einen großen roten Knopf und die zweihundertvierzig Särge verschwanden lautlos. Sie waren weg und hinterließen nur blasse Markierungen auf dem grasigen Untergrund. Molly sah mich fragend an. »Sie werden direkt ins Zentrum der Sonne teleportiert«, sagte ich. »Sofortige Einäscherung. Asche zu Asche und weniger. Nichts bleibt, um es gegen die Familie zu verwenden. Ich sagte dir ja, dass wir alle verbrannt werden, wir sind da nur etwas dramatischer als alle anderen. Und jetzt entschuldige mich. Ich muss meine Rede halten. Gut, dass ich wenigstens kein Lampenfieber habe. Sieht so aus, als wäre jeder hier außer der Matriarchin.« Ich runzelte die Stirn. »Sie sollte hier sein. Sie sollte ihre privaten Animositäten nicht mit der Pflicht der Familie mischen. Oh Mann, wünsch mir Glück.« »Ich werde Zwischenrufe damit ahnden, dass ich die Unterwäsche desjenigen anzünde.« »Sehr passend«, erwiderte ich. »Dachte ich mir.« Ich ging gemessenen Schritts an die Stelle, an der sich die Särge befunden hatten, drehte mich um und sah der Familie ins Gesicht. So viele Droods, alle an einem Ort, sahen mich mit unsicheren Mienen an und erwarteten von mir, Worte zu sagen, die alles wiedergutmachen würden. Wenn ich das gekonnt hätte, hätte ich's getan. Aber wenn du zweifelst, dann sag die Wahrheit. Vielleicht ist sie nicht bequem oder beruhigend, aber wenigstens weiß dann jeder, wo er steht. Also sagte ich ihnen, was wir in der Nazca-Ebene gefunden hatten. Die Abscheulichen, die mithilfe ihrer Drohnen arbeiteten, die wahnsinnige Struktur, die sie gebaut hatten, und das schreckliche Wesen, dass sie durch das Portal in unsere Realität hatten holen wollen. Ich sagte ihnen, wie tapfer und gut meine Armee dagegen gekämpft hatte, gegen eine unerwartete und überwältigende Überzahl und wie wir am Ende triumphiert hatten. Jedenfalls die, die überlebt hatten. »Das ist genau die Art von Bedrohung, für die die Familie geschaffen wurde«, sagte ich, und meine Stimme klang klar und deutlich in der stillen Morgenluft. »Um Schamanen zu sein, die den Stamm der Menschen gegen Bedrohungen von außerhalb schützen. Die, die mit mir kamen und so tapfer gefallen sind, haben ihr Leben gegeben, um die Menschheit zu retten. Seid stolz auf sie. Und ja, wir haben einen hohen Preis für unseren Sieg bezahlt. Deshalb dürfen wir nie wieder so unvorbereitet sein. Mein Innerer Zirkel und ich haben entschieden, dass jedes Familienmitglied einen Torques bekommen wird, und das so schnell wie möglich. Wir müssen alle wieder stark werden. Es kommt ein Krieg, nicht nur gegen die Abscheulichen und die Invasoren von außerhalb, sondern gegen alle unsere Feinde, die versuchen, uns voneinander zu trennen und zerstören.« Ich hatte gehofft, dass ich etwas Jubel oder wenigstens eine Runde Applaus bekommen würde, als ich die Rüstungen für alle ankündigte, aber keiner ließ auch nur einen Laut hören. Und als ich geendet hatte, standen alle nur da und starrten mich mit leerem Gesichtsausdruck an, als wollten sie sagen: War's das schon? Ist das alles? Und dann kam Harry aus der Menge heraus und jeder sah ihn an. Das hätte ich mir denken müssen. Ich hätte wissen müssen, dass er die Gelegenheit nutzen würde, mir noch ein Messer in den Rücken zu rammen. Ich sah schnell zu Molly hin und schüttelte den Kopf. Ich konnte mir nicht leisten, dass irgendeiner dachte, ich hätte Angst, mir Harry anzuhören. »Ein Krieg steht uns bevor«, sagte Harry mit lauter und selbstsicherer Stimme. »Die Nester der Abscheulichen müssen zerstört werden, und die Eindringlinge davon abgehalten werden, unsere Realität zu erobern. Aber wir können nicht abwarten, bis wir so schnell wie möglich neue Rüstungen bekommen! Wir brauchen sie jetzt. Sofort! Was haben wir denn, das uns vor einer feindlichen Attacke schützt, weil wir nach so einer großen Niederlage als schwach und verletzlich gelten? Was soll die Abscheulichen davon abhalten, gerade jetzt zuzuschlagen, als Vergeltung für die Zerstörung ihres Turms oder um uns davon abzuhalten, andere Nester anzugreifen? Wir brauchen unsere Torques. Die Familie muss geschützt werden. Sie muss wieder stark werden. Und dafür brauchen wir - einen neuen Anführer.« Er starrte mich direkt an, seine Miene kalt und unnachgiebig. »Ich verlange, dass Edwin zurücktritt! Seine halbgaren Ideen und seine inkompetente Führerschaft hat uns schon zu viel gekostet. Er ist eine Bedrohung für uns alle. Er hat sich selbst als eine Niete im Feld erwiesen, hat es geschafft, dass die meisten seiner Leute getötet wurden und hat noch nicht einmal den Anstand, sich zu entschuldigen oder seine Fehler zuzugeben. Es ist Zeit, wiedergutzumachen, was er der Familie angetan hat und uns der traditionellen Kontrolle zu unterstellen. Wir müssen die Matriarchin wieder an die Macht bringen. Sie allein hat die Erfahrung, einen erfolgreichen Krieg zu führen.« »Nein«, sagte ich knapp und meine Stimme brachte ihn verblüfft zu einem Halt. Alle Gesichter wandten sich wieder mir zu. Ich versuchte, den Ärger aus meiner Stimme zu verbannen. »Ist euer Gedächtnis wirklich so kurz? Die Matriarchin hat diese Familie betrogen. Habt ihr schon den Preis vergessen, den sie jeden von uns gezwungen hat, für die alte Rüstung zu zahlen? Den Tod eurer Zwillingsbrüder und -schwestern? All diese Babys, die dem Herzen geopfert wurden? Sie hat diese Praktik geduldet und vor euch geheimgehalten, weil sie wusste, dass ihr mit der Wahrheit nicht würdet leben wollen. Wollt ihr eure Seelen wieder verkaufen, so leicht? Ich werde dafür sorgen, dass die Torques, die ihr von Seltsam bekommt, kein Preisschild haben werden. Die Rüstung, die ihr von mir bekommt, werdet ihr mit Stolz tragen können.« Ich sah Harry an. »Ich garantiere der Familie neue Torques. Kann die Matriarchin das tun? Kannst du's, Harry?« »Also gehört Seltsam dann wohl dir?«, fragte Harry. »Seltsam gehört niemandem«, erwiderte ich. »Aber er erkennt ein Arschloch, wenn er eines vor sich hat.« Ich sah wieder hinunter in das Meer der Gesichter vor mir. »Auf euch kommt's an. Trefft eure eigene Entscheidung. Lasst euch von niemandem sagen, was ihr zu tun habt, weder von der Matriarchin, noch von Harry, noch von mir. Ich kann euch nicht gegen euren Willen in den Krieg ziehen und ich würde es nicht tun, selbst wenn ich könnte. Ich bin nicht euer Patriarch, ich bin nur ein Drood, der tun will, was richtig ist. Dazu bin ich erzogen worden. Um den guten Kampf gegen alle Feinde der Menschheit zu führen.« Es gab eine lange Pause, während der ich mein Herz in meiner Brust förmlich hämmern hören konnte. Ich hatte nichts weiter zu sagen. Und dann, einzeln oder zu zweit, applaudierte meine Familie und nahm damit meine Worte an. Sie beugten die Köpfe vor mir. Die Menge löste sich auf und ging ins Herrenhaus. Keine überwältigende Antwort, aber es würde reichen. Fürs Erste. Ich sah mich um, aber Harry war schon verschwunden. Wahrscheinlich, um der Matriarchin brühwarm Bericht zu erstatten. Ich sah den Waffenmeister, der sich zu einem stillen Zigarillo zurückgezogen hatte. Er hob fröhlich einen Daumen in meine Richtung. Ich nickte und ging zu Molly zurück. »Den guten Kampf kämpfen?«, fragte sie. »Ich schätze mal, das soll das Gegenteil eines schlechten Kampfs sein. Aber was zum Teufel ist ein schlechter Kampf?« »Die Art, in der man zweihundertvierzig gute Männer und Frauen verliert«, sagte ich. »Ich kann das nicht allein tun, Molly. Ich brauche Hilfe, professionelle Hilfe. Leute, die wissen, wie man einen Krieg führt.« »Die Zeit läuft«, sagte Molly. »Wo willst du diese Leute in einer angemessenen Zeitspanne finden?« »Ganz genau da.« Kapitel Neun Keine Zeit Penny marschierte mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck auf uns zu. »Geh einfach weiter«, sagte ich zu Molly. »Wir könnten anfangen, zu laufen«, meinte sie. »Das wäre würdelos«, erwiderte ich. Aber da hatte Penny uns sowieso schon eingeholt. Sie pflanzte sich direkt vor uns auf, die Hände auf den Hüften und starrte mich böse an. Ich lächelte sie freundlich an, als hätte ich keine einzige Sorge in der Welt, denn ich wusste, das ärgerte sie am meisten. »Wir haben ein Problem«, sagte sie kurz. »Wirklich?«, fragte ich zurück. »Du überraschst mich. Und lass mich raten: Alles ist meine Schuld, oder?« »Vielleicht«, sagte Penny. »Janitscharen Jane ist weg. Spurlos verschwunden. Es gibt nicht mal Aufzeichnungen darüber, dass sie das Gelände verlassen hat. Was eigentlich dank des neuen Sicherheitssystems, das wir nach deiner Rückkehr installiert hatten, unmöglich sein sollte.« »Jane ist ein Profi«, erwiderte ich ruhig. »Sie kommt und geht, wie sie will. Allerdings ist wirklich seltsam, dass sie verschwindet, ohne uns ein Wort zu sagen. Gibt es irgendwelche Hinweise?« »Nur einen. Eine Notiz, die mit einem Messer an ihre Tür gepinnt war. Bin dann mal weg, um anständige Waffen zu besorgen.« »Ja«, sagte ich. »Das klingt wirklich nach Jane.« »Sie muss die Verluste in Nazca persönlich genommen haben«, meinte Molly. »Jane ist Soldatin«, antwortete ich. »Sie hat in Dämonenkriegen gekämpft und ganze Zivilisationen um sich herum untergehen sehen - wenn Janitscharen Jane glaubt, wir bräuchten bessere Waffen, dann haben wir mehr Ärger, als wir dachten. Aber sie wird schon wieder zurückkommen.« »Hoffentlich mit anständigen Waffen«, meinte Molly. »Noch was?«, fragte ich Penny. »Wenn ich schon mal da bin, würde ich dich gern daran erinnern, was der Innere Zirkel in deiner Abwesenheit beschlossen hat.« »Ich hab's nicht vergessen«, erwiderte ich. Penny seufzte. »Ich habe ihnen gesagt, dass du das persönlich nehmen würdest. Sieh mal, Eddie, das hat wirklich nichts mit dir zu tun. Es geht um das, was das Beste für die Familie ist. Niemand sprach davon, dich abzusetzen, wir wollten nur, dass du uns öfter konsultierst.« »Vertrau mir, Penny. Ich verstehe das.« Penny seufzte wieder. »Wenn du das tätest, dann würden wir diese Unterhaltung nicht führen. Also, im Interesse des Friedens und guten Willens und um dich nicht öffentlich bloßzustellen, werde ich das Thema wechseln. Du hast eine gute Rede gehalten. Alles, was du sagtest, war richtig. Und im Gegensatz zu Harry, kam das, was du sagtest, direkt von Herzen. Bleib dabei und vielleicht kannst du die Familie doch noch auf deine Seite ziehen.« »Nur vielleicht?« »Zu Führungsqualitäten gehört mehr als einfach nur recht zu haben«, meinte Penny. »Du musst inspirieren, motivieren - und wissen, wann man Politik mit den richtigen Leuten machen muss.« »Und ich dachte, du wolltest das Thema wechseln«, sagte ich. »Lass mich das mal versuchen. Wie geht's Mr. Stich?« Sie sah mich aufmerksam an und war sofort auf der Hut. »Dem geht's gut. Er gewöhnt sich ein. Seine Vorlesungen sind gestopft voll, auch wenn sich noch keiner ein Herz gefasst hat, ein persönliches Tutorium bei ihm zu belegen. Er ist ein sehr faszinierender Mann. Sehr tiefsinnig. Warum fragst du mich das, Eddie?« »Weil du eine Menge Zeit mit ihm verbringst.« »Ich werde nicht fragen, woher du das weißt«, sagte Penny kalt. »Das ist wohl besser«, pflichtete ich ihr bei. »Was in meiner Freizeit mache, Eddie, ist meine Angelegenheit. Steck deine Nase also nicht in Dinge, wo das weder gebraucht noch gewünscht ist. Oder Mr. Stich wird sie dir abschneiden.« Sie stakste davon und selbst ihr durchgedrückter Rücken strahlte Arger aus. Molly sah ihr nach. »Was war denn das jetzt?« »Scheint, als hätten Mr. Stich und Penny was miteinander laufen.« »Machst du Witze? Echt? Weiß sie nicht, wer er ist? Wie kann sie nicht wissen, wer und was er ist?« »Sie weiß es. Sie will es nur nicht glauben. Sie glaubt, sie kann ihn ändern. Und vielleicht kann sie das sogar. Du hast immer gesagt, dass er für dich ein guter Freund war.« »Ja, klar, aber nur, weil ich wusste, ich kann ihm auf ein Dutzend verschiedene Arten in den Hintern treten, wenn nötig. Ach, zum Teufel. Ich gehe ihr besser nach. Es wird Zeit für ein ernsthaftes Gespräch unter Frauen, und vielleicht sogar für ein Eingreifen. Bis später, Süßer.« Sie gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, winkte mir mit den Fingern zu und ging hinter Penny her. Und sie beeilte sich. Ich hoffte, dass dieses Eingreifen funktionierte. Eine Sorge weniger hätte ich gut brauchen können. Ich ging durch das Herrenhaus, ohne bestimmtes Ziel. Ich dachte nur nach. Wenn ich meinen Ratgebern im Inneren Zirkel nicht mehr vertrauen konnte, musste ich mich eben nach neuen Ratgebern umsehen. Vorzugsweise solchen, die mehr von den Realitäten eines tatsächlich stattfindenden Krieges verstanden. Irgendwann hatte ich eine richtig gute Idee, wo ich die finden konnte, und die Tatsache, dass der Innere Zirkel mit dieser Idee auf keinen Fall einverstanden sein würde, machte sie nur noch besser. Ich grinste immer noch vor mich hin, als es in meiner linken Jackentasche wild zu zappeln begann. Ich packte sie mit beiden Händen, rang sie nieder und zog schließlich Merlins Spiegel heraus, der wie ein brünstiger Vibrator in meiner Hand zitterte und sich schüttelte. Schließlich sprang er mir aus den Fingern, wuchs rapide an und hing dann vor mir in der Luft, ein Tor, durch das ich in die alte Bibliothek sehen konnte. Regale über Regale von Büchern, in einem warmen, goldenen Schimmer, begleitet von dem leisen Geräusch eines Selbstgesprächs. William Drood erschien auf einmal im Rahmen und nickte brüsk zu mir hin. »Keine Panik, das bin nur ich. Ich muss privat mit dir reden, also habe ich den Spiegel von hier aus aktiviert.« »Ich wusste gar nicht, dass du das kannst«, sagte ich. Er schnaubte laut. »Es gibt einiges, was du über den Spiegel nicht weißt, Junge, und ich habe keine Zeit, dich vor allem zu warnen. Überflüssig zu sagen, dass es ein Ding ist, dass von dem berüchtigten Merlin Satansbrut konstruiert wurde. Der Haken liegt schon im Namen.« »Bitte klingel das nächste Mal oder so etwas in der Art«, sagte ich. »Du hast mir echt Angst eingejagt.« »Du hattest Glück, dass ich einen Vibratormodus improvisieren konnte. Die Bedienungsanleitung sieht einen sehr lauten Gongschlag vor. Aber jetzt pass mal auf, Edwin. Ich muss dich sprechen. Hier in der alten Bibliothek, wo niemand uns belauschen kann. Na los, komm schon durch das Tor. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.« Ich seufzte lautlos. Es war noch nicht allzulange her, dass ich hier die Befehle gegeben hatte. Ich trat durch die Öffnung in die alte Bibliothek. Der Spiegel schrumpfte auf der Stelle zu normaler Größe und schlüpfte in meine Tasche zurück. Ich hatte auch nicht gewusst, dass er das konnte. Sobald ich Zeit hatte, nahm ich mir vor, würde ich die Bedienungsanleitung genauer studieren. William wuchtete einen in Leder gebundenen Folianten auf ein Lesepult aus Messing und blätterte schneller durch die Seiten, als für so ein altes Buch gut sein konnte. Er fand bald die richtige Stelle und begann, sie hastig murmelnd zu lesen. Dabei folgte er den Zeilen mit der Fingerspitze. Ich wartete darauf, dass er mich einweihte, in was auch immer so wichtig sein mochte, mich so umgehend zu sich zu zitieren. Aber er schien vergessen zu haben, warum ich hier war. Ich fand einen Stuhl und setzte mich, um abzuwarten. Jedes Mal, wenn ich dachte, dass es William besser ginge, verfiel er wieder in diesen Seltsamer-John-Modus. Der jüngere Bibliothekar, Rafe, erschien hinter den sich auftürmenden Buchbergen mit einer Tasse dampfendem Tee, die ich dankbar annahm. Rafe sah liebevoll auf William und beugte sich vor, um mir etwas ins Ohr zu flüstern. »Du musst dem alten Kauz ein paar Zugeständnisse machen. Wir sind beide die ganze Nacht wach gewesen, um nach den Informationen zu suchen, die du haben wolltest. Die alte Bibliothek hat Kopien von Büchern, von denen ich nicht mal im Traum erwartet habe, dass es sie gibt und einige davon sind so gefährlich, dass wir ein paar niedere Exorzismen durchführen mussten, bevor wir uns ihnen überhaupt nähern konnten. William ist allerdings wirklich ein Juwel. Er sprang von einem Hinweis zum nächsten, folgte der Spur von Band zu Band, von Pergamentrollen zu Manuskripten und antiken Traktaten, die tatsächlich in dünne Platten von gehämmertem Gold eingraviert sind. Ich habe versucht, ihn zu einer Pause zu überreden, aber er ist schon so, seit du ihm dieses kandarianische Artefakt gezeigt hast.« »Verdammt«, sagte ich. »So wichtig war das nun auch wieder nicht. Ist er wirklich die ganze Nacht und diesen Morgen schon wach?« »Ja, das ist er«, sagte William und sah nicht einmal von seiner Lektüre auf. »Und es ist in der Tat so wichtig. Ich bin nicht taub, wisst ihr. Ich kann jedes Wort von dem hören, was ihr sagt. Also, Eddie, ich habe eine Menge Referenzen zu Kandar und den Eindringlingen gefunden. Die meisten von ihnen sind ziemlich besorgniserregend und von jedem einzelnen solltest du sofort erfahren. Deshalb habe ich dich hergeholt. Rafe, wo ist die Tasse Tee, um die ich dich gebeten hatte?« Rafe sah mich an, aber ich hatte schon das meiste davon getrunken. »Ich gehe noch eine Tasse holen«, sagte Rafe. »Macht nichts, macht nichts, bleib hier, Rafe. Ich will, dass du das genauso hörst wie Edwin. Sorg dafür, dass du nichts verpasst, ich bin nicht mehr so genau wie früher einmal. Also aufgepasst, Edwin! Das ist wichtig! Die ganze Familie muss davon erfahren.« Seine Stimme wurde quengelig. Rafe zog einen Stuhl heran und William sank dankbar hinein. Er rieb sich müde die Stirn und sah plötzlich älter aus, verstört und sein Blick wurde beunruhigend vage. Als er seine Hand sinken ließ, zitterte sie sichtbar. »Ich wollte zu der Beerdigung gehen«, sagte er auf einmal. »Rafe?« »Wir haben sie verpasst«, sagte Rafe. »Ich hab es dir gesagt, aber du sagtest, die Arbeit sei wichtiger.« »Und das ist sie auch! Ich wollte wirklich gehen, aber … was wollte ich sagen?« »Vielleicht solltest du in dein Zimmer gehen und dich ein wenig hinlegen«, sagte ich. »Damit du wieder zu Kräften kommst.« »Nein!«, antwortete William prompt. »Mit mir ist alles in Ordnung! Und wir haben keine Zeit, keine Zeit! Außerdem gefällt es mir hier. Ich bin noch nicht so weit, mich mit Leuten zu treffen.« »Aber du bist hier zu Hause«, sagte ich. »In der Familie.« »Besonders Familie will ich nicht treffen«, meinte William entschieden. »Ich will nicht, dass mich irgendeiner von ihnen so sieht. Ich bin noch nicht ganz wieder da. Ich habe die Identität des Seltsamen John zu lange vorgeschützt, und es ist schwer, sie wieder abzulegen. Manchmal frage ich mich, ob er vielleicht mein wirkliches Ich ist und William ist nur eine Erinnerung an jemanden, der ich einmal vor langer Zeit war. Ich will nicht in mein Zimmer gehen. Mir gefällt es hier. Ich finde die Bücher beruhigend. Und Rafe. Du bist ein guter Junge, Rafe. Eines Tages wirst du ein hervorragender Bibliothekar werden.« »Alles wird gut, William«, versicherte ich ihm. »Du brauchst nur etwas Zeit, um dich einzugewöhnen.« Er schien mich nicht zu hören und sah sich unkonzentriert und besorgt um. »Ich höre Dinge. Sehe Dinge. Immer von der Seite, wo ich sie nicht festnageln kann. Ich dachte, das würde aufhören, wenn ich Fröhliches Delirium verlasse. Vielleicht sind sie mir hierhin gefolgt.« Er legte die Hände im Schoß zusammen, damit sie nicht zitterten und sah mich an. »Ich denke, dass das Herz mir, meinem Verstand, etwas angetan hat. Um mich davon abzuhalten, zu erzählen, was ich wusste. Und ich denke, was auch immer es getan hat, es passiert immer noch.« »Das Herz ist nicht mehr da«, sagte ich fest. »Weg und zerstört. Es kann dir nichts mehr tun.« Er schüttelte langsam den Kopf, rang die Hände und murmelte etwas in sich hinein. Ich stand langsam auf. Was für eine Information William auch gefunden hatte oder geglaubt hatte, zu finden - man konnte sich ganz klar nicht darauf verlassen. Vielleicht konnte Rafe später etwas Sinnvolles herausfinden. Und dann blieb ich urplötzlich stehen, als William abrupt aufstand und mir böse in die Augen starrte. »Und was glaubst du, wo du hingehst, Junge? Nur weil ich einen schlechten Moment hatte? Du wolltest etwas über die Kandarianer und die Eindringlinge wissen und ich weiß alles, was du wissen musst. Alles, was die Familie wissen muss. Also setz dich wieder hin und hör zu.« Seine Augen waren wieder klar und konzentriert und seine Präsenz beinahe überwältigend. Als ob er einen inneren Schalter umgelegt hatte und den alten William wieder geweckt und an die Oberfläche geholt hatte. Ich setzte mich wieder und William verfiel in einen Oberlehrer-Modus. »Die Kandarianer haben sich selbst mächtig gemacht, in dem sie freiwillig ihre Körper andersdimensionalen Kräften überlassen haben«, sagte er mit klarer Stimme. »Das Ergebnis war, dass ihre Krieger übermenschlich stark waren, schnell und unglaublich resistent gegenüber Schmerz oder Verletzungen. Erinnert dich das an etwas? Ja, genau wie unsere Familie haben die Kandarianer einen Handel mit einer höheren Macht abgeschlossen, aber sie waren nie zufrieden. Sie wollten immer mehr, und haben so immer neue Handel mit immer neuen Wesen getätigt. Je mehr Länder und Zivilisationen sie um sich herum eroberten und ihr böses Reich des Schlachtens und der Folter und des Schreckens über immer größere Gebiete hin ausweiteten, desto stärker mussten sie werden, um das zu behalten, was sie schon hatten. Am Ende verbündeten sich ihre Feinde miteinander, um die Kandarianische Expansion zu stoppen. Die Kandarianer fanden das inakzeptabel. Sie hatten viel zu viel Spaß dabei. Also machten sie sich entschlossen daran, noch stärker und noch mächtiger zu werden, egal, was es kostete. Sie wollten Götter auf Erden werden. Also schlossen sie noch einen Handel ab, mit denen, die wir als die Abscheulichen kennen, die wiederum die Kandarianer den Eindringlingen vorstellten; sehr mächtigen Wesen außerhalb unserer Raumzeit. Und das war der erste Fehler der Kandarianer, denn der Kontakt mit den Eindringlingen ließ die Kandarianer wahnsinnig werden. Alle. Sie wandten sich gegeneinander und löschten ihre ganze Rasse und Zivilisation in einer einzigen Nacht des Todes und der Zerstörung aus. Sie taten sich selbst das an, was sie so viele Jahre allen anderen angetan hatten. Keiner von ihnen überlebte. Sie wussten aber auch nicht, was wir heute wissen. Dass es eigentlich keine Abscheulichen in diesem Sinne gibt. Nicht als eigene Entitäten. Sie sind nur die Vorboten von wesentlich größeren Wesenheiten in unserer Realität. Die Fingerspitzen der Eindringlinge, wenn man so will. Denk dir die Abscheulichen als Trojanische Pferde, durch die die Eindringlinge einen Fuß in unsere Realität bekommen. Die Eindringlinge haben in vielen Kulturen ebenso viele Namen, und sie werden von jedem gefürchtet, der auch nur zwei miteinander verbundene Hirnzellen hat. Die Vielwinkligen, der Horror aus dem Jenseits, die Hungrigen Götter. Es sind Wesen aus einer höheren Realität, die sich davon ernähren, in untere Realitäten wie der unseren vorzustoßen und uns zu verschlingen. Sie ernähren sich von Leben, von allem Lebendigen, beim größten angefangen bis hin zum kleinsten Wesen. Sie fressen Welten, löschen ganze Realitäten und bewegen sich immer von einer zur nächsten wie kosmische Heuschrecken. Als unsere Familie das erste Mal einen Deal mit den Abscheulichen abschloss und sie in unsere Welt brachte, um als Waffe gegen die Nazis zu dienen, haben wir unwissentlich die Eindringlinge auf unsere Welt, unsere Realität aufmerksam gemacht. Und obwohl wir sehr darauf bedacht waren, nur ein paar Abscheuliche in unsere Welt zu bringen, die wir auch - so dachten wir - kontrollieren können, haben wir dennoch eine Tür geöffnet, die nie korrekt wieder geschlossen wurde. Natürlich haben sich die Abscheulichen unserer Kontrolle entzogen. Über die Jahre haben sie sowohl an Zahl als auch an Macht zugelegt, bis sie endlich so weit waren, die Eindringlinge zu uns durchkommen zu lassen. Damit sie uns verschlingen können. Damit sie alles verschlingen können. Alles Leben, die ganze Schöpfung. Wir müssen es aufhalten, Edwin, weil wir es auch angefangen haben.« William hörte auf zu sprechen, stand gerade und groß vor mir und sah mich erwartungsvoll an. Ich sah zu Rafe. »Er übertreibt nicht«, sagte Rafe. Seine Stimme war fest, auch wenn sein Gesicht blass und verschwitzt wirkte. »Ich habe all die Quellen gecheckt. Es steht alles in den Büchern. Nur hat das alles vor William noch niemand zu einem Ganzen zusammengesetzt.« »Okay«, sagte ich, nur ein wenig unsicher. »Das ist echt größer, als wir dachten. Wie bekämpfen wir diese … Eindringlinge?« »Das kann man nicht«, sagte William knapp. »Wenn sie durchbrechen, dann ist es vorbei. Wir müssen die Abscheulichen daran hindern, ihre Türme zu bauen. Sie auslöschen, bis auf den allerletzten. Oder wir werden nicht sicher sein.« »Und … es fehlen einige Bücher«, sagte Rafe. »Wichtige Bücher. Ich vermute, dass die Null-Toleranz-Fanatiker sie genommen haben, vielleicht, um sie an Truman und das Manifeste Schicksal weiterzugeben. Oder vielleicht haben sie sie auch zerstört, damit niemand die Wahrheit kennt. Weißt du, diese Bücher beschrieben den ursprünglichen Deal der Familie mit den Abscheulichen. Was wir ihnen versprochen haben und sie uns. Und möglicherweise auch etwas, um den Handel rückgängig zu machen.« »Wie viele Bücher fehlen denn?«, fragte ich. »Wir stellen gerade eine Liste auf«, sagte Rafe. »Eine ganze Sektion der Familiengeschichte fehlt. Es dürfte dich nicht überraschen, dass ausgerechnet die Bände fehlen, die uns vielleicht verraten hätten, wer ursprünglich vorgeschlagen hatte, die Abscheulichen zu kontaktieren und warum.« »Ich dachte immer, dass das auf die vorige Matriarchin zurückging, Urgroßmutter Sarah«, meinte ich langsam. »Ich denke, es ist komplizierter«, sagte Rafe. »Ich habe mich durch ein paar Begleittexte gewühlt: inoffizielle Familiengeschichte, persönliche Tagebücher und dergleichen. Es scheint, dass andere, vernünftigere Möglichkeiten zugunsten der Abscheulichen außer Acht gelassen wurden.« »Was zum Beispiel?«, fragte ich. »Die Freundlichen«, sagte William. »Die Brigade der Unendlichkeit, die Zeitmeister. All die üblichen Verdächtigen, alle der Menschheit gegenüber viel freundlicher eingestellt als eine Bande degenerierter Seelenfresser. Aber irgendjemand hoch in der Familienhierarchie bestand auf den Abscheulichen, gegen jede Vernunft. Ich muss mich fragen … ob es vielleicht einen Verräter innerhalb der Familie gab. Vielleicht jemanden, der schon von den Abscheulichen übernommen war.« Meine Nackenhaare stellten sich auf. »Ein infizierter Drood, mitten im Herz der Familie? Könnte es noch andere geben, mitten unter uns?« »Das ist möglich«, sagte Rafe. »Wir sind mit den Jahren zu selbstgefällig geworden. Der Waffenmeister könnte etwas entwickeln, damit wir so etwas wie einen Test haben.« »Ich werde mit ihm reden«, sagte ich. »Einen Verräter in der Familie …! Vielleicht sind deshalb bei Nazca so unerwartet viele Drohnen aufgetaucht. Sie wussten, dass wir kommen würden. Jemand hat ihnen einen Tipp gegeben.« »Wird irgendjemand vermisst, seit ihr wieder da seid?«, fragte Rafe. »Nur Janitscharen Jane, aber … Nein. Warte mal einen Moment.« Ich zog eine Grimasse. Mir gefiel nicht, wo meine Gedanken mich hinführten. »Sie war gerade erst von einem Dämonenkrieg zurückgekehrt, als ich sie fand. Sie sagte, sie sei die einzige Überlebende gewesen … und jetzt muss ich mich fragen, warum.« Unsere Köpfe fuhren herum, als hinter uns plötzlich ein leises, verstohlenes Geräusch zwischen den Bücherstapeln zu hören war, nicht sehr weit weg. Ich war im gleichen Moment auf den Beinen, tauchte durch die turmhohen Bücherregale, Rafe und William dicht auf den Fersen. Und da war der Blaue Elf mit einem Stapel Bücher in den Armen. Er versuchte nicht einmal, sich zu verstecken oder wegzulaufen. Er lächelte uns drei schnell an und gab sich Mühe, besonders stillzustehen. »Hallo!«, sagte er. »Achtet gar nicht auf mich. Ich bin nur hier, um mir was Einfaches zu lesen zu holen.« »Das ist die alte Bibliothek«, sagte ich. »Die ist für jeden gesperrtes Terrain, aber besonders für dich.« »Wie ausgesprochen unfreundlich«, erwiderte der Blaue Elf. »Man könnte glatt glauben, du misstraust mir.« »Das sind verbotene Texte«, grollte William. »Selten und wichtig und überaus wertvoll. Leg sie dorthin. Vorsichtig.« »Natürlich, natürlich«, sagte der Blaue Elf. Er lächelte immer noch sein strahlendes und ungetrübtes Lächeln. Er ließ den Bücherstapel langsam und vorsichtig auf den Boden sinken und hielt dann beide Hände hoch, um uns zu zeigen, dass sie leer waren, bevor er von dem Haufen zurücktrat. »Können wir uns jetzt wieder ein bisschen beruhigen, bitte? Ich meine, wir sind doch alle gute Freunde, oder? Wir sind alle auf derselben Seite?« Ich schenkte ihm meinen besten mörderischen Blick. Ich hatte immer angenommen, dass der Blaue Elf hauptsächlich deshalb mit ins Herrenhaus gekommen war, weil er glaubte, er müsse sich vor seinen zahlreichen Feinden schützen. Wie den Vodyanoi-Brüdern. Und nur in zweiter Linie, um gute Werke für die Erlösung seiner befleckten Seele zu tun. Immerhin, selbst wenn man alles bedachte, war der Blaue Elf doch immer noch halb Elb und einem Elben kann man niemals trauen. »Wonach genau suchst du?«, fragte ich. »Ich war interessiert an allem, was deine Familie mit den Elben zu schaffen hatte«, erwiderte der Blaue Elf sofort. »Ich weiß wirklich nicht viel über Papas Familienseite. Vollblutelben sprechen nicht mit Halbblütern. Unsere pure Existenz ist ein Tabu für sie. Aber als ich dich hier gesehen habe, Eddie, zwischen all den Deinen, hat mich das neugierig auf meine eigene Familie gemacht. Du kennst deine Wurzeln, weißt, wer du bist und woher du kommst. Das wusste ich nie.« Jedem anderen hätte ich geglaubt, aber das hier war der Blaue Elf - also … »Das nächste Mal fragst du erst um Erlaubnis«, sagte ich. »Wie bist du überhaupt hier hereingekommen? Die Schutzschilde, die ich rund um das Porträt installiert habe, hätten dich bei lebendigem Leib fressen sollen.« »Oh, ich bitte dich«, sagte der Blaue Elf mit einem leichten Wedeln seiner eleganten Hand. »Ich bin immerhin ein Profi. Ich bin schon von besser bewachte Orte wieder weggekommen, als du noch nicht geboren warst.« Und dann zögerte er und sah mich seltsam an. »Ich habe unfreiwillig einiges von dem faszinierenden Diskurs des Bibliothekars über die Kandarianer gehört. Mir ist, als hätte ich etwas über sie gelesen und ihre Beziehung zu den Elben. Der Elbenhof war schon alt, als die Kandarianer mit dem Aufbau ihres sehr unerfreulichen Imperiums begannen und es wird gesagt, dass es die Elben waren, die die Kandarianer den Abscheulichen vorgestellt haben, um sie damit zu vernichten. Hüte dich vor den Elben, Eddie, sie haben immer eigene Pläne.« Er drehte sich um und ging davon. Ich sah ihm hinterher und fragte mich, ob er vielleicht, in seiner sehr seltsamen Art, etwas sehr Wichtiges über sich selbst hatte sagen wollen. Ich verließ die alte Bibliothek mit einer Menge Gedanken im Kopf. Ich hatte eine Menge wichtiger Sachen gelernt, die mich beinahe alle erschreckt hatten. Doch das alles überzeugte mich nur noch mehr davon, dass ich mit meinem geheimen Plan fortfahren musste. Wenn ich einen Krieg gegen Hungrige Götter, bei dem die gesamte Realität auf dem Spiel stand, zu führen hatte, dann wollte ich wirklich ernst zu nehmende Unterstützung haben. Zuerst brauchte ich einen Ort, an dem mich niemand stören würde. Denn ich wollte Merlins Spiegel in einer Art benutzen, mit dem absolut jeder in der Familie ganz und gar nicht einverstanden sein würde. Also verließ ich das Herrenhaus und ging in die alte Kapelle, die vom Haus aus gesehen in einem toten Winkel lag. Jacob hatte hier herumgespukt, bis ich ihn wieder in die Familie gebracht hatte. Die Kapelle war für Familienmitglieder jahrhundertelang verboten gewesen, weil Jacob hier wohnte, und während er möglicherweise die Kapelle verlassen hatte, hatte sich niemand die Mühe gemacht, den Bann zu lösen. Ich ging vorsichtig auf die Kapelle zu, aber die dicke Matte aus Efeu, die die hölzerne Tür halb bedeckte, rührte sich nicht im Geringsten. Als Jacob noch hier gehaust hatte, hatte der Efeu als eine Art Frühwarnsystem fungiert, um sicherzustellen, dass er ungestört blieb - aber jetzt war er weg und der Efeu war einfach nur Efeu. Die Tür stand wie immer halb offen und ich musste mich mit der Schulter gegen das schwere Holz stemmen, um hineinzukommen. Die Tür kratzte laut über den bloßen Steinboden und ließ beißende Staubwolken aufwirbeln. Ich hustete ein paar Mal und rief Jacobs Namen. Ich hoffte halb er sei da … doch niemand antwortete. Jacob war weg. Die Kirchenbänke waren immer noch an der gegenüberliegenden Wand aufgestapelt und bedeckt von staubigen Spinnweben. Der große schwarze Lederarmsessel stand immer noch vor dem altmodischen Fernseher. Es war nur zu einfach, sich an Jacob zu erinnern, wie er sich bequem in seinen Sessel gelümmelt hatte, und sich die Erinnerungen an alte Fernsehsendungen auf einem Bildschirm angesehen hatte, an dem nichts mehr funktionierte. Der alte Kühlschrank stand immer noch neben dem Sessel, aber als ich ihn öffnete, war er leer. Ich schloss die Tür wieder und setzte mich auf den Sessel. Das alte Leder krachte klagend unter meinem Gewicht. Ich wünschte mir, dass Jacob immer noch da wäre. Vielleicht wäre er der Einzige gewesen, der dazu imstande war, mir das auszureden, was ich zu tun beabsichtigte. Ich wollte keinen Krieg führen. Mir fehlte die Erfahrung. Die Nazca-Ebene hatte das bewiesen. Ich wollte lieber verdammt sein, als noch mehr Mitglieder der Familie wegen mir sterben zu sehen. Ich brauchte die Hilfe und die Unterstützung von Experten, von wirklichen Kriegern und Taktikern, die mir helfen konnten, die Schlachten im kommenden Krieg zu planen. Und weil es nicht sehr wahrscheinlich war, dass ich solche Experten hier in der Gegenwart fand, musste ich eben in der Vergangenheit nach ihnen suchen - oder in der Zukunft. Der Waffenmeister hatte mir verboten, das zu tun. Aber ich war ja noch nie gut darin gewesen, auf das zu hören, was mir meine Familie sagte. Ich nahm Merlins Spiegel heraus. Ich sah ihn eine Weile einfach an und drehte und wendete ihn in meinen Händen. Ich war nicht blind gegenüber den Risiken dessen, was ich zu tun gedachte. Aber die Familie musste beschützt werden. Ich schüttelte den Spiegel zu voller Größe und er hing vor mir in der Luft. Seine Oberfläche bestand aus schimmernder Leere. »Öffne dich selbst in die Vergangenheit«, sagte ich entschlossen. »Und finde mir den besten Krieger, den besten Strategen, um mir im kommenden Krieg zu helfen. Finde mir einen guten und loyalen Mann, jemanden, dem ich vertrauen kann. Finde mir das perfekte Individuum, um zu tun, was ich brauche.« Der Spiegel fokussierte sich im Bruchteil einer Sekunde und zeigte mir ein klares Bild von - Jacob Drood. Zuerst dachte ich, der Spiegel hätte mich missverstanden und einfach nur den Geist von Jacob gezeigt, weil er mir im Kopf herumspukte. Aber je länger ich in das Bild sah, desto deutlicher wurde, dass das Bild, das ich sah, nicht irgendein Geist war. Das war der wirkliche Jacob, der Lebendige - vor langer, langer Zeit. Er sah so viel jünger aus, und weniger kompliziert. Während ich das Bild anstarrte, brach es mit einem Mal in Bewegung aus und ich sah durch ein Fenster in eine Vergangenheit, in der der lebende Jacob eine kichernde junge Frau in der Kapelle herumscheuchte. Er grinste breit, jagte sie in die korrekt aufgestellten Kirchenbänke hinein und wieder hinaus und das Mädchen blieb ihm sorgfältig nur gerade so viel voraus, dass er ermutigt wurde. Ihre Kleidung suggerierte, dass es sich um das späte achtzehnte Jahrhundert handelte, auch wenn ich noch nie gut in Geschichten und Daten gewesen war. Ich musste irgendein Geräusch verursacht haben, weil sie beide mit einem Mal innehielten und scharf in meine Richtung sahen. Sie schrien nicht auf oder schienen besonders erschrocken oder verwirrt, immerhin waren sie Droods. Ich konnte die goldenen Reifen um ihren Hals sehen. Trotzdem stellte Jacob sich schnell zwischen die junge Frau und den Mann, der sie durch ein Loch in der Luft hindurch anstarrte. Ich hielt meine Hände hoch, um zu zeigen, dass sie leer waren, und schenkte ihnen mein beruhigendstes Lächeln. »Ist schon in Ordnung, Jacob«, sagte ich schnell. »Es ist in Ordnung, ich bin von der Familie. Ich bin Edwin Drood und spreche aus der Zukunft mit dir. Dem einundzwanzigsten Jahrhundert, um genau zu sein. Die Familie braucht dich, Jacob.« »Wenn Ihr von der Familie seid, so zeigt mir Euren Torques!«, meinte er. Ich zog mein Hemd auf, um ihm meinen Reifen um den Hals zu zeigen. Jacob hob eine Augenbraue. »Ein silberner Torques, kein goldener. Hat der Familieneifer so nachgelassen, in Eurer zukünftigen Zeit?« »Es gab einige Änderungen«, sagte ich. »Aber die Familie besteht immer noch. Du würdest immer noch erkennen, wer wir sind und was wir tun. Die Welt muss immer noch vor vielen Gefahren beschützt werden.« Jacob nickte langsam, dann drehte er sich zu der jungen Frau um, klatschte ihr fest aufs Hinterteil und bugsierte sie zur Kapellentür hinaus. »Fort mit dir, Jungfer. Das ist eine Sache für Männer.« Sie kicherte, gab ihm ein letztes keckes Winken und eilte einigermaßen glücklich aus der Kapelle. Ich machte mir eine gedankliche Notiz darüber, Jacob zu sagen, dass er das in meiner Zeit besser nicht versuchte. »Das hübscheste Hinterteil im ganzen Herrenhaus«, sagte Jacob fröhlich. »Kann sein«, sagte ich. »Aber warum die Kapelle?« »Weil die Familie mich aller anderen Gemächer verwiesen hat«, sagte Jacob. »Mir scheint, als sei die Moral deiner Zeit doch sehr geändert und Vergnügen nicht mehr in Mode.« Jacob sah mich augenzwinkernd an. »Aus der Zukunft, sagt Ihr. Darf meine Wenigkeit fragen, wie es kömmt, dass Ihr hier seid und vermögt, mit mir zu sprechen?« »Merlins Spiegel«, sagte ich und Jacob nickte sofort. »Ich hatte gedacht, dass dieses tückische und gefährliche Objekt bereits lange verloren sei und dies zu Recht. Die Euren müssen in der Tat verzweifelt sein, auf ein solches Ding zu vertrauen.« Jacob sah mich nachdenklich an. »Wie kommt es, dass ein Mann aus solch zukünftigen Zeiten mein Gesicht kennt und mich beim Namen ruft? Bin ich wohl berühmt und eine Legende in unserer Familie?« »So in der Art«, sagte ich. »Du musst mit mir in die Zukunft kommen, Jacob, um der Familie zu helfen. Wirst du mitkommen?« »Zeitreisen sind verboten, nur die Matriarchin kann es ausdrücklich erlauben«, sagte Jacob langsam. »Aber sagt mir, junger Herr, wie geht es in der Welt Eurer Zeit zu? Was gibt es Neues an Wundern und Mirakeln?« »Komm und find's raus.« »Ein Verführer!«, meinte Jacob lächelnd. »Ich sollte gestehen, dass die Familie in dieser Zeit nicht recht glücklich ist mit mir. Ich fühle mich in meiner Zeit nicht wohl platziert. Vielleicht kann etwas Abstand meiner Familie ermöglichen, mich mit freundlicheren Augen zu betrachten. Nun! Alles für die Familie, junger Edwin!« Ich streckte die Hand aus; durch das Portal und durch die Jahre und Jacob nahm sie. Es war ein echter Schock, seine Hand in Fleisch und Blut in meiner zu fühlen. Ich zog ihn durch Merlins Spiegel, aus seiner Zeit in meine hinüber und das Tor schloss sich sofort. Jacob ließ meine Hand los und sah sich um. Er war ganz offensichtlich geschockt vom Zustand der Kapelle, die (für ihn) von einem Moment auf den anderen von dem ordentlichen Heiligtum zu dem schmutzigen, verlassenen und hab verfallenen Ort wurde, der sie in meiner Gegenwart war. Er wollte etwas sagen - aber in diesem Moment erschien Jacobs Geist aus dem Nichts und schwebte über uns. Er wies mit einer zitternden, geschrumpften Hand auf mich. Seine Stimme hallte heulend in meinen Kopf wider wie die einer verdammten Seele. Was hast du getan? Was hast du getan! Er verschwand. Jacob packte mich fest am Arm. »Was im Namen unseres Herrgotts war das?« »Ich glaube nicht, dass ich dir das sagen kann«, sagte ich nach einem Moment. »Das muss ich selbst noch herausfinden.« Ich löste seine Finger von meinem Arm und benutzte dann Merlins Spiegel, um ein Portal zwischen der Kapelle und der alten Bibliothek zu öffnen. Ich rief nach Rafe und er kam sofort angetrabt. »Das hier ist Jacob Drood«, sagte ich munter. »Ja, genau, der Jacob. Ich habe ihn aus der Vergangenheit geholt, um uns zu helfen. Du musst für mich nach ihm sehen, ihn auf den neuesten Stand bringen und ihm alles erzählen, was er wissen muss; und nein, ich werde zu diesem Zeitpunkt keine Fragen beantworten. Mach es einfach, okay?« »Du machst dir richtig gerne Arger, stimmt's?«, meinte Rafe. »Warum erschießt du nicht einen der Albatrosse hier und bringst es hinter dich? Komm mit mir Jacob, und ich tue mein Bestes, um das unglaubliche Chaos zu erklären, in das du hier hereingeraten bist.« »Ah, schöne, neue Welt, die solche Geheimnisse birgt«, sagte Jacob trocken. »Es scheint mir, als sei die Familie dieser Zeiten nicht gar so anders als die Familie, die ich kenne.« Ich schob ihn durch das Portal und schloss den Spiegel, bevor einer von ihnen irgendwelche seltsamen Fragen stellen konnte. Ich hatte den Spiegel gebeten, mir den passendsten Kandidaten zu zeigen und er hatte Jacob gewählt. Also war er wohl der richtige Mann für den Job. Er musste es einfach sein. Ich seufzte schwer, sah mich in der leeren Kapelle um und hob meine Stimme in der staubigen Stille. »Okay, Jacob, du kannst jetzt rauskommen.« Und plötzlich war er da, saß zusammengesunken in seinem Fernsehsessel, eine magere spektrale Präsenz in einem schmutzigen T-Shirt und ausgebeulten Shorts. Sein abstehendes Haar floss um seinen knochigen Kopf, als wäre er unter Wasser und seine Augen waren dunkel und brütend. Er warf mir einen bösen Blick zu, aber der kam nicht von Herzen. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, sah er alt, müde und geschlagen aus. »Warum hast du das getan, Edwin? Was hast du geglaubt, dass du tust? Warum hast du mir nicht gesagt, dass du planst, mein lebendes Selbst aus dem Spiegel zu reißen?« »Der Spiegel Merlins hat behauptet, dass du der bist, den die Familie braucht, um diesen Krieg zu gewinnen«, erwiderte ich. »Aber … du musst gewusst haben, dass ich das vorhabe. Warum hast du mir nichts gesagt?« »Weil ich mich nicht daran erinnere!« Der Geist des alten Jacob sah traurig auf den leeren Fernseher und kurze Bilder des lebenden Jacob in seiner eigenen Zeit flackerten über den staubigen Bildschirm, und er tat all die alltäglichen Dinge, die die Lebenden taten … doch es war nur ein Potpourri von Erinnerungen, nach einem kurzen Moment wieder verschwunden. »So viel meiner Vergangenheit ist für mich verloren«, sagte Jacob sanft. »Mein Leben ist heute so lange her. Nachdem ich starb, habe ich Jahrhunderte hier verbracht, nur mit Sitzen und Warten. Ich habe auf die wichtigen Dinge gewartet, die ich zu tun hatte - und habe so lange gewartet, dass ich schließlich vergessen habe, worauf ich eigentlich wartete. Ich wusste, dass du wichtig bist, von dem Moment an, als ich dich als Kind zum ersten Mal gesehen habe. Ich habe mich tatsächlich daran erinnert, dass ich dir helfen musste, die Kontrolle über die Familie von der Matriarchin zu erringen, aber ich weiß immer noch nicht, warum. Da ist noch etwas anderes, weshalb ich hier bin, Eddie, als nur die Zerstörung des Herzens. Da ist etwas, das ich tun muss, etwas Wichtiges … Aber ich weiß nicht, was!« Er sah auf und fixierte mich mit stählernem Blick. »Aber ich erinnere mich jetzt an etwas, Eddie. Du hast mich hierhergebracht, in diese Zeit, um zu sterben. Du bist derjenige, der mich zu dem macht oder machen wird, was ich bin.« »Aber … wie?«, fragte ich. Meine Kehle war ausgetrocknet, meine Stimme nur ein Flüstern. »Ich weiß es nicht. Lass uns nur hoffen, dass es ein guter Tod sein wird. Für die Familie.« »Nein«, sagte ich. »Ich werde das nicht zulassen.« »Das kannst du nicht verhindern. Du darfst es nicht einmal.« »Ich könnte dich zurückschicken. Dein lebendes Ich. Wir öffnen einfach das Tor und …« »Aber das wirst du nicht tun. Weil du mich brauchst.« »Jacob …«, sagte ich. Er nickte schroff. »Ich weiß, Junge. Ich weiß.« »Du warst mein erster wirklicher Freund«, sagte ich. »Und abgesehen von Onkel James, die einzige wirkliche Familie, die ich je hatte. Du und James wart die Einzigen, die mir je etwas bedeutet haben. Und jetzt sagst du mir, dass ich auch für deinen Tod verantwortlich sein soll? Nein. Nein, ich kann das nicht zulassen. Nicht schon wieder. Ich habe schon einen Vater getötet, ich kann nicht noch einen töten!« »Die Zeit ist nicht fix«, sagte Jacob freundlich. »Aber … wenn ich nicht sterbe, wie ich soll, werde ich nicht hier sein, wenn du es brauchst. Werde nicht hier sein, um dir zu helfen, das Herz zu besiegen. Die Familie kommt immer an erster Stelle, Eddie. Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe, mein Junge. Du warst es wert, darauf zu warten. Du bist der Sohn, den ich nie hatte. Und jetzt trockne deine Augen und tu, was du tun musst. Das Ganze hat einen Zweck, eine Bestimmung, die wir zu erfüllen haben. Zumindest daran erinnere ich mich.« »Warum hast du mir das verheimlicht?«, fragte ich, als ich meine Stimme wieder im Griff hatte. »Weil ich das Gefühl hatte, dass etwas Schlimmes passieren würde. Ich brauche Zeit für mich, ungestört, um mich selbst dazu zu bringen, mich zu erinnern, was ich tun soll. Bevor es zu spät ist. Komm nicht, um nach mir sehen, Eddie. Und sag meinem lebenden Ich nichts von … mir. Nur für den Fall, dass du nach einem Ausweg suchst.« Er grinste und zwinkerte mit einem glühenden Auge, verschwand aus seinem Sessel und ließ mich in der Kapelle allein. Wenn man bedachte wie der erste Versuch, mit der Zeit herumzuspielen, gelaufen war, war ich nicht scharf darauf, es ein weiteres Mal zu probieren. Aber Notwendigkeit, Pflicht und Jacobs Ermutigung trieben mich an. Ich brauchte immer noch Hilfe, vielleicht mehr denn je und der einzige Platz, an dem ich noch suchen konnte, war unter den zukünftigen Sprösslingen meiner Familie. Außerdem war ich wie immer stur. Also ließ ich Merlins Spiegel wieder los und instruierte ihn, mir die Zukunft zu zeigen. »Zeig mir, wie das Herrenhaus in hundert Jahren aussieht«, sagte ich. Das schien mir sicher genug zu sein. Das Portal öffnete sich und zeigte mir ein Bild des Herrenhauses, groß und stolz auf seinen weiten Parkflächen. Das alte Haus sah verdammt viel größer aus. Komplette neue Flügel waren angebaut worden und ein großer Steinturm stand auf jeder Seite. Luftschiffe einer unbekannten Art summten wie schlanke, schwarze Wespen um das Flugfeld hinter dem Haus und da waren Kinder, Hunderte von Kindern, die frei und fröhlich auf den grünen Wiesen herumrannten. Und dann änderte sich das Bild plötzlich und zeigte mir ein anderes Herrenhaus. Es war eine Ruine; zerbrochener Stein und zerbröckelnde Ziegel, alle Fenster dunkel. Der Park war ein wuchernder Dschungel seltsamer und fremder Pflanzen, die sich bis zum Herrenhaus selbst hinzogen wie eine solide grüne Welle. Kriechpflanzen krochen aus den Fenstern, Bäume barsten aus zerbrochenem Mauerwerk. Von der Familie keine Spur, nirgendwo. Das Bild wechselte erneut. Diesmal war das Herrenhaus wie ich es kannte fort und war durch eine gewaltige, technische Struktur ersetzt worden, gänzlich aus glänzendem Stahl und Silber und großen blitzenden Fenstern bestehend. Wirbelnde Energien flossen um hohe schimmernde Türme und seltsame Maschinen hüpften über die säuberlich geschnittenen Grünflächen. Über den ganzen Ort flogen Engel voll schrecklicher Schönheit, sangen Kriegslieder und schienen heller als die Sonne … Die Bilder vor mir änderten sich laufend, schneller und schneller. Alles Mögliche, wahrscheinliche zukünftige Zeiten. Alle gleich real, gleich wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Ich befahl dem Spiegel, damit aufzuhören, dachte eine Weile nach und befahl ihm dann, ein Bild des Herrenhauses in einer Zukunft zu zeigen, in der die Familie darin versagt hatte, die Eindringlinge aufzuhalten. Diesmal stand das Herrenhaus allein und verlassen auf einer endlosen, verstrahlten Ebene. Kein Lebenszeichen irgendwo, nichts von Horizont zu Horizont, und der wolkenverhangene Himmel war leer. Staub fiel langsam zu Boden, endlos, ungestört selbst von der kleinsten Brise. Kein Anzeichen irgendeines lebenden Wesens. Nichts bewegte sich. Der Himmel war von einem dunklen und düsteren Violett, wie eine Prellung. Eine tote Welt. Mir war kalt. Kalt bis auf die Knochen, bis in die Seele. Das war es also, was passieren würde, wenn die Familie versagte. Wenn ich versagte. Ich wies den Spiegel an, mir zu zeigen, wie das passiert war. Was die Eindringlinge tun würden, wenn sie kämen. Bilder erschienen und verschwanden wieder, aber ich konnte keines wirklich verstehen. Sie waren zu seltsam, zu verschieden, zu anders. Da gab es große Formen, lebende Dinge groß wie Berge, die durch mehr als drei physische Dimensionen strahlten. Sie nur anzusehen, verursachte mir Kopfschmerzen und Übelkeit. Die Zeit schien langsamer zu laufen oder schneller, Landschaften entstanden und fielen wieder zusammen wie Gezeiten, Städte brannten und der Mond fiel vom Himmel. Menschen und andere lebende Wesen rannten schreiend durch verzerrte Straßen, transformierten und mutierten in Dinge, die in einer rationalen Welt nicht hätten existieren dürfen. Aber dennoch hatten sie Bestand, waren auf schreckliche Weise lebendig und sich ihrer selbst bewusst und litten. Eine schwarze Sonne, groß und widerlich, dominierte einen Himmel, der in Flammen stand, bis sie plötzlich explodierte, auseinanderplatzte und all die schrecklichen Dinge ausspuckte, die sie ausgebrütet hatte. Die Fremdheit nahm zu, bis ich nicht mehr zusehen konnte. Ich wandte mich ab, und fiel plötzlich von Übelkeit geschüttelt auf den kalten Steinboden. Hinter mir waren schreckliche Geräusche zu hören. Ich schrie den Spiegel an, er solle aufhören, meine Augen zusammengepresst, Tränen leckten unter fest geschlossenen Lidern hervor. Und auf einmal erfüllte eine wunderbare Stille die Kapelle. Als ich endlich wieder wagte, hinzusehen, war nichts im vor mir schwebenden Spiegel zu sehen außer meinem eigenen Spiegelbild. Es starrte mich an, und ich sah zum Fürchten aus. Ich sah aus, als hätte ich den Krieg bereits hinter mir und hätte verloren. Ich kam langsam wieder auf die Füße. Eine kalte Entschlossenheit zwang alle Schwäche aus mir heraus. Ich würde nicht verlieren. Ich konnte es mir nicht leisten. Ich würde meine Hilfe aus der Zukunft kriegen, egal, welchen Preis ich zu zahlen hatte, denn die Alternative war so viel schlimmer. Ich wies Merlins Spiegel an, so weit in die möglichen zukünftigen Zeiten zu gehen wie nötig, um mir den einen Abkömmling zu zeigen, der am besten geeignet war, einen Krieg gegen die Eindringlinge zu führen. Ein Krieger, die Familie in die Schlacht zu führen. Ein Menschenführer, sie zu inspirieren. Ein Mann, der alles war … was ich nicht war. Der Spiegel zeigte mir eine neue Szene, fremdartig genug, um mir den Atem zu rauben. Ein Schlachtfeld auf einem fernen Planeten. Drei Sonnen strahlten in einem grellpinkfarbenen Himmel und schienen auf eine weite Schneewüste herab, die von Hunderten von verletzten Körpern und vergossenem Blut bedeckt war. Riesige zerstörte Kriegsmaschinen lagen halb vergraben im Schnee, von so fremdem Design, dass ich nicht einmal raten konnte, wozu sie gebaut worden waren. Aber die Leichen im Schnee waren definitiv Männer und Frauen, auch wenn ihre seltsam jadegrüne Rüstung ungewohnt war. Die strotzte nur so von dicken, zerklüfteten Technikansammlungen, war von Juwelen durchsetzt, die wie radioaktive Augen leuchteten. Die Leichen trugen alle Anzeichen eines plötzlichen und brutalen Todes, einige waren tatsächlich zerrissen und verstümmelt. Der Krieg hier war gekommen und gegangen, und diese Leute hatten ihn verloren. Und dann kam ein einzelner Mann über die Schneelandschaft, seine Stiefel sanken bei jedem Schritt tief ein, aber er zwang sich mit purer Stärke vorwärts. Er stapfte mit verzweifelter Geschwindigkeit durch den Schnee und kümmerte sich nicht darum, sich nach dem Ding umzusehen, das hinter ihm herkam. Er trug die gleiche Art Rüstung, auch wenn die meisten seiner Juwelen nicht mehr blinkten. Er hielt eine Art Gewehr in der einen und ein langes Schwert in der anderen Hand. Als er näher herankam, konnte ich sehen, dass er etwa so alt war wie ich, auch wenn sein brutales, blutbespritztes Gesicht ihn älter erscheinen ließ. Er trug sein jettschwarzes Haar in einer langen Mähne, die er mit einem goldenen Reif um seine Stirn aus dem Gesicht hielt. Und trotz seiner verzweifelten Situation grinste er, als würde er ein Spiel spielen. Das einzige, das sich lohnte. Er war groß und hatte geschmeidige Muskeln und ich wusste irgendwie, dass das Blut, das von seiner Rüstung tropfte, nicht seines war. Noch mehr bewaffnete Männer kamen über den schneeigen Horizont heran. Sie pflügten durch den Schnee, dem rennenden Mann hinterher; sie jubelten und heulten und klangen dadurch eher wie Bestien denn Menschen. Sie feuerten ihre Waffen ab, aber irgendwie war er nie da, wo die Energiestrahlen trafen. Schnee explodierte hinter ihm, kochendes Wasser flog in dampfenden Tropfen durch die kalte Luft. Aber schließlich schien er sich dafür zu entscheiden, dass es keinen Sinn mehr hatte weiterzulaufen und wandte sich abrupt zu seinen Verfolgern um. Einen Arm hob er vor sich hoch. Die Energiestrahlen zielten auf der Stelle auf ihn, nur um von einem unsichtbaren Kraftfeld aufgehalten zu werden, das offenbar von seinem erhobenen Arm ausging. Die Verfolger schlossen zu dem Krieger auf und er stand geduldig da und wartete auf sie. Zu meiner Überraschung legten sie ihre Waffen weg und gingen mit ihren Schwertern auf ihn los, sobald sie in Reichweite waren. Der Kampf, der sich nun anschloss, war schnell und wild, wie nichts, was ich bisher gesehen hatte. Jede Bewegung war kalt und klinisch und völlig erbarmungslos. Der Krieger kämpfte gut und grimmig, und ging mit der langen Stahlklinge um, als hätte sie kein Gewicht. Blut und Innereien und abgehackte Glieder zierten schon bald den blutigen Schnee um ihn herum und keiner seiner Feinde kam ihm auch nur nahe genug, um ihn zu berühren. Er stampfte in dem blutroten Schnee vor und zurück, schnitt und schlitzte und vermied die Schläge, die von allen Seiten auf ihn zukamen, mit katzenhafter Grazie. Es waren sicher mehr als zwanzig Mann und mehr gegen einen einzigen Krieger gewesen, und er hatte sie alle in ein paar Minuten getötet. Als der letzte Mann in einem Springbrunnen von arteriellem Blut zu Boden fiel, sah sich der Krieger ruhig um. Er atmete nicht einmal schneller. Er nickte einmal, als wäre er mit seiner Performance zufrieden und senkte sein Schwert. Er wollte sich gerade entspannen, als ein Mann aus dem Schnee hinter ihm hochkam. Er hatte sich unter einer Leiche versteckt, komplett versteckt und hatte dort auf seine Gelegenheit gewartet. Er hob seine unbekannte Waffe, um den Krieger in den Rücken zu schießen und ich zog meinen Revolver und schoss den Mann in den Kopf, durch das Portal. Eine Kugel aus der Vergangenheit, um einen Kerl in der Zukunft zu töten. Der Knall des Revolvers war nach dem kurzen Summen der Energiewaffen laut und harsch, und der Krieger wirbelte unglaublich schnell herum, sein Schwert gezückt. Gerade rechtzeitig, um den Mann, der ihn getötet hätte, im Schnee mit halb zerschossenem Kopf zusammenbrechen zu sehen. Der Krieger sah mich, der ihn durch ein Loch in der Luft beobachtete und sein Blick war dunkel und kalt und nachdenklich. Er kam ruhig durch den blutigen Schnee auf das Tor zu und blieb dort stehen, um mich einen langen Augenblick einzuschätzen. Blut tropfte von der Klinge und dampfte in der kalten Luft, die durch das Portal zu mir wehte. Er sagte etwas, sein Atem bildete Wolken in der Luft, aber ich konnte ihn nicht verstehen. Es klang nicht wie irgendeine menschliche Sprache, die ich je gehört hatte. Ich befahl meinem Torques zu übersetzen und plötzlich begannen die Worte einen Sinn zu ergeben. »Danke für die Hilfe«, sagte der Krieger. »Ich habe nicht erwartet, an diesem gottverlassenen Ort einen Freund zu finden. Ich habe dir gegenüber eine Ehrenschuld, Fremder.« »Wo ist der Rest deiner Leute?«, fragte ich. Er zuckte mit den Achseln. »Tot. Jeder Einzelne von ihnen. Wir wussten, es wird eine Selbstmord-Mission, als uns der Kaiser hierhin schickte, aber es war nicht so, als hätten wir eine Wahl gehabt. Die Menschen schlagen vor, der Kaiser ordnet an. Besonders dann, wenn man am Hof nicht mehr … gelitten ist.« Er hielt inne und sah sich aufmerksam um und lauschte nach etwas, das ich nicht hören konnte. »Meine Feinde kommen wieder. Kannst du mich hier rausholen, Fremder? Ich bin der einzige Überlebende meines Kommandos und die Größe der gegnerischen Truppe ist … größer, als man mir zu verstehen gab.« »Du nimmst mein Erscheinen sehr ruhig hin«, sagte ich. »Oder sind solche Vorkommnisse üblich in deiner Zeit?« Er zuckte wieder mit den Achseln. »Ich habe draußen in den Randbezirken schon seltsamere Scheiße als die hier gesehen. Bring mich hier raus, Fremder und ich schwöre dir, ich diene dir, wie ich meinem Kaiser diene. Nicht für immer, mein Schwur dem kaiserlichen Thron gegenüber hat Vorrang. Aber ein wenig Zeit weitab vom Hof könnte helfen, das Blut ein wenig abzukühlen - auf beiden Seiten. Sollen wir sagen, Dienste für dich, für meine Rettung für ein Jahr und einen Tag?« »Klingt fair«, sagte ich. Aber als ich versuchte, meine Hand durch das Portal zu strecken, ließ der Spiegel das nicht zu. Das hatte ich befürchtet. »Hör zu, ich bin nicht wirklich ein Fremder. Ich spreche zu dir aus deiner fernen Vergangenheit. Ich weiß nicht genau, wie weit. Jahrhunderte sicher, vielleicht mehr. Du bist ein Abkömmling meiner Familie. Und meine Familie braucht die Führung eines Kriegers. Aber ich kann dich nicht einfach so zu mir holen. Du bist zu weit weg von mir. Aber ich habe eine andere Möglichkeit, dich zu erreichen.« »Das sollte besser schnell sein«, sagte er leidenschaftslos. »Meine Feinde werden bald hier sein. Wie ist dein Name?« »Edwin Drood«, sagte ich. »Und deiner?« Der Krieger lächelte. »Todesjäger. Giles Todesjäger.« Kapitel Zehn Stimmen, die den Krieg verkünden Manchmal scheint mir, meine ganze Zeit im Herrenhaus besteht darin, mich mit Leuten auseinanderzusetzen, die zu mir kommen, um mir Sachen zu sagen, die ich bereits weiß und nicht leiden kann. Es gibt einen bestimmten Gesichtsausdruck, den ich zu erkennen gelernt habe: zu gleichen Teilen Entschlossenheit und diese Es-ist-nur-zu-deinem-Besten-Schadenfreude. Diesmal war es Callan Drood, der aus einem Nebenzimmer hervorgeschossen kam, als ich ins Herrenhaus zurückgegangen war. Er sah nach seinem Trip nach Südamerika weniger sonnenverbrannt als vielmehr geröstet aus. Er kam direkt auf mich zu und sein Blick war finster. Das musste nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen sein, Callan sah immer so aus. Selbst an seinen besten Tagen machte er den Eindruck eines Jemands, der perfekt darauf vorbereitet war, alles über den Haufen zu rennen, das sich ihm in den Weg stellte, einschließlich Mauern, Vorschriften und mindestens ebenso wahrscheinlich Menschen. Ich wusste sofort, dass ich das, was er mir so dringend zu sagen hatte, nicht hören wollte. Aber außer ihm mit dem nächstbesten stumpfen Gegenstand eins über den Schädel zu ziehen und über ihn drüber zu marschieren, gab es keine Möglichkeit, ihm aus dem Weg zu gehen. Also blieb ich stehen, seufzte einen schweren Seufzer, um zu zeigen, dass ich gar nicht glücklich war und ließ ihn sagen, was er zu sagen hatte. »Der Innere Zirkel will mit dir reden«, sagte Callan rundheraus. »Es ist schön, wenn man etwas will«, sagte ich. »Ich will ein paar große Drinks und eine Fleischpastete, gefolgt von einem schönen Nickerchen und ich denke, genau das werde ich mir jetzt gönnen.« »Lass mich das anders sagen«, sagte Callan. »Der Innere Zirkel muss dich auf der Stelle sehen. Und ich habe den Befehl, Nein, zur Hölle oder Verpiss dich und fall tot um nicht als Antwort gelten zu lassen.« »Der Zirkel hat schon unter Beweis gestellt, dass er Entscheidungen auch ohne mich treffen kann«, sagte ich knapp. »Sollen sie doch so weitermachen.« »Schmollen steht dir nicht«, meinte Callan. »Also hör auf damit oder ich verpass dir eine, wo's wehtut. Genau hier, wo alle es sehen können. Das hier ist wichtig.« »Deine Bluff-und-trotzdem-ehrlich-Attitüde geht mir langsam richtig auf den Sack«, sagte ich. »Wie wichtig?« »Den-Arsch-zusammenziehend-, Eier-schrumpfend-, Ende-der-Welt-und-alles-wird-richtig-scheiße-wichtig«, antwortete Callan. »Sie warten unten im Lageraum auf dich. Wahrscheinlich heulen sie und machen sich in die Hose und verstecken sich unter Tischen und so.« »Oh«, sagte ich. »Doch so wichtig.« Also gingen wir hinunter in den Lageraum, unterzogen uns brav allen Sicherheitskontrollen, bis wir schließlich durch die besonders verstärkten Türen ins totale Tollhaus kamen. Die üblicherweise gedämpfte Atmosphäre war von einer gespannten und aufgeladenen und sehr lauten abgelöst worden, in der Leute von Station zu Konsole rannten, schnell miteinander sprachen, die Hände in die Luft warfen und dann irgendwo anders hin rannten. Die gigantischen Displays und Bildschirme, die die schwarzen Basaltwände bedeckten und Karten von allen Ländern der Welt zeigten, waren mit kleinen, roten Punkten übersät, die Echtzeit-Notfälle und Katastrophen anzeigten. Die Hellseher und Computer-Techniker schrien in ihre Headsets und winkten mit Papierbögen voller Nachrichten, damit sie abgeholt und dorthin gebracht werden konnten, wo sie gebraucht wurden. Für einen Moment blieb ich stehen und glotzte nur. Der Lageraum war immer das kalte, ruhige und gesammelte Herz der Familienentscheidungen gewesen. Ich hatte diesen Ort nie so verwirrt, so offensichtlich einer Panik nahe gesehen. Was sonst mein Innerer Zirkel war, stand jetzt um den Hauptlagetisch herum und wartete ungeduldig auf mich. Oder zumindest die meisten von ihnen. Es gab natürlich keine Spur von Jacob, oder von Molly oder Penny. Vermutlich waren die beiden immer noch privat unterwegs und hatten ihr kleines Frau-zu-Frau-Schwätzchen. Der Seneschall war da, der Waffenmeister, Harry und … Roger Morgenstern. Ich fragte mich, ob ich Einspruch dagegen erheben sollte, ein bekanntes Höllenwesen im Droodschen Lageraum zu dulden, aber das war ja eigentlich genau das Denken, dass ich ändern wollte. Wenn er irgendetwas Nützliches zur Situation beitragen konnte, würde ich ihm zuhören. Wir konnten ihn später immer noch töten. Trotzdem, ohne Molly und Penny und mit sowohl dem lebenden wie dem toten Jacob in eigener Sache unterwegs, war mein einziger Verbündeter im Zirkel der Waffenmeister. Der gute alte Onkel Jack. Der, so fair musste man sein, Roger böse Blicke zuwarf. »Was macht dieses Dämonenhalbblut hier«, verlangte er zu wissen, als ich mit Callan an der Seite zum Lagetisch trat. »Roger ist mit mir hier«, sagte Harry. Der Waffenmeister schnaubte laut. »So weit ist es mit der Familie schon gekommen.« »Hi, Jungs«, sagte ich. »Was ist los?« Der Waffenmeister wandte seinen bösen Blick sofort mir zu. »Wo zur Hölle bist du gewesen, Eddie? Sieh dir die Weltkarten an! Die Informationen fluten seit eurem kleinen Manöver in Südamerika nur so herein, und alle sind schlecht. Überall auf dem Globus brechen Buschfeuer aus, weil es nicht genug Frontagenten gibt, die sie austreten. Die Jungs hier werden schon wahnsinnig, wenn sie nur versuchen, auf dem Laufenden zu bleiben.« »Ich habe ein paar Leute extra hergeholt, vom Geheimdienst und dem Medienzentrum. Im Grunde von überall dort her, wo es nicht hektisch zuging, sowie all die, die nicht schnell genug weglaufen konnten«, meinte Callan eifrig. »Im Moment schaffen wir es, über alles informiert zu werden. Aber die Ereignisse auf der Welt nehmen zu - die Regierungen geben eine spektakuläre Vorstellung von Lemmingen mit einem ganz miesen Morgenkater und keinen Hemmungen ab.« Ich musste ihm eine gehobene Augenbraue zeigen. »Seit wann befehligst du denn den Lageraum, Callan?« »Seit du und dein kostbarer Innerer Zirkel entschieden haben, lieber zu quatschen als eure Hände mit dem täglichen Geschäft schmutzig zu machen, die Familie zu führen. Ich habe hier gearbeitet, bevor ich auf die Idee gekommen bin, Frontagent zu werden. Und als ich von dieser beschissenen Schlachtorgie in Südamerika zurückkam, hatte ich das Gefühl, etwas Nützliches tun zu müssen. Also habe ich hier mal reingeschaut und war entsetzt zu sehen, wie man die Dinge hier hat schleifen lassen. Ich bin reingekommen, habe die Ärmel hochgekrempelt und habe alles übernommen. Keiner sonst hat sich freiwillig gemeldet. Die Leute hier sind geradezu dankbar, dass jemand ihnen sagt, was sie tun sollen. Wenn ihr nicht mögt, was ich hier tue, dann bitte, werft meinen Hintern hier raus. Wenn ihr einen findet, der blöd genug ist, das hier zu übernehmen, heißt das. Ich wette, dass euer Haufen nicht einmal die Dringlichkeitsprotokolle kennt, oder? Was gibt es da zu lachen, Edwin?« »Für einen winzigen Moment hast du mich an mich selbst erinnert.« »Jetzt wirst du richtig fies«, sagte Callan. »Diese Wir-coolen-Jungs-halten-zusammen-Rituale sind ja echt süß«, unterbrach Harry. »Aber Callan, könntest du dich als Herr und Meister des Lageraums vielleicht dazu herablassen, uns tatsächlich über das zu informieren, was gerade ansteht?« Callans Nasenflügel bebten. »Leg es nicht drauf an, Noob. Du und dein Schwefeltyp seid hier nur geduldet. Also, für alle: Fangen wir unten an. Politiker jeder Couleur und jeden Geschmacks bedrohen einander gerade mit Krieg, Invasionen und allen Arten von wirtschaftlichem Terrorismus, weil sie glauben, die Familie sei nicht imstande, sie aufzuhalten. Das Gerücht fehlender Frontagenten und auch fehlender Torques hat sich ganz klar verbreitet. Also, überall in der Welt brechen alte Fehden, alter Hass und Vendetten zwischen jahrhundertealten Feinden aus, die sich auf ernsthaftes und lang aufgeschobenes Blutvergießen vorbereiten. Dazu kommt, dass all die üblichen unüblichen Verdächtigen es kaum noch abwarten können, die Situation auszunutzen. Während also die Katze aus dem Haus ist, kriegen die Mäuse grade folgerichtig Oberwasser. All die üblichen ekelhaften Organisationen und Individuen operieren jetzt immer offener, und probieren einfach, ob wir eingreifen und sie aufhalten. Wir haben den Frieden so lange erzwungen, dass wir einfach vergessen haben, wie viel Übles unter der Oberfläche geblubbert hat.« Er unterbrach sich, um mich vorwurfsvoll anzustarren. Alle anderen taten das Gleiche. Ich starrte zurück. »Je mehr aus ihren Löchern kommen, desto einfacher wird es für uns, ihnen in den Hintern zu treten«, sagte ich. »Sie kriegen also nur, was sie verdienen. Noch mehr, Callan?« »Oh, massenhaft. Alles mies, an der Grenze zu nervtötend. Elbensichtungen sind angestiegen. Signifikant angestiegen. Der Geheimdienst nimmt gegenwärtig an, dass die Schwächung der Dimensionsgrenzen durch die Eindringlinge die Elben planen lässt, aus ihrem langjährigen Exil zurückzukehren. Der Geheimdienst denkt auch, dass wir versuchen sollten, den Feenhof zu kontaktieren, um wenigstens zu versuchen, sie als Alliierte gegen die Eindringlinge auf unsere Seite zu ziehen. Weil es ja auch nicht im Interesse der Elben wäre, dass die Eindringlinge genau die Welt zerstören, die sie selbst ja unbedingt wieder erobern wollen.« »Elben werden sich nie auf die Seite der Menschen schlagen«, sagte ich kurz. »Sie hassen uns zu sehr. Eher schlagen sie sich selbst auf die Seite der Eindringlinge, und sei es nur für das Vergnügen, die Eindringlinge das tun zu sehen, was sie selbst nie tun konnten: Die Menschheit ermorden.« »Dann sind da die Aliens«, sagte Callan. »Die meisten Spezies, die wir beobachten, sind auf und davon. Vermutlich sind sie weg, solange sie noch können.« »Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, grollte der Seneschall. »Naja, so ziemlich«, sagte Callan. »Fühl dich übrigens frei, einfach mal dazwischen zu quatschen und meinen Bericht zu unterbrechen, wann immer dir danach ist, Cyril. Dann sind da schließlich noch wenige, aber deutliche Hinweise darauf, dass Himmel und Hölle direktes Interesse an dem zeigen, was vor sich geht. Es gibt Berichte von Engeln. Von denen von Oben und denen von Unten.« Wir sahen alle auf Roger, der mit den Achseln zuckte. »Schaut nicht mich an. Keine Seite würde sich einem Halbblut anvertrauen. Tatsächlich ist es so, dass sie sich sogar um das Privileg prügeln würden, wer mir den Garaus machen darf.« »Das kann ich gut verstehen«, sagte ich. In diesem Moment hallte der schreckliche Klang eines wirklich großen Gongs durch den Lageraum, so laut, dass die Leute sich die Hände an die Ohren pressten, um ihn nicht hören zu müssen. Jeder sah sich panisch um und wappnete sich gegen einen Angriff, aber alles, was passiert war, war, dass Merlins Spiegel aus meiner Tasche hüpfte, umgehend zu voller Größe anwuchs, in der Luft hängen blieb und ein Portal zwischen dem Lageraum und der alten Bibliothek bildete. William Drood starrte aus der Öffnung in den zu Tode erschrockenen Lageraum und lächelte schwach. »Tut mir leid. Ich dachte, ich hätte die Gongfunktion abgestellt.« Ich seufzte schwer. »Ich bin im Moment ein kleines bisschen beschäftigt, William. Ist es wirklich wichtig?« »Aber natürlich!« »Aber natürlich«, sagte ich. »Alles ist dieser Tage wichtig. Immer sind es sauwichtige Neuigkeiten, niemals ist Zeit für etwas Herzerwärmendes, sowas wie ein Dachs, der skateboarden kann oder so. Hört gar nicht auf mich, ich rede nur so vor mich hin, weil ich sonst anfange, mit Sachen zu schmeißen. Was willst du, William?« Er lächelte distanziert, und sah - man muss es sagen - noch nervöser und verwirrter aus als üblich. »Rafe kümmert sich um deinen Freund. Ich habe ein paar neue und möglicherweise lebenswichtige Informationen über die Natur und die Absichten der Abscheulichen. Du musst dir das anhören, Edwin, bevor du irgendwelche Pläne machst.« »In Ordnung«, sagte ich resignierend. »Der Innere Zirkel ist hier bei mir. Also, lass hören.« Der Waffenmeister trat plötzlich nach vorn und stellte sich neben mich, um durch das Portal zu starren. Er lächelte den Bibliothekar breit an. »William!«, rief er aus. »Mein Gott, es ist gut, dich wiederzusehen! Ich wusste gar nicht, dass du wieder im Herrenhaus bist. Du siehst gut aus. Na, komm her zu uns! Wir sollten uns Zeit für ein langes Schwätzchen nehmen, wenn das alles hier vorbei ist.« William sah ihn traurig an. »Ich werde lieber nicht - ich komme besser nicht. Ich bin noch nicht so weit. Du bist Jack, richtig? Hallo, Jack. Es ist schon eine Weile her, nicht wahr … auch wenn ich Dir nicht sagen könnte, wie lang. Ich habe ein bisschen die Orientierung verloren, was die Zeit angeht und andere … Dinge.« Der Waffenmeister sah mich an und senkte die Stimme. »Was ist los mit ihm? Ich dachte, er wäre …« »Geheilt?«, sagte William. »Das ist ein wenig optimistisch, fürchte ich. Und ich bin zwar verrückt, aber nicht taub. Sagen wir einfach … ich werde langsam wieder zu dem, was ich einmal war.« »Warum bist du so lange weggeblieben?«, sagte der Waffenmeister. Er bemühte sich, ruhig zu sprechen, aber es war klar, wie sehr ihn der Zustand seines alten Freundes mitnahm. »Warum hast du niemandem auf Wiedersehen gesagt? Mir zum Beispiel? Du hast nicht einmal eine Nachricht hinterlassen. Hast du nicht gewusst, was wir uns für Sorgen machen würden? Ich habe Jahre damit verbracht, dich zu suchen, noch lange, nachdem jeder andere dich schon aufgegeben und dich einen Vogelfreien genannt hat. Ich habe nie aufgegeben. Warum hast du mir nicht gesagt, wo du hingegangen bist, William? Wir waren Freunde von klein auf.« »Das Herz hat mich vertrieben«, sagte William. Man konnte sehen, dass er ehrlich versuchte, sich zu konzentrieren und seine schweifenden Gedanken zusammenzuhalten. »Es hat mich verletzt. Das böse Herz. Ich musste fliehen, weg vom Herrenhaus und der Familie, um mein Leben und das, was von meinem Verstand noch übrig war, rennen. Ja, ich musste dort untertauchen, wo niemand nach mir suchte und mich dann tief in mir selbst verstecken, Jack. Und wieder zurückzukommen ist … schwierig. Wir reden später, Jack. Ja. Alles aufholen, nur wir beide. Nur … jetzt nicht. Jetzt müsst ihr mir erst einmal alle zuhören, was ich euch zu sagen habe. Und passt auf, ich glaube nicht, dass ich das zweimal erklären kann.« Sein Gesicht festigte sich, seine Stimme klang klarer und autoritärer, als er seine alte Rolle als Fachmann und Vortragender übernahm. Vielleicht weil es einfach eine weitere Rolle war, hinter der er sich verstecken konnte und die nichts anderes von ihm verlangte als seine Expertise. »Der Familie sind die Eindringlinge lange bekannt. Wir haben vor langer Zeit gegen sie gekämpft, als die druidischen Droods die Römer unterstützten, als die das alte Britannien einnahmen. Glaubt man den lateinischen Texten, kostete es die ganze Macht des Römischen Imperiums, zusammen mit den ersten Drood-Frontagenten, die turmartigen Strukturen zu zerstören, die von besessenen Barbarenvölkern über die ganze bekannte Welt gebaut worden waren. Das römische Militär schleifte diese frühen Nester mit seiner üblichen, brutalen Effizienz, aber immer mehr sprossen aus der Erde. Es gibt Hinweise darauf, dass am Ende das Herz einschritt und direkt eingriff, die verbliebenen Gebäude zerstörte und die Eindringlinge davon abhielt, in unsere Realität zu kommen. Vermutlich, war es nicht bereit, seinen neuen Besitz aufzugeben. Es war die Welt des Herzens und es war nicht bereit zu teilen. Wie auch immer … Viele Jahrhunderte später hat unsere vorletzte Matriarchin, Sarah Drood, das Wissen jener Zeit aus der vermeintlich verlorenen Bibliothek entfernt und es dazu benutzt, die Abscheulichen in unsere Realität zu holen. Wahrscheinlich, damit sie als Waffen gegen die Nazis verwendet werden konnten.« »Wahrscheinlich?«, fragte der Seneschall bissig. »Ich habe die Aufzeichnungen gesehen. Die Seelenfresser gaben exzellente Waffen gegen die Kriegsmaschinerie der Nazis ab, bevor die Vril-Gesellschaft auf der anderen Seite eingriff und das Gleichgewicht wieder herstellte.« »Oh, ich bin sicher, sie haben eine Menge Schaden angerichtet«, sagte William. »Aber ich glaube nicht, dass das der Zweck war, zu dem sie geholt wurden.« »Ich habe nie verstanden, warum unsere Wahl ausgerechnet auf sie fiel«, sagte der Waffenmeister. »Ich meine, Seelenfresser? Es hat doch bestimmt bessere, sicherere Optionen gegeben, die wir hätten wählen können.« »Oh, die gab es«, sagte William. »Aber jemand, jemand sehr Hochstehendes, hat auf die Abscheulichen bestanden. Je mehr ich in den ungekürzten Familienchroniken lese, desto mehr bin ich zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass jemand in der Familie ein Verräter war. Vielleicht schon von irgendeinem Dämon besessen.« »Aber … wie wäre das möglich?«, platzte der Seneschall heraus. »Die Torques haben uns doch vor jeder Besessenheit oder seelischen Gefahr beschützt!« »Es gibt nur einen Weg, wie das passieren konnte«, sagte William. »Jemand hat sich aus freiem Willen zur Verfügung gestellt. Wie die Kandarianer.« Das ließ uns alle eine Weile still werden. »Ein Verräter der Familie«, sagte ich endlich. »Das ist jetzt leichter zu glauben, wo wir alles über das Herz und die Matriarchinnen erfahren haben. Und auch über die Null-Toleranz-Fraktion, aber trotzdem … Ein Drood, der sich selbst einem Dämonen hingibt und sich mit Seelenfressern zusammentut? Warum? Was könnte derjenige glauben zu gewinnen?« »Was noch wichtiger ist«, sagte Harry langsam. »Könnte es immer noch Verräter oder besessene Droods geben, die nach wie vor in der Familie operieren? Das könnte erklären, wie wir in der Nazca-Ebene so leicht überrumpelt werden konnten …« William nickte traurig. »Mir ging es besser, als ich noch verrückt war und nicht wusste, was los war. Eines scheint jedenfalls bedauerlich deutlich zu sein. Seit die Abscheulichen wieder hereingelassen wurden, aus was für Gründen das vor sechzig Jahren auch immer geschah, haben sie Opfer um Opfer übernommen und langsam ihre Macht und ihren Einfluss bis zu dem Punkt ausgedehnt, an dem sie wieder anfangen konnten, ihre Strukturen zu bauen und die Eindringlinge zu beschwören.« »Es gibt Meldungen von mehr dieser Strukturen; in verschiedenen Baustadien, aus aller Welt«, sagte Callan. »Es ist, als würden sie sie nicht einmal mehr verstecken.« »Wie viele?«, fragte der Seneschall. »Hunderte, bis jetzt. Es würde mich nicht überraschen, wenn es letztendlich noch Tausende würden.« »Lasst uns darüber reden, was wir von den Abscheulichen wissen«, sagte William jetzt in vollem Vortragsmodus. »Sie sind ja nicht einfach gekommen und haben wie die meisten Dämonen oder Teufel aus der Hölle einfach mal Leute übernommen.« Es entstand eine kleine Pause, in der alles zu Roger blickte, der jedoch nichts zu sagen hatte. William schnüffelte ein paar Mal und sprach dann weiter. »Nein, diese Dämonen infizieren ihre Opfer einfach dadurch, dass sie sich in der Nähe befinden. Sie implantieren einen mental-spirituellen Embryo in den menschlichen Körper und die Seele. Die eindringende Präsenz verwendet dann den Menschen als Nahrung, während sich der Embryo entwickelt, bevor er endlich einen kompletten Abscheulichen ausbrütet. Wie dämonische Kuckuckseier. Erst kommen physische Veränderungen. Das Fleisch verzerrt sich, seltsame Deformierungen am Körper entstehen, alle sollen den Wirt stark genug machen, einem Embryo der Abscheulichen ein Heim geben zu können, der sich formt. Und während dieser im Wirt selbst wächst, frisst er sich in den Verstand und die Seele, ändert die Gedanken und die Persönlichkeit seines menschlichen Wirts, der sich fühlt, als würde er wahnsinnig und zu etwas Fremdem - aber dennoch nicht in der Lage ist, das zu stoppen oder auch nur den Vorgang zu verlangsamen. Wir können nur vermuten, welche Hölle diese armen Unglücklichen durchmachen. Gedanken, Gefühle, Träume, alles das ändert sich - bis nichts mehr übrig ist außer einer neuen Drohne der Abscheulichen. Der Mensch ist fort, er wurde ersetzt.« »Also im Wesentlichen«, sagte ich, »heißt das, die Opfer sterben nach und nach, Tag für Tag, sind sie einmal infiziert. Dabei verlieren sie jedes Bisschen ihrer selbst, bis sie eines Tages zu dem werden, das sie infiziert hat. Noch mehr Drohnen für die Eindringlinge. Richtig, das ist es. Tötet die armen Bastarde, wenn ihr sie seht. Wir tun ihnen einen Gefallen.« »Das wirklich Beunruhigende«, sagte William, »ist, dass es eine geringe, aber doch definitive Wahrscheinlichkeit dafür gibt, dass ein paar, wenn nicht sogar alle, die die Schlacht auf der Nazca-Ebene überlebt haben, selbst infiziert wurden. Und jetzt zu Verrätern der Familie werden. Möglicherweise wissen sie es nicht einmal selbst. Sie könnten dazu gebracht worden sein, es zu vergessen. Die Drood-Rüstung hätte eigentlich Schutz genug sein müssen, aber wir haben nicht genug Daten darüber, ob die silbernen Torques genauso sicher sind wie die alten goldenen.« Harry verzog das Gesicht. »Sollten wir mit unserer Sicht nicht erkennen können, wer infiziert ist? Oder durch unsere Maske hindurch?« »Das sollten wir«, sagte William. »Aber die Aufzeichnungen sagen nein. Es scheint, als wäre diese Infektion einfach zu … anders.« Ich sah den Waffenmeister an. »Wir brauchen einen Test, irgendetwas, um die Wahrheit herauszufinden. Etwas, das eine infizierte Person entdecken kann. Wir müssen sicher sein, wer wer ist. Und was was.« »Ich mache mich sofort an die Arbeit«, sagte der Waffenmeister. »Wir brauchen einen Test, den man an der ganzen Familie anwenden kann«, meinte Harry. »Wir müssen wissen, wem wir vertrauen können.« »Ich könnte nicht einverstandener sein, Harry«, sagte ich und sah ihn direkt an. »Noch etwas, William?« »Der nächste logische Schritt für die Abscheulichen wäre eine komplette Beschwörung«, sagte William bedrückt. »Wenn erst einmal genug der Türme fertig sind, werden sie versuchen, die Hungrigen Götter in unsere Welt zu bringen. Um alles zu verschlingen, was lebendig ist. Ich denke, wir können annehmen, dass die Zerstörung des Turms auf der Nazca-Ebene ihnen gezeigt hat, wie gefährlich es ist, sich dabei nur auf eine isolierte Struktur zu verlassen. Also sollte uns das etwas Zeit verschaffen. Aber wie viel …« »Seid ihr bereit für noch mehr schlechte Nachrichten?«, fragte Callan. »Der Geheimdienst ist sich dank abgehörter Kommunikation ziemlich sicher, dass die Abscheulichen uns zu den Sündenböcken machen wollen. Sie haben einen Deal mit Truman und seinem Manifesten Schicksal gemacht: Für Geld, technische Gerätschaften, Tarnung und sowas. Offenbar glaubt Truman, dass er die Eindringlinge benutzen, die Kontrolle über die Welt erlangen und sie dann wieder abschieben kann. Der Idiot glaubt tatsächlich, dass er sie benutzt!« »Das zeigt, wie verzweifelt er ist«, sagte ich. »Nun, wir wollten eine große Schlacht, um der Welt unsere erneuerte Kraft und Macht zu demonstrieren. Und jetzt steht uns der größte Kampf unseres Lebens bevor, während die ganze Welt zusieht und auf dem Spiel steht. Bedenke wohl, worum du bittest … Aber gut. Das war's. Jeder in der Familie bekommt einen neuen Silber-Torques. So bald wie möglich, ohne Ausnahme. Ich habe schon mit Seltsam gesprochen, und er sieht keine Probleme. Er wartet nur darauf, gefragt zu werden. Wenn diese Familie in den Krieg zieht, will ich uns alle gerüstet haben. Weil wir jeden Kämpfer brauchen, den wir kriegen können. Seneschall, du musst das Training allein übernehmen, jedenfalls solange, bis Janitscharen Jane wieder auftaucht. Ich muss sagen, ein paar haben sich auch ohne Rüstung schon ganz prima gemacht.« »Die Familie wird bereit sein«, meinte der Seneschall. »Ich werde dafür sorgen, Edwin. Keiner dieser verdammten kosmischen Parasiten kann hoffen, gegen die Drood-Familie und ihre Rüstung zu bestehen.« »Das ist ja alles ganz rührend«, meinte Harry. »Aber meine Frage ist, ob das klug ist. Uns alle in eine Rüstung zu stecken, bevor der Waffenmeister Zeit hatte, seinen Test für mögliche Verräter in der Familie zu entwickeln? Willst du wirklich einem möglichen Verräter oder Attentäter eine Rüstung geben?« »Vorhin klang das noch ganz anders«, sagte ich, nur wenig amüsiert. »Erst heute Morgen hast du mir jedes Schimpfwort unter der Sonne an den Kopf geworfen, weil ich die Rüstung eben noch nicht jedem habe zukommen lassen.« »Das war heute Morgen«, sagte Harry. »Aber jetzt ist es anders. Und ich bin sowieso nicht überzeugt, dass wir rechtzeitig so viele Leute ordentlich trainieren können. Der Seneschall kann sehr … inspirierend sein, aber untrainierte Agenten im Feld können eine Gefahr für sich selbst und ihre Kameraden sein; vom Feind mal gar nicht zu reden.« »Die Familie hat mehr Ausbilder und Tutoren zur Hand als jemals zuvor, dank mir«, sagte ich. »Und wir werden nicht wieder angreifen, bevor ich nicht sicher bin, dass wir gewinnen können. Ich werde nicht noch mehr gute Frauen und Männer verlieren. Glücklicherweise habe ich einige … Arrangements getroffen, um noch mehr Expertenhilfe zu bekommen. Tutoren, was die Kunst und die Praxis des Krieges angeht.« »O Gott«, sagte der Waffenmeister. »Ich kenne diesen Ausdruck auf deinem Gesicht. Du glaubst, du hast etwas richtig Schlaues angestellt. Was hast du getan, Eddie? Und warum weiß ich jetzt schon, dass ich es nicht gutheißen kann?« »Vielleicht, weil du mich so gut kennst, Onkel Jack«, erwiderte ich. »Ihr habt alle gesagt, ich hätte nicht die nötige Erfahrung, um diese Familie in den bevorstehenden Krieg zu führen und ihr hattet recht. Aber da auch niemand sonst in der Familie diese Erfahrung hat, war ich gezwungen, weiter weg zu gehen, um Jemanden zu finden, der diese Erfahrung und dieses Fachwissen hat. Ich habe Merlins Spiegel gebeten, mir die zwei passendsten Familienmitglieder zu zeigen; einen aus der Vergangenheit, und einen aus der Zukunft. Und das hat der Spiegel getan.« »Du hast das gemacht, ohne zuerst den Inneren Zirkel zu fragen?«, fragte Harry. »Wie kannst du das wagen!« »Ich habe es nicht getan, weil ich wusste, dass ihr versuchen würdet, es mir auszureden«, sagte ich ruhig. »Und ich wollte mir das nicht ausreden lassen. Außerdem hat es funktioniert. William, lass Rafe doch unseren Besucher herbringen, damit jeder ihm Hallo sagen kann.« »Ich hatte ihn hier neben mir stehen«, sagte William mürrisch. »Ich wusste, dass du das wahrscheinlich so haben wolltest.« Der lebende Jacob trat neben ihn ins Sichtfeld und lächelte fröhlich auf die verblüfften Gesichter vor ihm. Er hatte ein Glas Wein in einer Hand und er musste etwas zu essen gefunden haben, weil er die Hälfte davon auf sein Wams gekleckert hatte. »Meine edlen Abkömmlinge - Gott zum Gruße! Ich bin Jacob Drood, Soldat, Philosoph und Lebemann!« Der Waffenmeister und der Seneschall, die beide Jacob den Geist nur zu gut kannten, sahen beide gleich geschockt und entsetzt aus. Harry, Roger und Callan erkannten zumindest den Namen und sahen mich aufmerksam an. Der Seneschall war, nicht überraschend, der Erste, der seine Worte wiederfand. »Bist du jetzt völlig und total übergeschnappt? Weiß er von …?« »Nein, tut er nicht«, sagte ich schnell. »Und ich glaube wirklich nicht, dass du ihm das jetzt sagen solltest. Darauf sollte man schonend vorbereitet werden.« »Mir was sagen?«, fragte Jacob sofort misstrauisch. »Weiß der andere Jacob davon?«, fragte der Waffenmeister. »Wie nimmt er es auf?« »Er weiß es«, sagte ich. »Und er nimmt es so gut auf, wie man erwarten konnte. Aber er ist einverstanden. Er sagt, es ist … notwendig.« »Welcher andere Jacob?«, fragte der Lebende. »Edwin, verheimlicht Ihr mir etwas?« »Oh, eine ganze Menge«, sagte ich. »Du weißt ja, wie das in der Familie so ist.« Jacob schnaubte und leerte sein Weinglas. Ich wich dem Blick des Waffenmeisters und des Seneschalls nicht aus. »Merlins Spiegel hat diesen Mann ausgewählt, als den besten und passendsten Kandidaten aus der Familienvergangenheit. Das sollte euch zu denken geben. Jacob, wir werden dich über alles aufklären, wenn es an der Zeit ist. Bitte, stell dich jetzt vor.« »Ich war in vielen Kriegen an der Front«, sagte der lebende Jacob ein wenig großspurig. »Diese geheimen und unsichtbaren Kriege, die immer die Spezialität der Droods waren, um die Welt zu beschützen. Ich kann Euch helfen, mit praktischer und mit politischer Vernunft, welche in meinen Tagen mein Fachgebiet war. Die Grundlagen, einen Krieg zu führen, sind recht einfach: teile und herrsche, finde die schwachen Punkte heraus und schlage dort zu, und am Wichtigsten: Verwirre jeden anderen so, dass sie nicht wagen, etwas zu tun, weil sie glauben, es sei falsch.« »Die Welt hat sich seit deiner Zeit etwas geändert«, sagte Callan. »Danke Jacob«, sagte auch der Waffenmeister. »Ich bin sicher, dein Fachwissen wird sich als wertlos erweisen. Wenn du und William uns nun entschuldigen wollt, wir haben über private Dinge zu reden.« William nickte und machte eine Geste, und Merlins Spiegel schrumpfte wieder auf normale Größe und steckte sich selbst in meine Jackentasche. Zum Glück diesmal ohne den verdammten Gong. Der Waffenmeister starrte mich böse an. »Also, Eddie. Du siehst immer noch gefährlich selbstzufrieden aus. Lass die nächste Bombe platzen. Wen oder was hat der Spiegel in der Zukunft für dich gefunden?« »Ah ja«, sagte ich. »Da wird es etwas kompliziert. Ich habe einen fantastischen zukünftigen Krieger gefunden, und einen entfernten Nachfahren von uns, der sich Giles Todesjäger nennt.« »Todesjäger?«, fragte Harry. »Was ist denn das für ein Name?« »Er passt zu ihm«, sagte ich. »Fakt ist, ich habe den Mann kämpfen sehen. Er ist der Tod auf zwei Beinen und ziemlich fies drauf. Genau, was wir brauchen. Er ist sogar bereit, uns zu helfen. Unglücklicherweise …« »Ich wusste, es gibt einen Haken«, meinte der Waffenmeister. »Unglücklicherweise ist er von uns durch die vielen möglichen Zeitlinien getrennt, sodass Merlins Spiegel ihn nicht so ohne Weiteres durchbringen konnte wie Jacob. Ich werde ihn holen müssen. Und das bedeutet, ich brauche den Zeitzug.« Der Waffenmeister sank nicht gerade zu Boden und verbarg sein Gesicht in den Händen, er sah nur so aus, als würde er genau das gerne tun. »Der Zeitzug? Hast du jetzt wirklich auch das letzte Restchen Verstand verloren, Eddie? Du kannst den Zeitzug nicht benutzen. Er ist viel zu gefährlich!« »Bitte versuch es auf jeden Fall«, sagte Harry großzügig. »Wie auch immer es ausgeht, wir werden nur gewinnen können.« »Arroganz ist nicht sehr schmeichelhaft, Harry«, sagte ich leichthin. »Ich weiß, was ich tue, Onkel Jack.« Der Waffenmeister schnaubte laut. »Das wäre das erste Mal. Naja, wenn du schon gehen musst, dann sei bitte so nett, so viele zukünftige Waffen mitzubringen, wie du kriegen kannst.« »Todesjäger«, meinte Roger Morgenstern. »Teufel auch, ein verdammt guter Name.« Kapitel Elf Über die Zeit Als ich endlich so weit war, den Zeitzug zu benutzen, war mir der Innere Zirkel dicht auf den Fersen. Glücklicherweise konnte ich sie abhängen, indem ich richtig schnell lief und all meine Kenntnisse über Abkürzungen und Geheimgänge im Herrenhaus ausnutzte. Sie hätten es wirklich besser wissen müssen, als mir zu befehlen, unter keinen Umständen den Zeitzug zu benutzen. Ich hatte schon immer dieses Problem mit Autoritätspersonen, selbst jetzt, wo ich selbst eine war. Ich ließ ihre erhobenen Stimmen hinter mir und rannte schnell in den hinteren Teil des Herrenhauses, wo sich der alte Hangar befand. Dort bewahrte die Familie die ausrangierten technischen Mirakel auf, die wir heutzutage aus weiser Voraussicht lieber nicht mehr verwenden. Durch meinen silbernen Torques hindurch stellte ich eine Verbindung mit Seltsam her. »Hallo, du!«, sagte Seltsam. »Wusstest du, dass der Seneschall dich sucht? Und der Rest deines Inneren Zirkels?« »Diese Tatsache ist mir nicht entgangen«, sagte ich. »Du musst mir eine Ablenkung verschaffen. Spielst du mit?« »Ja, klar! Ich könnte etwas Spaß gebrauchen. Deine Familie ist wirklich ganz toll, Eddie, aber die meisten von ihnen sind wirklich sehr ernst.« »Glaub mir, das wusste ich. Okay, ich brauche dich, um die Nachricht zu übertragen, dass jedes Familienmitglied seinen neuen Torques bekommt. Der Innere Zirkel und ich haben das gerade beschlossen. Bist du immer noch damit einverstanden?« »Ja, sicher, je mehr, desto lustiger, sage ich immer.« »Gut, dann verbreite die gute Nachricht mal und sag jedem, dass sie genau jetzt ins Sanktum kommen sollen.« Ich grinste. »Das sollte die Korridore prima blockieren und den Zirkel davon abhalten, sich in das einzumischen, was ich gerade vorhabe.« »Oje«, sagte Seltsam. »Willst du wieder etwas Verzweifeltes und Gefährliches tun?« »Natürlich. Pass auf den Laden auf, während ich weg bin, Seltsam.« »Bitte, nenn mich Ethel.« »Nur über meine absolut tote Leiche.« Ich schaffte es, die Hauptkorridore, die sich schon mit jubelnden Familienmitgliedern füllten, zu vermeiden, bis ich endlich in den hinteren Teil des Herrenhauses kam. Zu meiner Überraschung wartete Molly dort bereits auf mich. Sie begrüßte mich mit einer liebevollen Umarmung und einem selbstzufriedenen Lächeln. »Woher wusstest du, dass ich hier sein würde?«, fragte ich. »Ehrlich Süßer, ich bin eine Hexe, schon vergessen? Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber mit Penny zu reden, hat etwas mehr Zeit in Anspruch genommen. Aber ich glaube, ich hab's geschafft, etwas Verstand in ihren hübschen kleinen Kopf zu prügeln. Niemand ist sturer als ein heimlicher Romantiker. Besonders keiner, der es auf sich genommen hat, das Unerlösbare zu erlösen.« »Also hat sie zugestimmt, Mr. Stich nicht mehr zu treffen?« »Naja, nicht ganz«, sagte Molly. »Das Beste, was ich erreichen konnte, war das Versprechen, ihn nicht mehr allein zu treffen.« Ich nickte widerwillig. »Penny ist schon immer halsstarrig gewesen. Ein Familienerbe. Ich habe sowieso keine Ahnung, was sie in ihm sieht.« »Ich denke, es ist wie bei diesen traurigen, verzweifelten Frauen, die Serienkiller im Gefängnis heiraten wollen. Frauen glauben immer, sie können einen Mann ändern und mit der Kraft ihrer Liebe das Gute in ihm zum Vorschein bringen. Einige sehen das als Herausforderung, vermute ich. Und Mr. Stich hat dieses dunkle, gefährliche Verletzten-Ding, das für ihn spricht. Ich weiß, ich weiß, sieh mich nicht so an, ich weiß, dass er seit über einem Jahrhundert Frauen abschlachtet und zermetzelt - aber da ist mehr an ihm dran als nur das, Eddie. Ich habe ihn gute Dinge tun sehen. Und du auch.« »Er ist Mr. Stich. Er tötet Frauen. Das ist, was er tut. Wenn er Penny etwas antut …« »Das wird er nicht. Er hat nie einen meiner Freunde angerührt.« »Wenn er sie tötet, dann töte ich ihn. Egal, ob er dein Freund ist oder nicht.« »Wenn es so weit ist, dann helfe ich dir«, sagte Molly. »Also, warum sind wir hier, Eddie?« Ich wies auf den langen Hangar aus Glas und Stahl, der groß und stolz hinter dem Herrenhaus stand, auch wenn er noch ein gutes Stück entfernt war. Es handelte sich um eine geräumige Konstruktion aus Stahlträgern mit einem gewölbten Glasdach, groß wie mehrere Fußballfelder. Die Familie macht keine halben Sachen, selbst wenn es um Museen geht, die kaum noch einer besucht. Ich hakte Molly unter und führte sie zum offenen Eingang. »Ich habe einen sehr nützlichen Verbündeten in der Zukunft geortet«, sagte ich. »Unglücklicherweise ist er so weit von uns entfernt, dass wir ihn persönlich holen müssen. Und dafür brauchen wir den Zeitzug.« »Nur wir beide?«, fragte Molly. »Nun«, sagte ich. »Ich habe nach Freiwilligen gefragt, aber die Antwort war enttäuschend. Offenbar hatte jeder andere mehr Verstand. Zeitreisen sind immer gefährlich und keiner hat seit Ewigkeiten den Zeitzug benutzt. Wahrscheinlich aus gutem Grund. Es ist nicht gerade … das verlässlichste Gerät, das die Familie je gebaut hat. Wenn du also lieber hierbleiben willst, dann verstehe ich das ziemlich gut. Ich würde selbst hierbleiben, wenn ich jemanden fände, der bescheuert genug ist, das an meiner Stelle zu tun.« Molly kuschelte meinen Arm fest an ihre Seite. »Glaubst du wirklich, ich würde dich ohne mich irgendwohin gehen lassen?« Ich grinste. »Ich glaube, das hat eher etwas mit all den neckischen Sachen zu tun, die ich benutze.« »Du romantischer kleiner Teufel, du. Sag mir mehr schmeichelhafte Sachen mit deiner Silberzunge, ja?« »Für immer vereint, wie ist es damit?« »Für immer und immer und immer.« Ich führte sie in den langen Hangar hinein. Es ist ein riesiger Ort, vollgepackt mit all den frühen technologischen Wundern, die über die Zeitalter von den Waffenmeistern der Familie als fixe Ideen gebastelt wurden. Man musste es zugeben: Sowohl das Museum als auch seine Ausstellungsstücke hatten schon bessere Tage gesehen. Die inneren Wände waren zerbrochen und trübe, gedämpftes Sonnenlicht schien durch die Glasscheiben, die von Alter und Vernachlässigung düster und fleckig geworden waren. Es war nur mehr ein Lagerraum für Sachen, deren Zeit abgelaufen war. Seltsame und wunderliche Artefakte, die einmal ihrer Zeit voraus gewesen und jetzt überholt und vergessen waren. Wie zum Beispiel die 1880er Mondlanderakete, die nur einmal benutzt worden war. Und das überdimensionale Grabschiff, eigentlich nur eine Stahlkabine mit einem verdammt großen diamantenbesetzten Bohrer, der sich an der Nase des Schiffs erhob. Es war konstruiert worden, um das Innere der Erde in jener Zeit zu erforschen, als die Leute noch daran glaubten, dass die Erde hohl sei. Das riesige Schiff vor uns war eigentlich Gräber II, das gebaut worden war, damit die Familie nach Gräber I suchen konnte. Am Ende war es nie benutzt worden, weil wir den Tunnel, den es gegraben hatte, wieder hatten zuschütten müssen, als etwas wirklich Großes und Widerliches aus den Tiefen versucht hatte, es als Ausgang zu benutzen. »Und wir hatten mal so eine riesige mechanische Spinne«, erzählte ich, als ich Molly die Exponate zeigte. »Wir bekamen sie von einem verrückten amerikanischen Genie, damals im Wilden Westen. Ich bin aber nicht ganz sicher, was damit passiert ist. Ich glaube, sie ist weggelaufen.« »Jungs und ihre Spielzeuge«, sagte Molly und lächelte entzückt. »Als Nächstes wirst du mit der Größe deiner Maschinen angeben. Warum behaltet ihr all das Zeug, wenn ihr es doch nie wieder benutzt?« »Weil die Familie nichts mehr loslässt, was ihr einmal gehört. Außerdem: Das ist Geschichte. Es ist interessant, um nicht zu sagen, lehrreich. Und man weiß nie, wann man so etwas wieder brauchen kann. Besser, etwas zu haben und nicht zu gebrauchen, als etwas zu brauchen und nicht zu haben. Wie den Zeitzug. Ich erinnere mich nur daran, dass er hier ist, weil ich gern von solchen Dingen gelesen habe, als ich noch ein Kind war.« Wir waren nicht allein im Hangar. Ungefähr ein Dutzend Männer und Frauen in dreckigen Overalls wuselten zwischen den Exponaten hin und her, bastelten daran herum oder polierten und säuberten sie so gründlich, dass sie wahrscheinlich nur einen Zentimeter im Leben schafften. Keiner von ihnen achtete auf uns, solange wir einen respektvollen Abstand einhielten. Molly wies auf sie und hob eine Augenbraue. »Enthusiasten«, sagte ich. »Sie alle melden sich freiwillig, um hier in ihrer Freizeit zu arbeiten. Alle sind besessen von einer bestimmten Periode oder einem Gerät. Sie halten die Exponate aus Spaß an der Freud' in Ordnung. Wenn du auch nur das leiseste Interesse am Objekt ihres Stolzes oder ihrer Freude zeigst, kauen sie dir ein Ohr ab.« »Also, dann lass mich mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe«, sagte Molly. »Dieser Zeitzug, den du benutzen willst: Seit Ewigkeiten hat ihn keiner aus diesem Hangar geholt, er ist verdammt gefährlich, selbst wenn er super funktioniert und die einzige Garantie, dass er überhaupt funktioniert, sind irgendwelche Amateurtechniker? Hab ich noch was vergessen? Das erfüllt mich nicht gerade mit vollem Vertrauen, Eddie.« Wir hatten den Zeitzug erreicht, und die schiere Größe des Dings ließ alle anderen Ausstellungsstücke zwergenhaft klein erscheinen. Der Zeitzug selbst bestand aus einer großen, schwarzen, altmodischen Dampflok, glänzend und schimmernd wie die Nacht, mit luxuriösen Silber- und Messingbeschlägen, die alle zu einem warmen Glänzen gewienert und poliert worden waren. Ein halbes Dutzend Pullmann-Waggons, in warmem Schokoladenbraun und Sahneweiß angestrichen, waren hinter den Kohlewagen gehängt. Ein schneller Blick hinter die zugezogenen Fenster der Luxus-Waggons enthüllte eine völlig andere Sitzwelt, deren Qualität den Orientexpress zu seinen besten Zeiten beschämt hätte. Die Familie hatte noch nie an halbe Sachen geglaubt. Die große schwarze Lokomotive türmte sich über uns auf wie ein schlafendes Monster, das nur darauf wartete, geweckt zu werden. Im Führerhaus erschien auf einmal ein großes, schlaksiges Individuum und lächelte strahlend auf uns herab. »Ach hallo!«, sagte er. »Besucher, wie schön! Wir bekommen ja nicht viel Besuch, der alte Ivor und ich. Ivor ist die Maschine, wisst ihr.« »Ja«, sagte ich. »Ich hatte so das Gefühl, das sei sie. Molly, erlaube mir, dir den einzigen wirklichen Experten für Dampfloks der Familie vorzustellen: Tony Drood. Der Letzte in einer langen Reihe solcher Enthusiasten, stimmt's, Tony?« »Aber ja«, sagte er und kletterte dann behände die glänzende Stahlleiter an der Seite des Führerhauses herunter zu uns. Er musste Ende fünfzig sein, auch wenn sein Haar verdächtig schwarz geblieben war. Er trug ziemlich dreckige Arbeitskleidung und seine Hände und sein Gesicht trugen Schmutzflecken von der Arbeit, mit der er gerade beschäftigt war. Endlich stand er vor uns, lächelte und legte verlegen den Kopf etwas schief. »Eine Ehre, euch beide zu treffen, Eddie und Molly. Ich kann mich nicht erinnern, wann uns das letzte Mal jemand Wichtiges besuchen kam, was, Ivor, alter Junge?« Er hob die Hand und tätschelte die gewölbte schwarze Stahlwand. »Ivor ist sehr … beeindruckend«, sagte Molly und Tony strahlte sie an, als hätte sie gerade einen Dorn aus seiner Pfote gezogen. »Beeindruckend ist er in der Tat, Miss Molly, und das ist nicht gelogen. Ich habe es zu meiner Aufgabe gemacht, dass er fleckenfrei bleibt und jederzeit perfekt funktionstüchtig ist, damit es losgehen kann, sobald ich Bescheid bekomme.« »Jederzeit bereit, überall hinzufahren?«, fragte ich. »Selbst in die ferne Zukunft?« »Jede Zeit steht dir zur Verfügung«, sagte Tony ein wenig großspurig. »Ivor kann dich an den Anfang der Welt bringen oder jede Zeitlinie die Zukunft hinauf. Du weißt natürlich, dass es parallele Zukunftsstränge gibt? Aber natürlich wisst ihr das - wir haben ja alle Star Trek gesehen. Auch wenn ich immer die Originalserie am besten fand. Wo war ich? Ach ja, Ivor ist voll funktionsfähig und ganz scharf drauf, loszufahren! Er ist sozusagen der Millennium Falcon unter den Dampfloks!« »Aber er ist schon etwas … altmodisch, oder?«, meinte Molly. Tony warf ihr einen bösen Blick zu. »Hör nicht auf sie, Ivor! Sie ist ein Banause und weiß es nicht besser. Miss Molly, Sie sollten wissen, dass diese Maschine in einer Zeit gebaut wurde, in der man Fachwissen hatte und sein Handwerk ebenso wie Effizienz noch beherrschte. Das ist kein modernes, seelenloses Gerät, das ist Ivor, der Zeitzug! Ein komfortabler und zivilisierter Weg, in der Zeit zu reisen. Ich sage Ihnen, Miss Molly, Ivor könnte die Familie immer noch stolz machen, wenn er nur eine winzige Chance bekäme!« »Lustig, dass du das sagst, Tony«, sagte ich. »Wie sich herausgestellt hat, bist du in der Lage, mir und der Familie einen großen Dienst zu erweisen. Ich denke, es ist allerhöchste Eisenbahn, dass Ivor ein kleiner Trip erlaubt wird.« Tony grinste so breit, dass es ihm in den Wangen wehtun musste und rang tatsächlich mit den Händen vor Begeisterung. »Sag nur ein Wort, Edwin! Ein Leben lang habe ich auf die Chance gewartet, mit dem alten Jungen rauszufahren und zu zeigen, was er drauf hat! Keiner in der Familie hat eine Nutzung des Zeitzugs autorisiert, seit mein Großvater das letzte Mal mit ihm fuhr und das war am Ende des neunzehnten Jahrhunderts.« Sein Gesicht wurde lang und er sah etwas schuldbewusst zu Molly und mir. »Das war schon eine unglückliche Sache damals. Irgendwie schon ein Desaster, um ehrlich zu sein. Die vorvorvorletzte Matriarchin, Catherine Drood war's. Sie hatte die fixe Idee, dass einer der Alten wieder erwachte, irgendwo unten auf irgendeiner obskuren Insel auf der Südhalbkugel der Erde. Und das Einzige, was ihr einfiel, war, dass Großvater mit einem Team von Experten den neu entwickelten Zeitzug in die jüngste Vergangenheit fahren sollte, um den Alten zu vernichten, bevor er so richtig aufwachen konnte. Natürlich ging das alles fürchterlich schief. Es stellte sich heraus, dass die Energien von Ivors Ankunft den Alten überhaupt erst weckten. Eins führte zum anderen und am Ende hatten Großvater und sein Team keine andere Wahl, als die ganze verdammte Insel in die Luft zu sprengen, damit der Alte wieder in seiner Gruft verschwand und diese versiegelt wurde. Der Name der Insel war Krakatau. Wie auch immer, Ivor hat die ganze Schuld gekriegt, was wirklich unfair war. Er ist seitdem in Ungnade gefallen.« »Stopp mal«, sagte Molly. »Wenn keiner den Zug seit dem neunzehnten Jahrhundert gefahren hat, heißt das, dass du ihn auch nie selbst gefahren hast?« »Naja, so gesehen nicht«, sagte Tony. »Aber ich weiß alles, was ich wissen muss! Die Pflege und die Bedienung von Ivor sind heilig und werden treuhänderisch weitergegeben, Miss Molly; von Vater zu Sohn, seit Generationen. Eine Familie in der Familie, könnte man sagen. Seid sicher, dass ich jede einzelne Bedienungsanleitung gelesen habe, und die Tagebücher meines Großvaters, und ich weiß genau, wie Ivor innen und außen zusammengesetzt ist. Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Molly! Der alte Ivor zerrt schon an den Zügeln und will loslegen! Stimmt's, alter Junge?« Er tätschelte den schwarzen Stahl wieder vertraulich und Molly und ich zuckten zusammen, als Ivor einen plötzlichen Dampfstoß aus einem Ventil schickte, als wolle er antworten. Vielleicht war es eine Antwort. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass die Familie etwas gebaut hatte, das einen eigenen Verstand besaß. Nein, lassen Sie mich gar nicht erst von diesem empfindungsfähigen Wasserspender anfangen, der erkennen sollte, wann man durstig war. Er ertränkte drei Leute, bevor wir ihn zu Boden ringen konnten. »Also los«, sagte ich munter. »Dann lass mal Dampf in den Kessel oder was auch immer du tun musst. Und dann volle Kraft voraus in die Zukunft!« Tony sah mich mit einem Ausdruck an, der ziemlich leer war. »Du meinst - jetzt sofort?« »Keine bessere Zeit als jetzt«, erwiderte ich. »Und … da gibt's ein paar Leute, die vielleicht mit uns reden wollen, bevor wir losfahren und ich habe ehrlich gesagt, keine Lust, mit ihnen zu reden. Also je schneller wir aufbrechen, desto besser. Das ist doch kein Problem, oder?« »Aber nein, Edwin! Gar nicht! Alle Zeitreiseregeln besagen, dass wir nur ein paar Sekunden nach dem Aufbruch wieder hier sein können. So würdest du nicht verpassen, mit den anderen zu reden!« »Wie erfreulich!«, meinte ich. »Los geht's, Tony.« »Sagen Sie nichts weiter, Sir!«, sagte Tony und salutierte begeistert vor mir. Er hastete die Leiter ins Führerhaus hoch und explodierte dabei fast vor Freude und nervöser Energie. Das war sein Moment, die große Chance, die endlich gekommen war, und er konnte nicht abwarten loszulegen. Jeder, der weniger enthusiastisch gewesen wäre, hätte mir wahrscheinlich eine ganze Menge Fragen gestellt, auf die ich überhaupt keine guten Antworten gehabt hätte. Ich fühlte mich ein wenig schuldig, weil ich Tony austrickste, aber nur ein bisschen. Ich hatte schon zu viele andere Dinge, wegen derer ich mich schuldig fühlen musste. Ich brauchte den Krieger namens Todesjäger; die Familie brauchte ihn, und das war alles, was zählte. Molly und ich folgten Tony die enge Stahlleiter hinauf und in das überraschend geräumige Führerhaus. Wir traten zurück, als Tony von einem Stahlhebel zum anderen hastete, sie mit ansteckender Begeisterung und angemessener Fröhlichkeit vor- und zurückschob. Nichts geht über das Beobachten eines Enthusiasten, der damit angibt, was er am besten kann. Er lehnte sich vor, um eine Reihe von altmodischen Messgeräten zu kontrollieren, die sich über dem Hauptkessel befanden und tippte ein paar mit seinem Zeigefinger an, bevor er sich breit lächelnd umdrehte. »Ich halte immer einen bestimmten Druck aufrecht«, sagte er stolz. »Teilweise, weil es gut für den Kessel ist, teilweise, um auch wirklich bereit zu sein, falls uns der Ruf ereilt … Erlaubt mir, ein paar Minuten lang ein wenig Kohle nachzuschaufeln und dann können wir losfahren! Oh ja!« »Wo sind die Schienen?«, fragte Molly und lehnte sich gefährlich weit aus dem Fenster des Führerhauses, bevor ich sie zurückziehen konnte. »So wie ich es verstehe, gibt es keine«, sagte ich. »Ivor reist in der Zeit, nicht im Raum.« Ich sah zu Tony hinüber. »Du kannst die Waggons hier lassen. Wir werden sie nicht brauchen.« Sein Gesicht wurde lang. »Aber … sie sind sehr bequem! Eigentlich geradezu kuschelig. Ich poliere den Stahl jeden Tag!« »Trotzdem«, sagte ich fest. Tony schmollte und ging dann nach hinten, um die Waggons abzuhängen. Ich sah die verschiedenen Messgeräte an, aber sie sagten mir nichts. Und trotzdem konnte ich etwas fühlen. Mir war, als baue sich ein bestimmter Druck auf, als sammle sich eine kontrollierte Macht. In Ivors Führerhaus zu stehen, war, als stünde man im Maul eines großen Monsters, das langsam erwachte. Tony kam ins Führerhaus zurückgesprungen, öffnete die Klappe zum Schlepptender und begann, etwas, das ganz so aussah wie Kohle, in die offene Heizkammer zu schaufeln. Molly und ich sahen ihm eine Weile dabei zu. »Entschuldige«, sagte Molly. »Aber … wie genau hilft uns das Druckaufbauen in einem Dampfkessel dabei, in der Zeit zu reisen?« »Oh, das ist keine Kohle, Miss Molly«, sagte Tony und schaufelte noch kräftiger. »Das sind kristallisierte Tachyonen.« Mollys skeptischer Gesichtsausdruck verstärkte sich. »Aber … Tachyonen sind doch Partikel, die nicht langsamer als Lichtgeschwindigkeit sind, also …« »Frag nicht«, sagte ich freundlich. »Ich finde es immer besser, nicht zu fragen, wenn man mit so etwas zu tun hat. Die Antworten regen einen nur auf. Allein schon, mir die Probleme vorzustellen, die mit Zeitreisen einhergehen, macht mir Kopfschmerzen. Ich will ganz bestimmt keine Vorlesung über Quantendampfmechanik hören und du bestimmt auch nicht.« Es dauerte nicht lang, bis das, was man für Dampf halten konnte, sich zu vollem Druck aufgebaut hatte. Tony legte schließlich seine Schaufel weg, schlug die Klappe zum Ofen zu und wischte sich den Schweiß mit einem rot gepunkteten Taschentuch von der Stirn. »Alles klar, Miss Molly und Herr Edwin. Aber jetzt brauchen wir ein genaues Ziel, Ivor und ich, wenn wir in zukünftige Zeitlinien reisen. Wir brauchen korrekte räumliche und temporale Koordinaten.« Ich nahm Merlins Spiegel heraus und instruierte ihn, Ivor zu zeigen, wo und wann er Giles Todesjäger finden konnte. Der Spiegel wand sich sofort aus meiner Tasche, dehnte sich gleichzeitig aus und schoss durch die Luft, bis er schließlich über dem anderen Ende des Hangars hing und den ganzen Eingang ausfüllte. »Ich denke, er will uns zeigen, wo es langgeht«, sagte ich. »Das Ding jagt mir langsam richtig Angst ein«, sagte Molly. »Nichts sollte all das können, was dieser Handspiegel da kann. Nicht einmal, wenn Merlin Satansbrut ihn gemacht hat.« »Pscht«, sagte ich. »Er könnte dich hören.« Ich wandte mich zu Tony um. »Fahr mit Ivor auf das Portal zu, das der Spiegel da geöffnet hat. Dann wird der ihm alle Koordinaten geben, die er braucht.« »Ich weiß nicht«, sagte Tony zweifelnd. »Tu's einfach«, sagte ich. »Das ist nicht verrückter als alles andere hier.« »Ein Mann nach meinem Herzen!«, sagte Tony. »Volldampf voraus, Ivor! Warp Sechs und spar nicht mit Tachyonen!« Der Zeitzug setzte sich in Bewegung und ließ uns für einen Moment kurz taumeln. Ivor tuckerte laut und mit Mühe und blies so etwas wie Dampf aus seinem Schornstein aus. Tony schoss vor und zurück, warf hier und dort einen Hebel um und beobachtete gleichzeitig aufmerksam all die Messgeräte und Anzeigen. Man hatte nicht unbedingt das Gefühl, vorwärts zu fahren, aber der Hangar verschwand langsam hinter uns, je weiter wir in der Zeit vorrückten. Molly und ich hielten uns an den Seiten des Führerhauses fest und sahen über Ivors spitzen Bug, dass wir unaufhaltsam auf Merlins Spiegel zufuhren, der immer noch vor uns in der Luft schwebte und größer und größer zu werden schien, größer als der Hangar eigentlich sein konnte. Es gab kein Anzeichen für eine Oberfläche des Spiegels, keine Reflexion, kein Anzeichen der Zukunft, in die wir wollten, … nur endlose Nacht, unberührt von Mond oder Sternen. Und dann ruckte der Zeitzug nach vorn, Tony jubelte laut vor Begeisterung und wir tauchten in Merlins Spiegel ein, der uns im nächsten Moment verschluckt hatte. Zuerst war es wie in einem Tunnel. Dunkelheit um uns herum, während eine kleine, altmodische Petroleumlampe das Führerhaus in goldenes Licht tauchte. Das einzige Geräusch war Ivors kraftvolle Maschine, als wir in die Dunkelheit eintauchten. Und dann kamen einer nach dem anderen die Sterne heraus, einzeln oder zu zweit, dann zu Dutzenden, bis wir von großen, wogenden Ozeanen von Licht umgeben waren. Jetzt war es, als führen wir durchs Weltall, aber nicht durch eines, das ein Astronaut gesehen hätte. Statt der bekannten Sternbilder gab es große Meere von Sternen, die in einem Licht strahlten, das beinahe zu rein und schön war, als dass man es ausgehalten hätte. Kometen segelten an Ivor vorbei, in bunten Farben, wie die Süßigkeiten, die wir als Kinder gemocht hatten. Sie segelten in eleganten Bögen vorbei, die zu Ivors gerader und stetiger Fahrt in scharfem Gegensatz standen. Seltsame Planeten, die zu keinem normalen Sonnensystem gehörten, drifteten vorbei; merkwürdig und unheimlich. »Wenn das das Weltall ist«, brachte Molly schließlich hervor, »und ich bin fast der Ansicht, dass es das nicht ist, … wie kommt es, dass wir atmen können?« »Ivor hat eine Menge Talente und viele Geheimnisse«, sagte Tony großspurig. »Sie sind ganz sicher, Miss Molly, solange Sie im Führerhaus bleiben.« »Aber wo genau sind wir?«, fragte ich. Tony zuckte mit den Achseln. »Ich habe alle Bücher gelesen, aber ich muss sagen, dass keiner so recht sicher ist, wodurch Ivor genau hindurchreist. Mein Großvater, der Letzte, der Ivor wirklich gefahren hat, sagte, dass es Zeit und Raum sind, wie man sie von der anderen Seite sieht. Was auch immer das heißen mag. Es gibt andere Theorien, die vermuten, dass Ivor durch das Universum unter uns fährt. Oder möglicherweise das darüber. Glaubt das, was euch am sichersten vorkommt, das ist es, was ich meine.« Ich sah Molly an. »Gespräche wie diese haben die Familie überzeugt, von Zeitreisen lieber die Finger zu lassen.« »Pah!«, sagte Tony. »Die haben einfach keinen Sinn fürs Abenteuer.« »Moment«, sagte Molly. »Was ist das da?« Wir alle sahen in die Richtung ihres ausgestreckten Zeigefingers. Eine große, gelbe Form wischte schnell durch den sternenübersäten Himmel direkt auf uns zu. Als es näher kam, entpuppte es sich als ein riesiger gelber Drache. Beunruhigend groß, hundertmal so groß wie Ivor, sah er aus wie eine grellgelbe Banane, am ganzen langen Körper mit neonpinkfarbenen Fleckzeichnungen übersät. Der Kopf war flach und knochig, mit einer Reihe von glühenden roten Augen über einem klaffenden Maul, das mit spitzen, haiähnlichen Zähnen vollgepackt war. Große, hautähnliche Flügel breiteten sich auf jeder Seite des bulligen Rumpfes aus. Er hatte kurze Greifarme, die am Hals unter dem Maul begannen und mit bösartigen, gebogenen Krallen bewehrt waren. Der Drache schoss in einer langen Ellipse an uns vorbei und aus der Nähe gesehen war allein sein Kopf größer als Ivor. »Ich warte immer noch auf eine Antwort«, sagte Molly. »Irgendeine. Was zur Hölle ist das für ein Ding?« »Woher soll ich das wissen?«, erwiderte ich ein wenig unwirsch. »Ich habe nicht daran gedacht, das Buch zur Beobachtung von Raumdrachen mitzunehmen. Er lebt offenbar hier und es sieht nicht gerade aus, als freue er sich über Besuch. Lasst uns fest daran glauben, dass er erst kürzlich gefressen hat.« »Das ist wirklich ein riesiger Bastard«, sagte Tony. »Glaubt ihr, dass er versuchen könnte, Ivor zu schaden?« »Vielleicht hat er noch nie Dosenfutter gesehen«, meinte Molly. »Er ist größer als wir und er hat wirklich fiese Zähne und Klauen«, sagte ich. »Ich würde drauf wetten, dass er kein Vegetarier ist.« »Ist Ivor bewaffnet?«, fragte Molly. »Hast du irgendwelche Waffen an Bord?« »Es gibt ein paar Verteidigungssysteme«, meinte Tony und sah mich an. »Unglücklicherweise sind die alle in den Waggons.« »Ich wusste irgendwie, dass alles meine Schuld ist«, erwiderte ich. Der Drachen schwang sich herum und kam direkt auf uns zugeflogen; die riesigen Kiefer öffneten sich weiter und weiter, als plane er, Ivor im Ganzen zu verschlucken. Vielleicht brüllte oder heulte er, aber ich hörte nichts. Die absolute Stille ließ die Situation nur noch albtraumhafter erscheinen. Ich zog meinen Revolver und feuerte die Waffe wieder und wieder auf den massigen Kopf ab. Jeder Schuss traf, aber die Kugeln waren einfach zu klein, um der monströsen Kreatur wirklich zu schaden. Tony riss mit beiden Händen einen langen Stahlhebel komplett herum und Ivor tat mit neuer Kraft einen Satz nach vorn. Der Drache schoss an uns vorbei, beinahe unmöglich groß, und eine gelbe Pfote kratzte über Ivors schwarze Stahlflanke. Riesige Schauer von schweigenden Funken flogen in die Finsternis, als diamantenscharfe Klauen lange Furchen in Ivors Seite rissen. Der stieß einen langen Dampfstrahl aus wie einen Schrei. Das Führerhaus ruckte von einer Seite zur anderen und Molly und ich mussten uns an den Seiten der Kabine festhalten, um nicht herausgeschleudert zu werden. Tony schrie lauthals einige Obszönitäten und riss wütend an seinen Hebeln herum. Molly schrie mich an. »Lenk das verdammte Ding ab, während ich mir einen Zauber überlege!« »Ihn ablenken? Was willst du, das ich tue? Meine Hosen runterlassen und ihm meinen Hintern präsentieren?« »Mach einfach was!« Ich schnappte mir die Seite des Führerhauses mit beiden Händen und lehnte mich zwecks besserer Sicht nach draußen. Der riesige gelbe Drache wandte sich schon wieder um und flog einen neuen Angriff. Ich zog wieder den Revolver, zielte sorgfältig und schoss die glühenden Augen des Drachen heraus, eines nach dem anderen. Die schrecklichen Kiefer der Kreatur öffneten sich in einem Aufheulen von Wut und Schmerz noch weiter, das ich wenn schon nicht hören, so dennoch spüren konnte. Es fühlte sich wie Fingernägel auf der Tafel meiner Seele an. Der Drache schüttelte seinen Kopf hin und her, als wolle er versuchen, den plötzlichen Schmerz und die Blindheit loswerden, aber er kam immer noch auf uns zu, direkt in unsere Richtung. Er wurde einfach immer größer und größer und versperrte uns die Vordersicht, bis seine gelbe Gestalt die Sicht komplett ausfüllte. Und dann lehnte sich Molly aus ihrer Seite des Führerhauses hinaus, stieß mit einem einzelnen Finger in Richtung des Drachen und sprach einige unerfreuliche Worte der Macht. Der schreckliche Laut der Worte schien sich in der Stille endlos fortzupflanzen und der Drache schien auf einmal gar nicht mehr so groß und beeindruckend. Zappelnd und bebend schrumpfte er schnell, wurde kleiner und kleiner, und als er wieder dicht bei Ivor war, war er nur noch so groß wie ein Insekt. Es flatterte um unsere Köpfe, summte wütend und Molly langte nach vorn und zerquetschte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Und das war's. Molly wischte sich die Hand an der Hüfte ab und lächelte mich süß an. »Du hättest dich daran erinnern können«, sagte sie. »Im Raum ist alle Größe relativ.« »Manchmal machst du mir Angst«, erwiderte ich. Wir fuhren weiter durch einen Raum, der keiner war, und sahen viele seltsame und wundersame Dinge. Planeten kamen und gingen an uns vorbei. Ein Planet öffnete sich wie ein Auge und starrte uns kalt an, als wir vorbeiflogen, ein anderer hatte ein Dutzend Ringe, die sich wie verrückt um ihn herum drehten, alle mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und in unterschiedliche Richtungen. Er sah aus wie ein großes Spielzeug-Uhrwerk, das man zu Beginn des Universums in Gang gesetzt hatte und das nun langsam ablief. Ein anderer Planet öffnete sich auf einmal wie eine Blume und Hunderte von langen Tentakeln sprossen heraus. Sie hangelten und griffen nach Ivor, um den Zug zu sich heranzuziehen. Tony schickte Ivor weiter auf seinem Kurs hierhin und dorthin. Mit bedachtem Verwenden der Hebel wich er geschickt jedem Tentakel aus, der uns erreichen und sich um uns wickeln wollte. Ein paar schlugen harmlos an Ivors Flanken und Ivor schien bei der Berührung zu zittern. Aber wir ließen den Planeten bald hinter uns und er schloss sich wieder; schmollend zog er die Tentakel wieder zurück. Ein anderer Planet verschwand einfach komplett, als wir herankamen und erschien erst erneut, nachdem wir uns wieder in sicherer Entfernung befanden. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange die Reise dauerte. Es gab genügend Sichtungen und Ereignisse, die das Vergehen der Zeit markierten, aber wir hatten keinen wirklichen Sinn für die Dauer. Es hätten Minuten oder Tage oder Wochen sein können. Ich fühlte mich nie müde oder hungrig oder gelangweilt. Aber endlich begannen die Sterne vor uns zu tanzen und zu wirbeln, flogen in komplizierten Mustern um uns herum und verbanden sich schließlich zu einem enormen Regenbogen unter uns, der aus so leuchtenden und lebendigen Farben bestand, dass sie das Auge blendeten. Es gab Schattierungen und Farbtöne, die in der täglichen und öden Welt keine Entsprechung hatten. Es war das Schönste, was ich je gesehen hatte. Molly und ich klammerten uns aneinander, damit wir angesichts etwas so unmenschlich Schönem einen Halt hatten. Tony hielt sich an Ivor fest. »Was ist das?«, sagte Molly endlich atemlos. »Das ist der Sternenbogen«, sagte Tony, seine Stimme schwach und voller Ehrfurcht. »Ich habe davon in Großvaters Tagebuch gelesen, aber ich hätte mir nie vorgestellt …« »Ich habe davon gehört«, sagte ich. »Aber ich hätte nie erwartet, ihn zu sehen. Es wird erzählt, dass man ihm bis zum Ende des Universums folgen kann und dort vielleicht seinen Herzenswunsch erfüllt bekommt.« »Oh Eddie«, sagte Molly. »Könnten wir nicht …« »Ja«, sagte ich. »Könnten wir. Aber wir müssen woanders hin. Wir haben Pflichten. Und Verantwortung.« »Ja«, sagte Molly und ließ den Sternenbogen nicht aus den Augen. »Wenn wir nur könnten …« »Wenn wir nur könnten«, erwiderte ich. »Das sind immer die schlimmsten Worte. Tony, bring uns hier heraus.« Er beschleunigte und langsam ließen wir den Sternenbogen hinter uns. Manchmal denke ich, dass das Traurigste war, was ich je hatte tun müssen. Endlich erschien wieder Merlins Spiegel vor uns und wir röhrten hindurch. Mit einem Mal waren wir wieder in der Realität angelangt, die wir kannten und zurück in der Zukunft, die ich schon gesehen hatte. Der Zeitzug schien für einen Moment wie ein Stein zu fallen, dann erschien eine große eisige Ebene unter uns und plötzlich fraß sich Ivor durch dicken Schnee. Molly, Tony und ich wurden hin und her geworfen, als Ivors Geschwindigkeit mit fiesen Schocks und Sprüngen langsamer wurde. Tony rang mit beiden Händen die Kontrollen nieder, er schrie und fluchte und endlich kam der Zeitzug zum Stillstand. Es war plötzlich sehr kalt, unser Atem dampfte dick in der Luft. Mein nacktes Gesicht und die Hände brannten in der plötzlichen Kälte, und ich lugte aus dem Führerhaus hinaus, um mich zu orientieren. Diesmal waren wir wirklich auf der fremdartigen Welt mit dem rosafarbenen Himmel und den drei grell scheinenden Sonnen. Die Schneewüste erstreckte sich so weit das Auge reichte. Dünne Nebelschwaden wurden von der eisigen Luft hin und her geweht. »Du bringst mich wirklich an die schönsten Orte, Eddie«, sagte Molly, schlug ihre eiskalten Hände aneinander und blies hinein. »Hey, das ist immerhin eine völlig neue Alienwelt!«, antwortete ich. »Hättest du nicht eine wärmere aussuchen können?« »Jedenfalls sind wir hier richtig«, sagte ich. »Warum bist du so sicher?« »Weil ich die Leichen wiedererkenne.« Sie waren genau so, wie ich sie in Erinnerung hatte, ein Dutzend tote Männer und Frauen, die über den blutigen Schnee verteilt waren. »Das ist das Werk von Giles Todesjäger«, sagte ich. »Er ist wirklich ein Mordskämpfer.« »Könnte auch ein Mordsmassenmörder sein, nach allem, was du weißt«, sagte Molly. »Wo ist er überhaupt?« Ich sah mich um, aber von dem Krieger der Zukunft war nichts zu sehen. Ich begann gerade, mich zu fragen, wie akkurat Ivor und Merlins Spiegel wohl wirklich waren. Wir waren einen langen Weg gekommen und nur ein paar Tage Differenz, nach weiß der Geier wie vielen Jahrhunderten, war zu erwarten. Aber einem Mann auf der Flucht konnte in ein paar Tagen viel passieren, und das meiste davon war schlecht. Aber … Ivor und der Spiegel waren alles, was ich hatte, und so war ich nicht gerade in der Position, mich zu beschweren. Molly und ich kletterten aus dem Führerhaus heraus und wanderten auf die Ebene hinaus. Mit jedem Schritt versanken wir tief im dicken Schnee. Es war bitterkalt, beinahe nicht auszuhalten, so weit weg von Ivors Führerhaus. Aber die pure Anstrengung, die es bedeutete, mir einen Weg durch den Schnee zu bahnen, ließ mich schwitzen. Jeder Atemzug schmerzte in meinen Lungen, und meine Stirn tat weh, als hätte jemand draufgeschlagen. Aber es war immer noch eine fremde Welt, über der drei helle Sonnen von einem leuchtend pinkfarbenen Himmel schienen. Ich setzte Molly das auseinander, aber sie grunzte nur unbeeindruckt und schlang die Arme so eng um sich, als wolle sie die Wärme daran hindern, sie zu verlassen. Ich winkte fröhlich zu Tony zurück und er winkte zurück, aber er machte keine Anstalten, seine geliebte Maschine zu verlassen. Ich trottete durch den Schnee auf die Leichen zu. Sie waren überall, Hunderte von ihnen, die mit verrenkten Gliedern in seltsamen Posen im blutdurchtränkten Schnee lagen. Einigen fehlten die Glieder, anderen die Köpfe. Einige waren ausgeweidet und zerhackt. Aber so aus der Nähe stellte sich heraus, dass meine Identifikation falsch war. Das waren keine Männer in futuristischer Rüstung, ihre Rüstung war Teil von ihnen. Diese Leute waren eine Art Cyborgs, Kompositionen aus Mensch und Maschine. Stahlkabel und kantige, technische Teile, die von totem weißem Fleisch zusammengehalten wurden. Kameras in Augenhöhlen, Gewehre, die direkt in die Hand implantiert waren. Keine zwei Leichen waren gleich, aber sie alle waren offensichtlich Teil des gleichen Prozesses gewesen. Sie sahen so hässlich aus wie die Sünde. Wer auch immer sie zusammengebaut hatte, hatte die Funktion über die Ästhetik gestellt. Die Gesichter waren allerdings durchaus menschlich und das Blut nur allzu vertraut. »Widerliche Verletzungen«, sagte Molly und hielt neben mir an. Sie beugte sich über einen der Toten, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Sie gab sich Mühe, ihn nicht zu berühren. »Aber keine Schusswunden. Diese armen Bastarde sind zu Tode gehackt worden. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass Mr. Stich uns hier eins ausgewischt hat.« »Giles schien das Schwert zu bevorzugen, glaub's oder nicht«, sagte ich. »Er hat ein verdammt großes mit sich herumgetragen, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.« »Man benutzt Schwerter in der Zukunft?«, fragte Molly ungläubig. »Warum hat man dann die Technologie für solche Cyborgs entwickelt?« Ich zuckte mit den Achseln. »Wer weiß schon, was hierzulande normal ist.« Ich sah eine weggeworfene Waffe im Schnee liegen und beugte mich herab, um sie aufzuheben. Die Pistole wog für ihre sperrige Größe unheimlich leicht in meiner Hand. Sie bestand hauptsächlich aus einem stumpfen grünen Metall, über und über besetzt mit glänzenden Kristallen und blinkenden farbig leuchtenden Anzeigen. Aber sie hatte einen Lauf und einen Auslöser und so zielte ich über die Ebene hinweg und feuerte. Ein greller Energieblitz schoss aus der Waffe und schlug ungefähr hundert Meter weiter einen massiven Krater aus dem Schnee. Der Boden bebte für einen Moment unter unseren Füßen und Molly griff nach meinem Arm. All der Schnee, der vaporisiert worden war, ließ dicke spiralförmige Nebelschwaden über dem Krater zurück. Ich klemmte die Strahlenpistole unter den Arm und grinste. »Oh, Onkel Jack wird das Ding lieben.« »Wenn du dich zurückhalten kannst, uns alle in die Luft zu jagen«, meinte Molly trocken. »Tu's weg, Eddie, du kannst später damit spielen.« Ich sah nach einer Sicherung, aber die Waffe schien keine zu haben, also steckte ich sie einfach vorsichtig in meine Jackentasche. Molly kniete sich neben einen der toten Cyborgs. »Meinst du, wir sollten einen von denen mitnehmen? Der Waffenmeister kann vielleicht alles Mögliche mit dieser Technologie anfangen.« Ich dachte kurz darüber nach, aber schüttelte dann energisch den Kopf. »Das fühlt sich zu sehr nach Leichenraub an, denke ich.« »Warmduscher«, sagte Molly. Sie richtete sich wieder auf, doch der Cyborg packte sie plötzlich mit einer toten Hand am Arm. Molly schrie auf, außer sich. Sie zerrte erbittert an ihrem Arm, doch der Cyborg hatte sie fest im Griff. Ich trat schnell vor und trat fest auf die Brust des Dings. Die Rüstung tat mir durch meinen Schuh hinweg weh, aber der Aufprall riss Mollys Arm aus dem Griff des Cyborgs. Jetzt schnappte es nach meinem Bein, aber ich war schon zurückgetreten. Molly strampelte so schnell fort von diesem Ding, wie der Schnee es zuließ und fluchte laut. Der Cyborg setzte sich im blutigen Schnee auf und sah uns beide mit einer toten, ausdruckslosen Miene an. Silberne Muster aus Stromkreisläufen bedeckten seine Braue und führten eine Seite des Gesichts herab. Er hob einen Arm, zeigte auf uns und ein dünnes schwarzes Gehäuse erhob sich geschmeidig aus seinem Handrücken. Ich warf mich selbst in den harschigen Schnee und ein Energieblitz zuckte dort, wo ich gestanden hatte, durch die Luft. Nah genug, dass sich alle Haare auf meinem Körper aufstellten. Ich rollte mich auf die Seite und kam mühsam auf die Beine. Der Cyborg stand mit ruckartigen, zuckenden Bewegungen aus dem Schnee auf und drehte seinen Kopf hin und her. Er suchte ein neues Ziel. Und trotz allem hatte ich nie das Gefühl, das Ding würde leben. Der Mensch war ganz klar tot, seine Augen waren starr und blinzelten nicht, es war nur die Maschine in ihm, die ihn auf den Beinen hielt - vielleicht ausgelöst durch Mollys Nähe. Ich murmelte die aktivierenden Worte und rüstete hoch, einen Moment später flutete die silberne seltsame Materie um mich herum. Sofort war ich vor der Kälte der fremden Welt geschützt, und ich fühlte mich stärker, schneller und fokussierter. Ich rannte mit Leichtigkeit durch den tiefen Schnee direkt auf den Cyborg zu. Er drehte sich schnell um und schoss aus nächster Nähe auf mich. Der Energiestrahl traf mich direkt in meine gerüstete Brust, aber er prallte harmlos ab. Ich entspannte mich etwas. Ich war ziemlich sicher gewesen, dass mich die Rüstung schützen würde, aber es war angenehm, das nun auch zu wissen. Ich packte den bewaffneten Arm des Cyborgs und riss ihn mit einem Ausbruch roher gerüsteter Kraft aus seinem Gelenk. Der Cyborg wankte, aber er schrie nicht und er fiel auch nicht. Er hob jetzt den anderen Arm, also riss ich ihm den auch heraus. Er fiel immer noch nicht, also packte ich mit beiden Händen den Kopf und drehte ihm den auch noch sauber vom Hals. Die Augen starrten mich ohne zu blinzeln an. Der Mund bewegte sich ein paar Mal und war dann still. Ich sah die mechanische Leiche an. Sie stand still da und bewegte sich nicht. Ich warf den Kopf weg. Molly applaudierte, das Geräusch war flach und klein in der weiten Leere. »Hardcore, Eddie.« »Er war ja schon tot«, sagte ich. »Oder wenigstens hoffe ich das. Ich sag dir was: Machen wir um die anderen Leichen einen großen Bogen, ja?« Molly schnüffelte laut und umarmte sich wegen der Kälte immer noch selbst. »Ich mag diesen Ort nicht. Wirklich nicht. Meine Sinne sind übernatürlich, aber auf unsere Welt geeicht, auf die Energie, die allen lebendigen Wesen innewohnt. Und hier empfange ich nichts. Ich weiß, ich weiß, das ist eine außerirdische Welt, aber trotzdem. Ich sollte etwas empfangen, aber Eddie, hier ist nichts Lebendiges. Nichts. Und nicht nur hier, an diesem Ort … Du hast uns auf eine tote Welt gebracht, Eddie. Diese Cyborgs, oder was auch immer sie bekämpft haben, hat alles auf diesem Planeten getötet.« »Das kannst du nicht wissen«, sagte ich. »Vielleicht war's schon eine tote Welt, bevor die herkamen.« »Nein. Das weiß ich. Sie haben alles Lebendige hier getötet, damit sie diese Welt als Schlachtfeld benutzen konnten. Was ist das für eine Zukunft, in die du uns gebracht hast, Eddie? Und welcher Mensch würde so etwas kreieren?« Ich zuckte unbehaglich mit den Achseln. »Ich weiß es nicht! Du kannst doch eine ganze zukünftige Zivilisation nicht nach einer einzigen Welt beurteilen.« »Ich frage mich, wer diese Leute waren«, sagte Molly. »Und gegen wen sie gekämpft haben?« »Giles sagte etwas über den Dienst an einem Kaiser«, sagte ich. »Dann ist das hier bestimmt die Rebellenarmee und nicht die imperialen Streitkräfte.« Molly lächelte zum ersten Mal leicht. »Ich wusste gar nicht, dass du ein Star Wars-Fan bist«, sagte ich und war froh, das Thema wechseln zu können. »Nur die Classic-Episoden.« »Ich habe das mit den Rebellen in diesen Filmen nie verstanden«, sagte ich. »Ich meine, die hatten Rebellen-Stützpunkte auf allen möglichen Rebellenplaneten, und Rebellen-Raumschiffe und Rebellenarmeen und -waffen - aber wer hat eigentlich dafür gezahlt? Wo kam das alles her? Die hatten doch nicht an jeder Straßenecke Freiwillige stehen, die mit Sammelbüchsen gerappelt und gesagt haben: Bitte unterstützen Sie die Rebellion! Darth Vader hätte die alle erschossen.« Und dann sahen wir uns beide an, als das Geräusch herannahender Motoren an unser Ohr drang. Wir sahen über die Schneewüste, wo der Horizont in den Nebeln verschwand. Da war Giles Todesjäger und pflügte mit einer affenartigen Geschwindigkeit durch den Schnee. Schneller, als ich es selbst mithilfe meiner Rüstung geschafft hätte. Und über und hinter ihm folgten ein Dutzend Luftschiffe; fremdartige, elegante Gefährte, die von unbekannten Waffen strotzten und alle zielten auf den rennenden Flüchtling herab. Aber trotz der knisternden Energiestrahlen, die wieder und wieder von den Schiffen auf ihn herunterkrachten, schienen sie der hektisch Haken schlagenden Gestalt unter ihnen nie auch nur nahe zu kommen. Giles Todesjäger war immer irgendwo anders. Die Luftschiffe flogen über ihn hinweg, schwebten durch den pinkfarbenen Himmel und zogen eine weite Schleife, die sie wieder zurückbrachte, um erneut auf ihn zu feuern. Giles hatte mich und den Zug noch nicht gesehen. Er hielt den Kopf unten, konzentrierte sich nur aufs Rennen und darauf, seinen Feinden zu entkommen. Aus den Nebeln hinter ihm kam eine kleine Armee von jadegrün gerüsteten Figuren, die entschlossen durch den schweren Schnee stapften und glühende Energiestrahlen auf den Mann abfeuerten, der vor ihnen davonrannte. Sie waren dabei nicht erfolgreicher als die Gleiter, aber jetzt erschienen rund um Giles lauter Krater, die die Luft mit dem Nebel des vaporisierenden Schnees erfüllten. Ich schrie nach Giles und benutzte dabei die silberne Maske, um meine Stimme zu verstärken. Sein Kopf fuhr herum und er wechselte die Richtung, um genau auf mich und den Zeitzug zu zulaufen und pflügte sich dabei durch den tiefen Schnee, als wäre der gar nicht da. Seine Bewegungen waren unmenschlich schnell. Aber selbst mit seiner Geschwindigkeit und Entschlossenheit war klar, dass wenigstens ein paar seiner Verfolger ihn von uns abschneiden würden, bevor er uns erreichen konnte. Und die Gleiter kamen zurück. »Geh zurück zu Ivor«, sagte ich zu Molly. »Beschütz den Zug, was auch immer passiert, er ist unser einziger Weg nach Hause.« »Verdammt richtig«, sagte Molly. »Das ist wirklich ein lausiger Urlaubsort und leben will ich hier schon gar nicht.« Sie wandte sich wieder der Dampfmaschine zu und bahnte sich einen Weg durch den Schnee, während ich über die gefrorene Ebene zu Giles rannte. Meine gerüsteten Beine stampften durch den Schnee und ließen ihn entlang meines Weges zur Seite fliegen. Die Verfolger sahen mich kommen und schrien einander an. Gott weiß, was sie dachten, das ich bin. Ein paar feuerten ihre Energiewaffen auf mich ab, aber sie kamen mir nicht einmal nahe. Und dann gab es eine Explosion direkt hinter mir und ich blieb abrupt stehen, um mich umzusehen. Die Gleiter hatten den Zeitzug entdeckt, und attackierten ihn mit ihren Strahlern. Ein ganzer Haufen Krater war rund um Ivor aus dem Schnee geblasen worden und sie kamen näher und näher. Ein schimmernder Schutzschild erschien plötzlich rund um Ivor und ich grinste. Molly hatte sich wohl gefangen. Energiestrahlen prallten vom Schild ab, aber jeder Einschlag traf ihn wie einen Hammer und setzte sich wellenförmig durch die Schutzenergien hinweg fort. Und dann trafen einige Strahlen den Schild auf einmal - und einer von ihnen ging hindurch. Er glitt über Ivors schwarze Stahlflanke und er kreischte schrill durch seinen Schornstein. Ich wandte ihm wieder den Rücken zu. Es gab nichts, was ich tun konnte. Entweder würde Molly einen Weg finden, ihren Schild zu verstärken, oder sie würde es nicht. Ich vertraute ihr, dass sie das konnte, also tat ich auch meinen Teil. Ich musste zu Giles und ihn sicher zur Maschine bringen. Ich lief schneller, die silbernen Arme pumpten an meiner Seite und bewegten sich jetzt so schnell, dass ich nicht einmal mehr den Schnee als Hindernis empfand, durch den ich mich kämpfte. Weiter vorn war Giles plötzlich stehen geblieben. Eine ganze Gruppe seiner bewaffneten Feinde hatte sich zwischen ihn und den Zeitzug manövriert. Und mehr und mehr kamen aus allen Richtungen hinzu. Es schienen Hunderte von ihnen zu sein, die triumphierend mit hohen und dünnen Stimmen durch die bitterkalte Luft schrien. Giles sah sich um, ruhig und gemessen. Dann zog er sein langes Schwert. Er war jetzt umzingelt, von einer ganzen Armee, die ihn offensichtlich tot sehen wollte, aber ich konnte nicht die geringste Spur von Besorgnis auf seinem Gesicht sehen. Nur etwas, das auch zufriedene Erwartung hätte sein können. Ich kämpfte mich nach vorn und durch den schwächsten Teil des Kreises und schickte dabei Bewaffnete durch die Luft. Schließlich hielt ich krachend neben Giles an und er sah neugierig zu mir hin, sein Schwert bereit. »Hi«, sagte ich. »Edwin Drood, mal wieder zu deinen Diensten. Ich sagte ja, ich komme wieder.« »Ja«, erwiderte Giles. »Aber das war vor zwei Tagen und drei Nächten. Ich bin meinen Feinden seither ausgewichen, und habe darauf gewartet, dass du auftauchst.« »Ja, na ja, tut mir leid«, sagte ich. »Ich hatte zu tun, du weißt, wie das ist. Und Zeitreisen sind nicht gerade eine exakte Wissenschaft.« »Das wissen wir«, sagte Giles. »Deshalb sind sie ja auch verboten.« Er betrachtete meine Rüstung. »Nettes Outfit. Wie kommt man da raus, mit einem Dosenöffner?« »Zeig ich dir später. Deine Kutsche wartet, sollen wir?« Giles sah sich um. »Diese Gentlemen haben da andere Vorstellungen.« »Ach was, zur Hölle mit denen.« Giles grinste. »Genau das denke ich auch.« Die Bewaffneten hatten schließlich die Nase voll davon, uns reden zu hören und drangen jetzt von allen Seiten auf uns ein. Es waren ganze Haufen von ihnen, aber seltsamerweise hielten sie jetzt Schwerter und Äxte anstelle ihrer Energiewaffen. Das würde Giles mir später erklären müssen. Immerhin waren das diesmal Männer in Rüstungen und keine Cyborgs. Also würden sie wohl tot bleiben, wenn man sie umbrachte. Ich ließ aus meinen gerüsteten Händen lange, silberne Klingen wachsen und Giles und ich stürzten uns auf sie. Es waren bestimmt über hundert; alle schwer bewaffnet und sie kamen von allen Seiten auf einmal. Sie hatten keine Chance. Ihre Schwerter und Schlachtäxte glitten harmlos von meiner Rüstung ab und meine Klingen aus seltsamer Materie schnitten leicht durch jeden Schutz, den sie aufbieten konnten. Ich hackte mit unmenschlicher Geschwindigkeit und Stärke um mich herum. Blut spritzte durch die eisige Luft und dampfte in den Momenten, bevor es den Schnee traf. Männer fielen kreischend und sterbend überall um mich herum. Ich trat sie beiseite, um an meine nächsten Opfer zu kommen. Giles trat und wirbelte herum und schlitzte mit einer Geschwindigkeit, die fast an meine herankam. Seine lange Klinge blitzte in der Luft, während er Männer mit beinahe klinischer Präzision niedermähte. Keiner schaffte es, sich ihm zu nähern. Wir kämpften Rücken an Rücken, manchmal auch Seite an Seite und wir waren nicht zu stoppen. Die Toten stapelten sich um uns herum auf dem aufgewühlten Schnee, der sich vor Blut und Innereien bald dunkelrot färbte. Kreischen und erschrockene Schreie erfüllten die Luft; doch das waren ihre, nicht unsere. Trotz ihrer Überzahl war es kein Kampf. Es war ein Abschlachten. Eigentlich töte ich auf meinen Missionen nicht. In der Regel muss ich das nicht. Die Rüstung verleiht mir eigentlich alle Macht, die ich brauche. Ich habe mich selbst immer als Agent gesehen, nicht als Killer. Das letzte Mal, dass ich hatte kämpfen und töten müssen, war auf der Nazca-Ebene gewesen. Dort hatte ich nicht gezögert, weil die Drohnen der Abscheulichen nicht mehr menschlich gewesen waren. Sie zu töten war das Gleiche, als träte man auf Insekten. Das hier war anders. Giles und ich waren von einer kleinen Armee umgeben, die uns hatte töten wollen. Ivor hatten sie schon verletzt. Unter solchen Umständen übernimmt einfach das Familientraining. Ich tat, was ich tun musste. Ich stach Menschen nieder und rannte sie über den Haufen und die ganze Zeit tat ich mein Bestes, um nichts zu fühlen. Gar nichts. Ich musste vielleicht töten, aber ich hatte mich noch nie dazu bringen können, das auch zu mögen. Giles dagegen mochte es. Er grinste die ganze Zeit fröhlich und lachte manchmal sogar laut, wenn ihm ein besonders erfolgreicher oder anmutiger Angriff gelungen war. Giles war ein Krieger und tat, wozu er geboren war. Das war es ja auch, weswegen ich hierher gekommen war. Die Bewaffneten begannen schließlich, sich zu ihren Strahlenwaffen zurückzuziehen. Aber die gleißenden Blitze prallten harmlos an meiner Rüstung ab und schalteten mit Querschlägern ihre eigenen Leute aus. Keiner von ihnen konnte Giles treffen. Er tanzte und drehte sich im Zentrum der Angreifenden, schlug mit tödlicher Grazie zu, und manchmal fing er sich einen Strahl auf seinen Energieschild ein, den er auf dem Arm montiert hatte. Ich hatte noch nie einen Kämpfer wie ihn gesehen. Und zum Schluss - gaben die letzten Bewaffneten schließlich auf und rannten weg, statt sich uns zu stellen. Sie flohen in ein Dutzend verschiedenen Richtungen über die vereiste Ebene und wir ließen sie davonkommen. Giles senkte ruhig sein Schwert und ich ließ meine Klingen wieder in den silbernen Händen verschwinden. Wir standen nebeneinander und atmeten beide hart vor Anstrengung. Giles schüttelte schwere Blutstropfen von seiner Schwertspitze. Sein Brustharnisch war mit Blut bespritzt, aber es war nicht seins. Auf meiner Rüstung war keines zu sehen, aber das lag nur daran, dass es auf der seltsamen Materie nicht hielt. Giles nickte mich heiter an. Er war schon wieder zu Atem gekommen. »Also, war das gut für dich? Lach mal, Edwin, der Feind ist tot und wir sind am Leben. Es gibt kein besseres Gefühl in der Welt. Du hast das Zeug zu einem Krieger, Edwin Drood. Ein wenig langsam und vorsichtig, aber effizient genug, um zu bestehen.« »Wenn du mir dann zum Zeitzug folgen würdest«, sagte ich ein wenig außer Atem. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir hier abhauen.« »Klingt gut«, sagte Giles. »Ich könnte eine Pause brauchen.« Wir gingen hinüber zu Ivor, der immer noch von Mollys Schutzschild umgeben war. Die Gleiter flogen immer wieder über ihn hinweg, Energiestrahlen fuhren hinab und um die Lok herum. Keiner von ihnen schien hindurchzukommen. Aber der Schnee um die Lokomotive herum war jetzt verschwunden und war bis auf den Felsen darunter verdampft. »Je früher wir hier rauskommen, desto besser«, sagte Giles beiläufig. »Der Kaiser wird Verstärkung hersenden, sobald er davon erfährt, dass ich noch am Leben bin. Er wird eine Armee schicken, wenn es das ist, was mich tötet.« »Hattest du nicht gesagt, dass du dem Kaiser dienst?« »Das habe ich. Aber ich bin im Moment bei Hof in Ungnade gefallen. Das ist kompliziert.« »Irgendwie war mir klar, dass es das ist. Ist vielleicht eine Frau darin verwickelt?« »Ja, woher weißt du das?« Ich musste lächeln. »In sowas ist immer eine Frau verwickelt.« Als wir dicht genug am Zeitzug waren, dass Molly uns sehen konnte, lenkte sie die Gleiter mit projizierten Illusionszaubern ab. Um uns herum erschienen ein Dutzend Ivors und jeder war scheinbar mit einem Schutzschild ausgestattet. Aber die Gleiter verfügten wohl über eine Art Sensoren, denn sie wurden nicht einen Augenblick irregeführt. Sie schossen weiter auf den Schutzschild ein, der den echten Ivor umgab. Auf einmal erschienen ungefähr ein Dutzend gelber Drachen über uns, die sich ganz furchtbar mit dem knatschrosa Himmel bissen. Sie stürzten sich auf die Gleiter, die reflexartig auf sie schossen. Energieblitze flammten über den Illusionen auf und schalteten tatsächlich ein paar der anderen Gleiter aus. Es gab ein paar Explosionen und zerstörte Luftschiffe fielen wie brennende Vögel aus dem Himmel. Mittlerweile hatten Giles und ich den Zeitzug erreicht und Molly öffnete eine Tür im Schutzschild, gerade so kurz, dass wir hindurchschlüpfen konnten. Ich rüstete ab und hielt inne, bevor ich die Leiter zum Führerhaus hinaufkletterte. Der eine Energiestrahl, der durch den Schutzschild geschlagen war, hatte der Länge nach eine tiefe Furche in Ivors schwarze Stahlflanke gegraben und Massen von Dampf oder so etwas in der Art traten aus dieser offenen Wunde aus. Ich hastete die Leiter ins Führerhaus hoch, Giles dicht hinter mir. Tony eilte von einer Anzeige zur nächsten und studierte besorgt die Anzeigen, während Molly im Schneidersitz auf dem Boden saß und konzentriert am Schutzschild arbeitete. »Ich grüße euch alle«, sagte Giles fröhlich. »Arbeitet mein Translator? Gut. Erlaubt mir, mich vorzustellen. Ich habe die Ehre, Giles VomAcht Todesjäger zu sein, Oberster Krieger des Kaisers Ethur, zu Euren Diensten.« »Ganz toll«, sagte Molly ohne aufzusehen. »Und jetzt halt die Klappe, damit ich mich auf das Einzige konzentrieren kann, dass uns davor bewahrt, zu einem Haufen Schrott zerblasen zu werden.« »Ah«, sagte Giles. »Du bist ESPlerin!« »Nein, ich bin eine Hexe.« »Oh, eine von denen …« Bedenkt man die Art, wie er das sagte und nahm dann den Ausdruck auf Mollys Gesicht, war klar, dass diese Konversation nicht gut ausgehen würde und deshalb wandte ich mich an Tony. »Wie schlimm ist der Schaden an der Maschine?« »Schlimm, schlimm genug. Gott allein weiß, was der Strahl für einen Schaden an den Eindämmungen angerichtet hat.« »Kannst du uns trotzdem wieder hier raus und nach Hause bringen?« »Ich weiß es nicht! Falls wir es versuchen und die Felder sich ausbeulen, finden sie über die ganze Geschichte verteilt Einzelstücke von uns.« »Kümmern wir uns nicht um das ›falls‹«, erwiderte ich. »Siehst du die Dinger dahinten am Horizont? Für mich sehen die ganz wie Verstärkung aus. Es sind ganz viele und ich denke wirklich nicht, dass wir noch hier sein sollten, wenn sie ankommen. Wir müssen weg, Tony, sofort.« Er warf mir einen zornigen Blick zu und brachte dann all die Stahlhebel in die Ausgangsposition zurück, einen nach dem anderen. Ivor schauderte und schüttelte sich. Tony begann, die kristallisierten Tachyonen in die Brennkammer zu schaufeln. Giles sah nachdenklich auf ihn herab. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr so weit aus der Vergangenheit kommt …« »Noch ein Wort von dir und du kannst aussteigen und schieben!«, sagte Tony und schaufelte, was das Zeug hielt. »Während der Arbeit bitte nicht mit dem Fahrer sprechen«, sagte ich zu Giles. »Das macht ihn nur nervös.« Wieder traf ein ganzes Bündel von Energiestrahlen den Schutzschild auf einmal und Molly schrie vor Schmerzen auf, die Augen zusammengekniffen vor Anstrengung, den Schild aufrechtzuerhalten. Ein Blutstropfen erschien unter ihrem linken Augenlid. Tony schlug die Klappe der Brennkammer zu und öffnete die Drosselung bis zum Anschlag. Dabei murmelte er eine Mischung aus Gebeten, Obszönitäten und Ermutigungen an Ivor in sich hinein. Ivor tat einen Satz nach vorn, der uns alle taumeln ließ, und machte sich dann auf den Weg zu Merlins Spiegel, der wieder vor uns in der Luft schwebte. Einer der Gleiter schoss darauf. Der Strahl wurde prompt zurückgeworfen und holte ihn selbst vom Himmel. Wahrscheinlich konnte alles, das Merlin Satansbrut gebaut hatte, sich selbst verteidigen. Die anderen Gleiter feuerten jetzt intensiver auf Ivor, als er begann, sich zu bewegen und unsicher durch den dicken Schnee zu fahren begann. Aber keiner traf, obwohl Mollys Gesicht jetzt schweißbedeckt war und noch mehr Blut aus ihren zusammengepressten Augen rann. Ivor wurde langsam schneller und die verschneite Ebene verschwand hinter uns, als Merlins Spiegel nach vorn zu hüpfen und uns zu verschlingen schien. Mit einem Mal ließen wir die Alienwelt hinter uns und fuhren durch die andere Seite von Raum und Zeit zurück in Richtung Heimat. Molly entspannte sich mit einem großen, schaudernden Seufzer und lehnte sich erschöpft an die innere Wand des Führerhauses. Ihre Augen waren immer noch geschlossen, aber scheinbar blutete sie nicht mehr. Ich setzte mich neben sie und wischte ihr mit meinem Taschentuch zärtlich den Schweiß und das Blut vom Gesicht. Sie lächelte leicht, nur um mich wissen zu lassen, dass sie über meine Anwesenheit glücklich war. Ivor hatte sichtlich Mühe. Seine Geschwindigkeit schien zu schwanken und aus seinem Inneren kamen besorgniserregende Geräusche. Tony werkelte endlos über den verschiedenen Anzeigen, korrigierte immer wieder die Stellung seiner Hebel und redete pausenlos leise und motivierend auf seine Lok ein. Giles stand geduldig in einer Ecke, die Arme vor der Brust verschränkt und sah interessiert auf den Ozean aus Sternen, der uns umgab. Nach einer Weile war Molly wieder in der Lage, die Augen zu öffnen und als ich mir sicher war, dass sie keinen Schaden davongetragen hatte, stand ich auf und ging hinüber, um mit Giles zu sprechen. Ich dachte, ich sollte ihn vielleicht willkommen heißen - aber das war nicht einfach. Auch wenn unsere Translatoren immer noch gut funktionierten, lagen doch ganze Zeitalter zwischen uns und es war manchmal schwer, Worte oder Begrifflichkeiten zu finden, die wir gemeinsam hatten. Wir waren uns nicht einmal sicher, wie viele Jahrhunderte uns trennten. »Ich bringe dich auf die Erde zurück. An den Beginn des 21. Jahrhunderts nach Christus.« Giles zuckte nur mit den Achseln. »Tut mir leid, das sagt mir nichts. Ich komme aus dem Herzen des Reiches. Die Innerste Welt, im 31. Jahrhundert des Neuen Zeitalters. Und davor habe ich auf einer kleinen Koloniewelt in den äußeren Bereichen der Galaxis gelebt.« »Und du hast für den Kaiser gearbeitet?«, fragte ich vorsichtig. »Na ja, offiziell tue ich das immer noch. Ich bin der Oberste Krieger und durch öffentliche Verkündung der Führer der kaiserlichen Heerscharen in der Schlacht. Der Kaiser wird mich wieder aufnehmen, wenn wir diese kleine Meinungsverschiedenheit ausgeräumt haben.« »Wird er dich nicht vermissen?« »Ethur? Er wird einige Zeit froh sein, mich nicht zu sehen. Wenn er erst eine Chance gehabt hat, sich zu beruhigen, werden meine Anhänger hinter den Kulissen alles wieder ausbügeln - und dann wird er mich wieder an den Hof zurückzitieren, ohne sein Gesicht zu verlieren. Irgendetwas wird passieren, mit dem nur der Oberste Krieger fertig werden kann, so etwas geschieht immer. Und dann wird er mich mit offenen Armen empfangen. Das wird er müssen, denn er braucht mich. Er regiert vielleicht das Reich, aber ich bin derjenige, der es befriedet.« Er sah mich nachdenklich an. »Du kannst mich doch wieder zurückbringen, oder?« »Aber sicher«, sagte ich prompt und gab mir Mühe, selbstsicher zu klingen. »Das ist ja das Besondere an Zeitreisen. Man kann sich an den Ausgangspunkt in Raum und Zeit zurückbringen, plusminus ein paar Sekunden.« »Mir wären ein paar Monate lieber«, sagte Giles. »Kein Problem«, sagte ich. »Stimmt's, Tony?« Aber der hörte nicht auf mich, sondern kümmerte sich immer noch hingebungsvoll um seine Maschine. Ich überlegte, was ich sonst sagen konnte, womit ich das Thema wechseln konnte. »Also - warum ein Schwert, Giles?« »Weil es eine ehrenhafte Waffe ist«, sagte Giles, als läge die Antwort offen auf der Hand. »Na wundervoll«, sagte Molly. »Wir haben einen Bekloppten aufgelesen.« Nach verschiedenen Ereignissen und Abenteuern kamen wir alle wieder nach Hause. Der Zeitzug schoss brüllend aus Merlins Spiegel und kam mit quietschenden Rädern im hinteren Teil des Hangars zum Stehen. Wieder zu Hause, in einer Wolke, die ganz genauso aussah wie Dampf. Die Maschine stellte sich von alleine ab, bebte, schüttelte sich noch einmal und war endlich still. Im schwarzen Stahl knackte es laut, während er langsam abkühlte. Merlins Spiegel schrumpfte auf seine gewöhnliche Größe zusammen und steckte sich ein wenig schüchtern wieder in meine Jackentasche. Ich musste mich wirklich langsam fragen, wer von uns beiden hier die Entscheidungen traf. Ich sollte in einer ruhigen Minute wirklich die Bedienungsanleitung lesen. Ich half Molly beim Aussteigen und sie lehnte sich müde an mich. Tony war schon heruntergekommen, und betrachtete besorgt den langen Riss in Ivors Seite. Die Maschine machte traurige kleine puffpuff-Laute aus ihrem Schornstein. Giles sprang aus dem Führerhaus hinunter und sah sich interessiert um. Ich wollte gerade anfangen, ihm zu erklären, was es mit der Halle auf sich hatte und hörte sofort wieder auf, als ich feststellte, dass es hier noch stiller und verlassener war als üblich. Kein Enthusiast arbeitete an seinem Projekt, niemand werkelte an einem bestimmten Gerät, keine Spur von irgendjemandem, irgendwo. Das ließ mich ganz stark annehmen, dass wir nicht nur ein paar Sekunden, nachdem wir abgefahren waren, wieder angekommen waren. Zwei Männer erschienen im Hangartor und kamen direkt auf uns zu. Beide sahen sehr vertraut aus. Mir wurde plötzlich kalt, als ich sah, dass sie beide dasselbe Gesicht hatten. Es waren der lebende Jacob und der Geist, die da nebeneinander herliefen. Jemand hatte offenbar den lebenden Jacob beiseite genommen und ihm moderne Klamotten gezeigt. Er trug eine ausgeblichene Röhrenjeans, ein T-Shirt, das den legendären Aufdruck Hurra, ich lebe noch trug und eine schwarze Motorradlederjacke. Es stand ihm. Jacobs Geist hatte seinen Anzug aufgegeben und trug wieder seine ausgebeulten Shorts und ein T-Shirt, auf dem Gespenster tun es mit Geist stand. Er sah ziemlich undurchsichtig und solide aus, doch Teile von ihm schienen sich immer wieder aufzulösen und seine Haare flogen um ihn herum, als befände er sich unter Wasser. Beide, der lebendige und der tote Jacob, sahen sehr ernst aus. Sie blieben vor mir stehen und ich sah von einem zum anderen. »Okay«, sagte ich. »Das macht mir jetzt richtig Angst.« »Was?«, runzelte der lebendige Jacob die Stirn. »Ach, wir. Habe festgestellt, dass ich der Einzige bin, dem man hier trauen kann.« »Richtig«, grollte Jacob der Geist. »Die Dinge haben sich in deiner Abwesenheit sehr verschlechtert, mein Junge.« »Wo zur Hölle bist du all die Zeit gewesen?«, fragte der lebende Jacob. »Wie lange waren wir denn weg?« »Achtzehn Monate«, sagte der Geist. »Was?« Ich wirbelte herum und starrte Tony böse an. »Du hast geschworen, dass du uns nur ein paar Sekunden, nachdem wir gefahren sind, wieder zurückbringen würdest!« »Das ist nicht Ivors Schuld!«, schrie Tony zurück. »Er wurde von diesem Energiestrahl verletzt! Es ist ein Wunder, dass er uns überhaupt heil wieder zurückgebracht hat!« »Wir reden später«, sagte ich. Ich drehte mich widerwillig zu den beiden Jacobs um. »Achtzehn Monate? Wirklich? Heulender Jesus … Okay, dann klärt mich mal auf, was alles passiert ist. Nein, einen Moment, wie kann ich euch nennen? Ihr könnt nicht beide Jacob bleiben.« »Das haben wir schon vor Ewigkeiten geklärt«, sagte der Geist. »Ich bin Jacob und das ist Jay. Und seit du weg bist, ist alles den Bach runtergegangen. Die Abscheulichen haben sich mit Trumans neuem und wiedererstandenem Manifestem Schicksal zusammengetan, um Nester und Türme auf der ganzen Welt zu bauen. Es gibt jetzt Tausende. Die Familie hat unter Harrys Herrschaft ernsthaft versucht, sie auszurotten, aber für jeden Einzelnen, den wir vernichten, sprießen ein Dutzend andere in die Höhe. Die Abscheulichen werden wohl bald damit beginnen, ihre Massenbeschwörung abzuhalten, um die Hungrigen Götter in unsere Realität zu bringen.« »Und dann sind wir am Arsch«, sagte Jay. »Moment mal, Moment«, sagte ich. »Was soll das heißen, unter Harrys Führung?« »Als du weg warst, hat er die Kontrolle über die Familie übernommen«, sagte Jay. »Mit Unterstützung der Matriarchin. Sie haben den Inneren Zirkel entlassen und Harry hat seitdem ziemlich allein entschieden. Er und sein Freund, dieses Höllengezücht.« »Und die Familie verliert den Krieg«, sagte Jacob grimmig. »Sag mir wenigstens, dass du ein paar wirklich wirkungsvolle Waffen aus der Zukunft mitgebracht hast.« »Ich hab eine Strahlenwaffe«, sagte ich ein bisschen defensiv. »Der Waffenmeister sollte in der Lage sein, irgendetwas Sinnvolles daraus zu entwickeln. Und ich habe diesen Gentleman hier als Tutoren mitgebracht: Der Krieger Giles Todesjäger. Er weiß eine Menge darüber, wie man Krieg führt.« »Ich habe noch keinen verloren«, sagte Giles heiter. Er nickte hinüber zu Jacob. »Ein ziemlich gutes Hologramm. Auch wenn du deinen Fokus sicher neu justieren müsstest.« »Sag es ihm nicht. Wir sollten ihn den merkwürdigeren Mitgliedern unserer Familie nach und nach und ganz vorsichtig vorstellen. Also, wie schlimm steht es?« »Wirklich schlimm«, sagte Jay. »Die Familie ist über die ganze Welt verteilt und zerstört Nester, sobald wir sie geortet haben, aber es gibt einfach zu viele. Selbst mit unserer neuen Rüstung ist das eine hoffnungslose Aufgabe. Wir haben einfach keine Ahnung, wie viele Eklige es gibt und wie viele Nester im Untergrund. Sie müssen das über Jahrzehnte geplant haben.« »Wie lange, bis sie ihre Beschwörungen beginnen?« »Drei, vier Tage höchstens«, sagte Jacob. »Ihr seid gerade rechtzeitig zum Ende zurückgekommen.« »Na ja, könnten wir nicht den Zeitzug nehmen, und in der Zeit nochmal achtzehn Monate zurückgehen?«, meinte Molly. »Um das alles ungeschehen zu machen?« »Ivor geht nirgendwohin«, sagte Tony rundheraus. »Ich habe Monate an Arbeit vor mir, bevor er wieder losfahren kann.« »Na gut«, sagte ich. »Ich habe also nur noch ein paar Tage Zeit, die bösen Jungs daran zu hindern, die Welt zu zerstören und die Familie vor sich selbst zu beschützen. Wenn ich das nicht schon mal gemacht hätte, würde ich mir jetzt echt Sorgen machen.« Kapitel Zwölf Ein Zirkel voller Geheimnisse »Tut mir leid, Giles«, sagte ich. »Aber es sieht so aus, als würdest du ins kalte Wasser geworfen. Ich habe keine Zeit, dich ordentlich einzuweisen und dir eine Tour durchs Herrenhaus zu geben. Also tu einfach dein Bestes, dir alles anzusehen, während wir loslegen.« Er lächelte kalt, eine große, dunkle Gestalt, die in ihrer futuristischen Rüstung eine gefährliche Ausstrahlung hatte. »Ich habe in meiner Zeit genug außerirdische Welten und Kulturen kennengelernt, ich denke, ich kann mit allem fertig werden, das ihr hier habt. Trinken die Leute Wein, haben sie Sex? Und gibt es Prahler, Schurken und Leute, die getötet werden müssen? Dann denke ich, passe ich prima hierhin.« »Der Mann hat's drauf«, sagte Molly. »Naja, ich liebe euch, aber ich muss gleich wieder gehen«, sagte Jay munter. »Es gibt Arbeit, die ich erledigen muss, zusammen mit Rafe und William in der alten Bibliothek. Wenn es um die Abscheulichen geht, ist Wissen Munition und wir sind bedauernswert schlecht dran mit beidem.« Er verneigte sich knapp vor Giles und verließ beinahe fluchtartig den Hangar. »Und du hast auch Arbeit vor dir«, sagte Jacob der Geist und warf mir einen ominösen düsteren Blick zu. »Harry, dieser schlechte Abklatsch eines Menschen, und der nutzlose Haufen von Kröten und Jasagern, die er gegen deinen Inneren Zirkel ausgetauscht hat, entscheiden gerade wichtige Dinge im Sanktum und machen ein richtiges Schlamassel daraus. Du musst dabei sein, Junge, bevor Harry diese Familie noch weiter reinreitet.« »Du scheinst dich wieder gefangen zu haben«, sagte ich. »Irgendwie konzentrierter. Sowohl im Körper als auch im Geist.« Das Gespenst zuckte schnell mit den Achseln und blaue Bläschen von Ektoplasma schwebten von seinen Schultern in die Höhe. »Mein lebendes Gegenstück um mich zu haben, hat mir sicher geholfen, mich daran zu erinnern, was ich war. Es geht doch nichts über eine massive Notlage und den beinahe sicheren Untergang der ganzen verdammten Welt, um sich klasse zu konzentrieren. Auf der anderen Seite - meine Erinnerungen an diese gemeinsame Zeit sind immer noch beinahe nichtexistent. Ich denke, ich habe mir das freiwillig angetan. Vielleicht, damit ich meinem lebenden Selbst nicht sagen muss, wie es stirbt.« »Glaubst du immer noch, dass es hier in dieser Zeit, sterben muss, um uns zu helfen?« »Oh ja. Ein glorreicher Tod … aber immer noch kein Frieden für die Hinterhältigen. Er wird sterben und zu mir werden, und ich - ich werde Jahrhunderte lang auf diesen Ort und diesen Zeitpunkt warten. Und alles, was ich sagen kann, ist, dass es besser einen verdammt guten Grund dafür geben sollte.« »Du weißt also immer noch nicht, warum du hier bist?«, fragte Molly. Jacob schenkte ihr sein typisch fieses Lächeln. »Zur Hölle, nein. Wer weiß das schon?« »Du bist kein Hologramm, nicht wahr?«, fragte Giles. »Dazu würde ich mich nie herablassen«, antwortete Jacob. »Ich bin zu hundert Prozent aus Ektoplasma und stolz darauf. Ich kann an guten Tagen durch Wände gehen, auch wenn ich das meist nicht tue, weil es so unangenehm ist. Was ist los, Krieger, gibt's keine Geister in der Zukunft?« »Nein«, sagte Giles. »Wir sind zivilisiert.« »Lasst uns mal ins Sanktum gehen«, unterbrach ich. »Und wenn es nur aus dem Grund ist, dass mir dieses Gespräch Kopfschmerzen bereitet. Molly, Giles, bleibt dicht bei mir und bringt keinen um, bis ihr glaubt, es ist unbedingt nötig. Jacob, kommst du?« »Das würde ich nicht mal für's Jenseits verpassen wollen«, sagte der alte Geist und grinste unangenehm. Ich benutzte Merlins Spiegel, um uns in den Korridor direkt vor dem Sanktum zu transportieren. Es schien, dass nicht einmal ein Spiegel, der von Merlin erschaffen worden war, durch Seltsams andersdimensionale Barrieren kam. Also traten wir durch den vergrößerten Spiegel in den Korridor und fanden uns auf der Stelle einem Dutzend Männern gegenüber, die die Türen bewachten. Es waren alles große, muskulöse Typen, die genauso gut auch das tätowierte Wort Vorstadtschläger auf ihren niedrigen Stirnen hätten tragen können. Ein paar davon gibt es immer, in jeder Familie. Ich gebe schlechter Hygieneerziehung die Schuld daran. Die Wachen traten uns schnell in den Weg und hatten ihre bedrohlichsten Mienen aufgesetzt. Einer ließ uns gegenüber sogar seine Muskeln spielen. »Eintritt verboten«, sagte einer der Schläger kalt. »Der Patriarch darf nicht gestört werden.« »Ein Jammer«, sagte ich. »Ich will ihn nämlich stören. Du erkennst mich nicht, oder?« »Nein«, sagte der Schläger kurz. »So schnell bist du vergessen«, murmelte Molly. »Ist mir aber auch egal«, sagte er. »Spielt keine Rolle, wer ihr seid. Eintritt verboten, ohne Ausnahme. Und jetzt verpisst euch, oder wir tun euch weh.« »Keiner droht mehr ordentlich«, beschwerte sich Molly. »Man kann einfach nicht mehr erwarten, dass sich jemand die Mühe macht, ein anständiger Spießgeselle zu sein.« »Ich habe für sowas wirklich nicht die Geduld«, sagte ich. »Jacob, glaubst du, du könntest …« Der Geist warf sein grinsendes altes Gesicht nach vorn, mit glühenden Augen und all die Schläger gingen unwillkürlich einen Schritt zurück. Jacob verwandelte sich in sein schreckliches Selbst und plötzlich war der Korridor erfüllt von Tod und Schrecken und der kalten, unentrinnbaren Umarmung des Grabes. Es war, als stelle man plötzlich fest, man erwache mit einer Leiche im Bett; so, als wüsste man auf einmal, dass alles, was man liebte, stirbt. Manchmal war es wirklich zu einfach, zu vergessen, was Jacob wirklich war: Ein Wiedergänger, der nur durch einen unmenschlichen Willen aufrecht erhalten wurde. Jacob ging einen Schritt nach vorn, und die Schläger gaben einfach auf und rannten schreiend den Flur herunter. Jacob lachte leise und ich verzog mein Gesicht. In diesem grauenhaften Geräusch war nichts Menschliches. Und dann war Jacob plötzlich wieder da, mein alter Freund und Helfer. Aber nachdem ich gesehen hatte, was er wirklich war - oder wenigstens sein konnte -, musste ich mich fragen, ob ich ihn je wieder so sehen konnte wie früher. Er musste das irgendwie gespürt haben, weil er sich umwandte und mich unsicher ansah. Er versuchte, zu lächeln, aber es war nicht sehr überzeugend. »Manchmal fühle ich mich, als wäre ich nur die Spitze eines Eisbergs, Eddie, und dass ich, wenn ich jemals herausfinde, wie viel mehr von mir es wirklich gibt, ich nicht mehr ich selbst bin. Deshalb brauche ich mein lebendes Selbst in der Nähe. Es erinnert mich daran, wie es ist, menschlich zu sein. Einfach nur menschlich.« »Na toll«, sagte ich absichtlich leise. »Noch etwas, um das wir uns sorgen müssen.« Jacob schaffte etwas, das wie sein altes Grinsen aussah. »Es ist nicht gerade leicht, ein Geist zu sein. Dann wäre es ja jeder.« »Faszinierend«, sagte Giles. »Damit habt ihr der psychologischen Kriegsführung eine ganz neue Richtung gegeben.« »Können wir jetzt bitte da reinplatzen und Harrys Tag ruinieren?«, sagte Molly. »Ich fühle den wachsenden Drang, jemandem eine reinzuhauen.« »Tja«, erwiderte ich. »Das ist wohl einer dieser Tage.« Ich trat die Türen des Sanktums auf und wir alle stürmten in die große, offene Halle. Das karmesinrote Glühen von Seltsam füllte beinahe die Hälfte der großen Halle, aber es strahlte nicht mehr das gleiche Behagen und die Sicherheit aus wie früher. Harry unterbrach das Gebrüll, mit dem er gerade seine Tutoren bedachte und wirbelte herum, um uns anzusehen. Er erkannte mich sofort, aber anstelle der Überraschung, die ich erwartet hatte, nachdem ich achtzehn Monate ohne Rückkehr-Garantie fortgewesen war, sah ich in seinem Gesicht nichts außer kaltem, berechnendem Ärger. Hinter ihm allerdings klappten die Unterkiefer seiner Tutoren in sehr zufriedenstellender Manier herunter, auch wenn ich nicht viel von Harrys Auswahl hielt. Natürlich waren der Seneschall da und Roger Morgenstern, und Sebastian und Freddie Drood. Die letzten beiden gaben sich große Mühe, hinter den Ersteren nicht gesehen zu werden. Aber, um Harry Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, er erholte sich schnell. Er rückte seine stahlumrandete Brille zurecht, als wolle er mich genauer betrachten und starrte mich mit einem bösen Blick bedrohlich an. »Wo zur Hölle bist du gewesen?«, verlangte er zu wissen. »Das ist typisch für dich, Eddie, nicht da zu sein, wenn man dich braucht. Und wo sind meine Wachen, eigentlich sollen sie … unnötige Leute draußen halten, wenn ich arbeite.« »Deine Wachen kommen schon wieder«, sagte ich. »Irgendwann. Sie können ja nicht weit laufen, wenn sie das Grundstück nicht verlassen wollen. Einer von ihnen hat dich Patriarch genannt. Wann ist das denn passiert, Harry?« Er schnaubte laut. »Einer musste ja die Zügel in die Hand nehmen, nachdem du abgehauen bist, um mit dem Zeitzug zu spielen.« Er sah Giles abschätzig an. »Es hat also achtzehn Monate gebraucht, um den da zu finden? Einen Barbaren mit einem Schwert?« »Ich bin Giles Todesjäger«, sagte der Krieger aus der Zukunft, und da war etwas sehr Gefährliches und Kaltes in seiner Stimme, dass Harry auf der Stelle schweigen ließ. »Ich bin Oberster Krieger des Kaisers Ethur, Kommandant seiner Armeen und Eroberer von Welten. Edwin, ein Wort von dir genügt, und ich werde ihn vor dir knien lassen. Oder ich könnte ihm seinen Kopf abschneiden. Darin bin ich wirklich gut, und es wird ihn vielleicht daran hindern, weiter so dumm daherzureden.« »Ein netter Gedanke«, sagte ich. »Aber das heben wir uns für später auf. Du kannst diesen Patriarchen-Quatsch vergessen, Harry. Ich bin wieder da und du kannst zurück auf die Ersatzbank.« »Glaubst du wirklich, das geht so einfach?«, fragte Roger und trat neben Harry. »Harry hat diese Familie jetzt über ein Jahr geleitet. Die Familie hat ihn akzeptiert. Was macht dich glauben, dass dich irgendeiner wieder an der Macht haben will?« »Als ich in diesen Raum trat, war er voll schierer, unterdrückter Hysterie und Panik«, sagte ich ruhig. »Nicht gerade das, was man von einem Patriarchen erwartet. Und mal ehrlich, Harry, ist das das Beste an Tutoren, was du finden konntest? Ich würde mich nicht mal auf ihren Rat verlassen, wenn ich in der Nase bohren wollte. Zur Hölle, kann ich mich nicht mal für fünf Minuten von der Familie abwenden, ohne dass hier alles zum Teufel geht?« »Fünf Minuten?«, sagte Harry. »Achtzehn Monate! Wir wussten nicht, ob du lebst oder tot bist, oder gefangen oder zum Feind übergelaufen oder ob du überhaupt zurückkommst! Und jetzt kommst du hier einfach mit einem blasierten Lächeln und ein paar herablassenden Worten reinspaziert und was zeigst du uns? Einen Mann!« »Einen Todesjäger«, verbesserte Giles. »Ein wichtiger Unterschied.« »Er ist groß«, sagte Sebastian. »Hab ich gesehen«, meinte Freddie. »Und er hat ein richtig großes Schwert.« »Das sind die Besten.« »Was ist mit meinem Inneren Zirkel passiert?«, fragte ich laut. »Ich habe sie sorgfältig ausgesucht, um alle Stimmen in der Familie zu repräsentieren. Ich bin nicht überrascht, dass der Seneschall hier ist - hallo, Cyril! - und Molly und Jacob sind bei mir, aber wo bitteschön sind die sehr vernünftige Penny und unser außerordentlich erfahrener Onkel Jack?« »Der Waffenmeister ist zurück im Labor, wo er hingehört«, sagte Harry. »Und Penny ist sehr damit beschäftigt, sich mit den Tutoren zu befassen, die du gnädigerweise auf die Familie losgelassen hast. Sie sind immer noch beliebt genug, denke ich, wenn auch nicht sonderlich nützlich. Als ich das Kommando übernehmen musste - und es gab keinen anderen - habe ich entschieden, dass ich meine eigenen Tutoren haben will. Leute, denen ich vertrauen kann, die die Dinge wie ich sehen und die das vertreten, was ich entscheide. In einem Notfall gibt es kein Herumdiskutieren. Glaub also nicht, dass du hier reinspazieren und einfach so wieder alles übernehmen kannst. Du hattest deine Chance und hast sie vertan.« »Während du es viel besser gemacht hast? Sag bloß!« »Du warst doch gar nicht hier! Du weißt nicht, was in den vergangenen anderthalb Jahren passiert ist! Ich habe einen Krieg gegen einen Feind geführt, der die ganze Welt bedroht! Nicht nur ein Nest, einen Turm, sondern tausend von diesen verdammten Dingern. Hunderttausende - wir können sie gar nicht mehr zählen, so schnell vermehren sie sich. Sieh dich doch nur an; stehst da und schnauzt mich an. Du hast gar kein Recht, mich zu verurteilen! Du hast kein Recht, einfach hier reinzuplatzen und zu erwarten, dass wir dir zu Füßen fallen und darum betteln, dass du uns rettest! Ich leite die Familie jetzt zu Recht. Ich habe es mir verdient. Ich bin der Patriarch. Wenn du den Posten willst, dann musst du ihn mir wegnehmen.« »Siehst du, das ist der Unterschied zwischen uns beiden, Harry«, sagte ich. »Ich wollte das nie. Aber ich kannte immer meine Pflicht gegenüber der Familie. Und deshalb muss ich dich ersetzen - zum Wohl der Familie.« Harry rüstete hoch und zu meiner Überraschung war das Metall, das aus seinem Halsreifen floss, golden, nicht silbern. Er lachte über meinen Gesichtsausdruck, sein eigener war hinter der formlosen goldenen Maske versteckt. »Ich habe den silbernen Look nie gemocht. Also habe ich mit Seltsam gesprochen und er sah keinen Grund, warum die seltsame Materie nicht golden sein könnte. Also habe ich ihm gesagt, er soll die Farbe wechseln. Gold ist die Farbe der Tradition, der Kontinuität; eine Erinnerung an die Tage, in denen unsere Familie stark war. Und sie wird es wieder sein!« »Seltsam!«, rief ich. »Hörst du zu?« »Ja, Eddie.« Die Stimme, die aus dem karmesinroten Glühen kam, klang seltsam ausdruckslos und so, als sei sie weit entfernt. »Es ist schön, dich wiederzusehen. Du warst weit weg, das kann ich an dir erkennen. Und die Welt hat sich geändert, als du weg warst. Nicht einmal ich bin mehr, was ich war, so weit verteilt. Nur mein Schutz sichert die Familie noch. Es sind die Abscheulichen, Eddie, sie infizieren die lebendige Welt wie ein Virus, wie Krebs. Und je mehr sie übernehmen, desto mehr setzen sie mir Grenzen. Ich sorge für die Rüstungen der Droods, und die Kraft für die Familienwaffen und die -verteidigungen - aber jeden Tag fällt mir das ein bisschen schwerer. Die Hungrigen Götter kommen … und nicht einmal ich kann hoffen, gegen sie bestehen zu können, wenn sie sich erst in ihrer schauderhaften Glorie gezeigt haben.« Ich hatte Seltsam noch nie so müde gehört, so niedergeschlagen - beinahe besiegt. Er schien immer so machtvoll zu sein; so weit über der Menschheit stehend, dass es mir niemals in den Sinn gekommen war, dass es andere Kräfte, andere Wesen geben könnte, die auch weit über ihm standen. Ich sah Harry an, der stolz und groß in seiner goldenen Rüstung dastand. »Nimm sie runter«, sagte ich. »Wir haben für so eine Scheiße keine Zeit. Wir müssen wichtige Dinge besprechen, Familiendinge.« »Nein«, sagte er sofort. »Nichts ist wichtiger als das. Nichts kann passieren, nichts entschieden werden, bis wir festgelegt haben, wer das Kommando hat. Ich habe bemerkt, dass du deine Rüstung nicht hochgefahren hast, Eddie. Was ist los? Hast du nicht die Eier, dich einem fairen Kampf zu stellen?« »Ein Duell?«, fragte ich. »Mitten in dieser Situation möchtest du ein Duell austragen?« »Das entspricht der Tradition«, sagte der Seneschall und lächelte nur ein wenig. »Noch ein Grund, warum ich mit der Tradition nie klargekommen bin«, sagte ich. »Aber wenn es dich glücklich macht, Harry …« Ich murmelte die aktivierenden Worte und meine Rüstung quoll aus meinem Torques, um mich einzuschließen. Ich fühlte mich sofort stärker, konzentrierter und selbstsicherer. Ein schneller Blick an mir herab zeigte mir, dass meine Rüstung jetzt so golden war wie seine. Ich ballte langsam die goldenen Fäuste und ging auf Harry los. Er kam in meine Richtung und wir umkreisten uns vorsichtig. Alle Anwesenden traten ein paar Schritte zurück, um uns viel Platz zu lassen. Ich sah, wie Molly Giles am Arm nahm und ihm eindringlich ins Ohr flüsterte, dass er sich nicht einmischen dürfe. Er nickte. Er sah aus, als wüsste er alles über Duelle. Der Seneschall ging einen Schritt nach vorn, vielleicht, um etwas Ermutigendes zu Harry zu sagen, oder um mich abzulenken, und Giles wischte unglaublich schnell nach vorn und durchquerte die Halle in einem Moment. Sein langes Schwert flog in seine Hand, als er den Seneschall gegen die Wand drückte und dann die Schneide der langen Klinge gegen Cyrils Hals legte. Es geschah so schnell, dass der Seneschall keine Gelegenheit hatte, seine Rüstung hochzufahren. Er sah in Giles kalte Augen, schloss die eigenen und stand dann sehr still da. Er sagte nichts. Ein dünner Blutfaden rann von der Stelle über seinem Adamsapfel aus seinen Hals hinab, an der die rasiermesserscharfe Klinge des Schwerts die Haut zerteilt hatte. »Tu's nicht«, sagte Giles. Harry nutzte den Moment, in dem meine Aufmerksamkeit abgelenkt war, und warf sich gegen mich. Wir standen Kopf an Kopf, beide zu wütend, um vorsichtig vorzugehen. Wir tauschten Schläge aus, die normale Menschen getötet hätten, aber keiner von uns fühlte sie. Wir verkrallten uns ineinander, schwankten vor und zurück, als wir rangen; aber wir beide kannten alle Tricks. Wir stießen wieder und wieder aneinander, unsere übermenschlichen Kräfte und Geschwindigkeit waren absolut ebenbürtig. Ich schubste ihn von mir weg und ließ aus meinen Händen lange, goldene Klingen wachsen. Harry tat das Gleiche und wir stachen wild auf einander ein. Wir stießen und hackten und wirbelten so schnell umeinander herum, dass es dem menschlichen Auge schwerfiel zu folgen. Unsere Rüstungen hatten uns jetzt im Griff, unsere Leidenschaft und unser Hass übertrugen sich auf die übermenschlichen Reaktionen. Ich riss seine linke Klinge mit roher Kraft beiseite und schnitt in seine Brust. Die übernatürlich scharfe Klinge schnitt durch seine Rüstung, um ihn zu erreichen, sie war das Einzige, die das bewirken konnte. Ich hörte ihn vor Überraschung und Schmerz stöhnen, und dann musste ich mich schnell ducken, als seine Hinterhand als Antwort beinahe meinen Kopf abgeschnitten hätte. Wir wirbelten und tanzten, stampften so hart mit den goldenen Füßen auf den Holzboden, dass wir ihn beinahe durchbrachen. Wir kämpften weiter, ein einziger goldener Wirbel in scharlachrotem Licht. Aber selbst so waren wir zu ebenbürtig, und der Austausch der übernatürlich verstärkten Schnitte und Wunden half nicht, dass Duell zu einem Ende zu bringen. Ich hatte schon mehr als er durchgemacht und deshalb war ich müde. Meine Arme schmerzten und ich spürte, dass auf der Innenseite meiner Rüstung Blut an mir herunterlief. Ich musste das beenden, solange ich noch konnte. Also benutzte ich einen alten Trick; den, den ich benutzt hatte, um seinen Vater zu schlagen. Ich parierte seine Klingen mit meinen, zwang sie hoch und aus dem Weg und griff dann mit beiden Händen seinen Hals an. Meine Klingen zogen sich in die goldenen Handschuhe zurück, sodass ich einen guten Griff auf seinen goldenen Hals bekam. Der Aufprall schickte uns beide krachend auf den Boden und ich landete oben, beide Hände an seinem Hals. Seine Hände verschluckten die Klingen unwillkürlich, als er instinktiv nach meinen Handgelenken griff, und versuchte, meine Hände fortzuzwingen. Die Rüstung um seinen Hals hätte meine gerüsteten Hände aufhalten müssen, aber so aus der Nähe, gezwungen von meinem Willen, verschmolzen unsere Rüstungen miteinander, sodass meine bloßen Hände schließlich um seinen bloßen Hals lagen, innerhalb der Rüstung. Er machte ein Geräusch des Schocks und der Überraschung, als sich meine Hände schlossen. Ich drückte zu. Er bäumte sich unter mir auf und versuchte, sich zu wehren, aber er konnte meine Hände nicht fortschieben. Er würgte und verkrampfte sich, aber ich ließ ihn nicht atmen. Bis er endlich aufhörte, sich zu wehren und auf den Boden neben ihm schlug. Das alte Zeichen eines Duellanten, dass er aufgab. Ich ließ los und er atmete wieder. Ich blieb über ihn gebeugt, bereit, sofort wieder loszulegen, falls er nur so tat. Für eine Weile blieben wir so, er auf dem Boden, ich über ihm, wir beide schwer atmend. Ich hätte ihn getötet, wenn er nicht aufgegeben hätte, und er wusste das. »Hast du so meinen Vater getötet?«, sagte er endlich. »Das ist typisch für dich, Harry«, sagte ich. »Immer auf die Vergangenheit fixiert. Ein Führer sollte in die Zukunft sehen. Ich hätte dich töten können, aber das wollte ich nicht. Zunächst einmal, weil es wahrscheinlich mehr Probleme gemacht als gelöst hätte und zweitens, weil die Familie erfahrene Frontagenten wie dich braucht. Jetzt mehr denn je. Also vergiss diesen Patriarchen-Scheiß. Werd' wieder ein Teil meines Inneren Zirkels. Gib mir dein Wort, dass du mir folgst, meinen Befehlen gehorchst, um der Familie willen - und das alles ist vorbei.« »Und wenn ich nein sage?« »Du kennst die Antwort darauf. Alles oder nichts, Harry. Deal?« »Deal«, sagte er still. Es klang bitter. »Um der Familie willen.« Wir beide rüsteten ab. Ich gab ihm meine Hand und half ihm auf. »Nein!«, sagte Roger plötzlich und trat vor. »Du musst ihm nicht nachgeben, Harry! Du musst keinen Mist von irgendwem annehmen, nicht, solange ich hier bin!« Ohne Vorwarnung übernahm seine höllische Hälfte und wickelte sich um ihn wie ein weiter Mantel. Er schien in keiner Weise mehr menschlich zu sein. Schatten versammelten sich um ihn, eine lebendige Dunkelheit, die das karmesinrote Licht zu verschlingen schien. Ein starker Geruch von Blut und Schwefel lag in der Luft und der Schwall einer fast unerträglichen Hitze ließ uns alle zurückfahren, selbst Harry. Roger lächelte und sein Mund war voller spitzer Zähne. Seine Augen waren schwarze Löcher in seinem Gesicht. Seine Präsenz im Sanktum war … schwer, wie ein unerträgliches Gewicht, das die Welt niederdrückte. Er sah aus wie das, was er wirklich war: Etwas aus der Hölle. Selbst Harry konnte ihn nicht direkt ansehen. Roger lachte leise; ein böses, hasserfülltes Geräusch, dass nichts von menschlichem Humor enthielt und uns alle zusammenzucken ließ. Roger erhob sich in die Luft und negierte damit die Naturgesetze, als wären sie nicht vorhanden. Er hing in der Luft, mit spöttisch ausgestreckten Armen, als sei er an ein unsichtbares Kreuz genagelt. »Jesus ist gar nichts gegen mich«, sagte er in einer Stimme, die klang wie ein grunzendes Tier. »Du glaubst, dass du jemand bist, Eddie Drood, aber ich werde dir zeigen, was wahre Macht ist.« Bevor ich auch nur etwas sagen konnte, schwebte Molly ihm entgegen. Sie hielt sich mühelos in der Luft vor ihm, ihr Gesicht kalt und entschlossen, als sie sich zwischen mich und die Höllenbrut schob. Ich wollte sie zurückhalten, aber ich hatte keine Stimme. Unnatürliche Energien, die man genauso gut fühlen wie sehen konnte, begannen um die beiden zu tanzen. Sie zündelten und knisterten wie Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte. Etwas sammelte sich zwischen ihnen, etwas Schreckliches. Schon ihnen so nahe zu sein, fühlte sich an, als schnitten rasiermesserscharfe Klingen in meine Seele. Sterbliche sollten so etwas nicht sehen, so etwas nicht fühlen. Verbotene Magien und unmenschliche Praktiken … Roger winkte mit der Hand und ein Loch entstand im Boden des Sanktums. Die hölzernen Bohlen schienen ohne Anlass zu verrotten und das Loch wuchs beständig, wie ein Krebs im Körper der Welt. Gespickte Messingtentakel, schon jetzt glitschig von menschlichem Blut, schossen daraus hervor, schnappten sich Molly und fesselten ihr die Arme an den Körper. Sie schrie auf, als verdürbe die Berührung der Dinger sie und wehrte sich heftig. Blut flog durch die Luft, als die Metalldornen sich in ihr Fleisch bohrten. Und dann verschwanden die Tentakel wieder im Boden und nahmen sie mit, und das Loch verschwand. Der Boden war wieder massiv, unberührt, als wäre nichts passiert. Roger drehte sich langsam um, er hing immer noch frei in der Luft und lächelte mich mit seinem furchtbaren Lächeln an. »Ich komme aus der Hölle«, sagte er. »Und das trage ich überall mit mir herum. Also bin ich nie fern von zu Hause. Ich habe deine kleine Freundin gerade in die Hölle geschickt, Eddie Drood. Sie auf ewig verdammt zu ewigem Leiden in den Flammenseen und zu den Foltern der Schwefelklüfte, weil ich mich gerade danach fühlte. Wie denkst du darüber, Eddie Drood?« »Nachdem ich dich getötet habe, werde ich in die Hölle hinabsteigen und sie zurückholen«, sagte ich. »Was auch immer dazu nötig ist, was auch immer das kostet. Aber zuerst werde ich dich mit diesen goldenen Händen zerschmettern und dich schreien lassen, und dann, nach all den schrecklichen Dingen, die ich dir angetan habe, wird es für dich eine Erleichterung sein, wieder zur Hölle zu fahren!« »Wow«, sagte Molly. »Das ist echt stark, Eddie.« Wir alle sahen uns verwirrt um und da stand sie, unberührt und unverletzt, genau da, wo das Loch gewesen war. Ich rannte hinüber und nahm sie in die Arme. Wir hielten uns gegenseitig fest und nichts anderes spielte mehr eine Rolle. »Ich dachte wirklich, ich hätte dich verloren«, sagte ich. »Glaubst du echt, ich würde irgendwo hingehen und dich einfach hierlassen?«, fragte sie. Als wir uns endlich voneinander trennten und uns umsahen, starrte Roger uns fassungslos an. Und auf einmal sah seine höllische Präsenz nicht mehr halb so furchteinflößend aus. »Du kannst nicht hier sein!«, sagte er. »Das geht nicht! Ich habe dich zur Hölle geschickt!« »Da war ich schon«, sagte Molly. Sie schnippte trocken mit den Fingern und ein Loch öffnete sich in der Decke über uns. Ein himmlisches Licht brach hindurch wie ein heiliger Scheinwerfer und richtete sich auf Roger. Es spießte ihn auf wie ein Insekt auf die Nadel eines Sammlers. Er schrie grausam auf und warf sich hilflos und in Agonie im Griff des himmlischen Lichtes umher, und wir alle mussten uns abwenden. Das Licht war einfach zu strahlend, zu rein, als dass menschliche Augen hätten hineinsehen können. Sogar im selben Zimmer zu sein, tat weh, als würde es alles wegbrennen wollen, was fehlerhaft war. Molly schnippte wieder mit den Fingern und das Licht verschwand ebenso schnell wieder wie das Loch in der Decke. Roger fiel auf den Boden und lag still. Er atmete schwer. Er sah wieder aus wie ein Mensch. Harry rannte nach vorn, kniete neben Roger und zog ihn in seine Arme. Er wiegte ihn hin und her wie ein verletztes Kind und murmelte beruhigende Worte. Rogers Gesicht war starr vor Panik und Leid und einem unbeschreiblichen Schrecken. Ich sah Molly an. Sie zuckte mit den Achseln. »Ich bin halt ein bisschen rumgekommen. Du wärst überrascht, wer mir alles einen Gefallen schuldet. Wirklich.« »Wir reden später darüber«, sagte ich. »Sind alle anderen in Ordnung?« Ich sah mich um. Sebastian und Freddie hatten sich in einer entfernten Ecke zusammengekauert und hatten anscheinend versucht, sich gegenseitig in die Taschen zu kriechen. Der Seneschall sah blass und erschüttert aus, aber nicht einmal der Anblick von Himmel und Hölle hatte ihn aus der Fassung gebracht. Jacob der Geist war verschwunden. Und Giles Todesjäger grinste breit, als ob er gerade eine richtig gute Show gesehen hätte. Während ich noch darüber nachdachte, flogen die Türen des Sanktums wieder auf, und eine ganze Bande von Droods kam hereingelaufen, angeführt von den Schlägern, die die Tür bewacht hatten. Sie hatten scheinbar Aufwind bekommen und ermutigt von ihrer Verstärkung schienen sie entschlossen, uns allen eine Lektion zu erteilen. Unglücklicherweise machten sie den taktischen Fehler, unbewaffnet hereinzuplatzen. Giles schoss sofort nach vorn und war schon in dem Moment bei ihnen, als sie hereinkamen, und das war für jemanden ohne Drood-Rüstung unfassbar schnell. Er zog gar nicht erst sein Schwert, warf sich einfach nur in die Neuankömmlinge, stoppte sie, wo sie waren und schlug sie alle mit eleganter, beinahe klinischer Präzision nieder. Er schlug mit überraschendem Können um sich und jeder Schlag saß und ließ einen Mann zu Boden gehen. In wenigen Augenblicken war er der Einzige, der noch stand, und war umgeben von stöhnenden und bewusstlosen Leuten. Er atmete nicht einmal schwer. »Also, das nenn' ich ja mal einen Kämpfer«, sagte der Seneschall. Ich hatte vorher noch nie erlebt, dass er beeindruckt war. »Das hast du gut gemacht, Edwin. Das ist genau, was wir brauchen.« »Danke, dass du sie nicht abgemurkst hast«, sagte ich zu Giles. »Sie gehören zur Familie.« Er nickte kurz. »Ich weiß. Ich habe die Reifen um ihren Hals gesehen. Ich töte nur, wenn es nötig ist. Und diese traurigen Exemplare da waren es definitiv nicht wert. »Das ist teilweise ein Grund, warum du hier bist«, sagte ich. »Ich brauche dich, um meine Familie zu trainieren und sie in Krieger zu verwandeln. Und um einen Krieg zu führen, der unmöglich zu gewinnen ist und gegen den mächtigsten Feind geht, den du jemals gesehen hast.« »Ich habe schon Armeen aus schlechterem Material gemacht«, sagte Giles. »Ich kann aus dem unbeschriebensten Blatt noch einen Kämpfer machen. Ich bin ein Todesjäger. Wir gewinnen Kriege. Dafür sind wir gemacht. Wie viel Zeit habe ich?« »Gute Frage«, erwiderte ich. Ich sah den Seneschall an. »Klartext, Cyril. Ich muss genau wissen, was in meiner Abwesenheit passiert ist. Fürs Erste nur die Höhepunkte, den Rest schnapp ich dann schon im Laufe der Dinge auf.« Der Seneschall nickte langsam. »Willkommen zurück, Edwin. Der Familie fehlte deine … Entschlossenheit. Du musst verstehen, dass Harry die Unterstützung der Matriarchin hatte. Ich hatte keine Wahl.« »Sag mir einfach, was passiert ist«, sagte ich. »Wir können die Schuld später verteilen. Du kannst damit anfangen, wie alles so schrecklich schiefgehen konnte. Als ich hier wegging, waren wir am Gewinnen. Irgendwie.« »Das Manifeste Schicksal hatte ein paar Leute auf der Nazca-Ebene«, sagte der Seneschall. »Lange bevor du mit deinem Team da ankamst. Truman wollte seine neuen Verbündeten im Auge behalten. Aber jeder, den er dorthin schickte, endete entweder als Besessener oder Infizierter der Abscheulichen. Sie kamen zu Truman zurück, um das Gift, dass sie infiziert hatte, zu verbreiten. Sie haben seine Organisation infiltriert und sind in seine neue Basis eingedrungen. Dort haben Sie weitere angesteckt. Sie sind seine engsten Tutoren geworden und haben ihm Gift in die Ohren geträufelt. Sie haben Truman überzeugt, neue Nester zu errichten und das Bauen neuer Türme zu unterstützen. Von den Ressourcen des Manifesten Schicksals gespeist und unter dem Schutz von Truman selbst haben die Abscheulichen ihren Einfluss über die ganze Welt ausgebreitet, haben ihre infizierten Agenten in Organisationen und Regierungen in aller Welt eingeschleust. Angeblich haben sie für das Manifeste Schicksal gesprochen und es als eine Alternative zur Drood-Familie angepriesen. Natürlich sind sie schnell zugelassen worden, haben sich schnell in führende Positionen hinaufgearbeitet, sofort überall Chaos und Unentschlossenheit verbreitet und die Menschheit von innen gespalten. Es gibt jetzt überall Nester, in jedem Land. Oft errichten sie sie im Inneren von Ghoulstädten, um zu verstecken, was sie bauen. Sobald sie eine bestimmte Gesamtzahl erreicht haben, die aber nur sie kennen, wird die große Beschwörung beginnen und die Eindringlinge werden durchkommen.« »Moment mal«, sagte ich. »Sie haben nicht Truman selbst infiziert? Warum nicht? Dann hätten sie doch seine ganze Organisation kontrollieren können.« »Sieht so aus, als könnten sie das nicht«, meinte der Seneschall. »Nach all den Operationen, die er seinem Gehirn zugemutet hat, scheint es, als sei er immun gegen ihren Keim.« »Vielleicht können wir das benutzen. Wenn wir ihn erreichen könnten, sodass er die Wahrheit erkennt - vielleicht könnten wir von ihm sogar lernen, wie man jeden anderen immun macht.« »Vielleicht«, sagte der Seneschall freundlich. »Wenn ich dann fortfahren dürfte …« »Oh ja, sprich einfach weiter, Cyril. Lass dich nicht von mir unterbrechen.« »Wir wissen, dass die, die die Abscheulichen infizieren, selbst zu Abscheulichen werden«, sagte der Seneschall. »Sie verhalten sich wie Insekten; ein Bienenstock, in dem jeder weiß, was alle wissen. Die Nester kommunizieren untereinander, von einer Ghoulstadt zur anderen, in einer Art, die wir weder abfangen geschweige denn verstehen können. Wir erobern und zerstören jedes Nest, das wir lokalisieren können und brennen ihre Städte ab, aber sie sind besser im Verstecken als wir im Finden. Wir gewinnen die Schlachten, aber verlieren den Krieg.« »Tut mir leid, euch zu unterbrechen«, sagte Seltsam. »Aber der Lageraum hat gerade eine wichtige Meldung empfangen. Callan ist in der Leitung. Er sagt, er hat endlich Trumans neue Operationsbasis lokalisiert. Soll ich ihn durchstellen?« »Verdammt nochmal, ja!«, sagte ich. »Das ist die erste gute Nachricht, die ich kriege - Callan! Hier ist Edwin Drood, ich bin wieder da. Was hast du gefunden?« »Na das wird ja auch verflucht noch mal Zeit«, sagte Callan, und seine unverwechselbare Stimme drang aus Seltsams dunkelrotem Leuchten. »Da hattest du dir ja mal 'ne richtig miese Zeit für einen Urlaub ausgesucht. Hast du mir wenigstens ein Geschenk mitgebracht? Niemand bringt mir je ein Geschenk mit. Schau mal, ich würde gern mit dir quatschen, aber ich weiß nicht, wie lange ich den Kontakt aufrechterhalten kann. Trumans Basis strotzt nur so von Sicherheitskräften und einige davon sind definitiv keine Menschen. Du würdest nicht glauben, was für Sicherheitsmaßnahmen er hier getroffen hat.« »Verstanden«, sagte ich. »Wo ist er?« »Das wirst du nicht glauben. Ich hab's im Blick und kann's nicht glauben. Um genau zu sein, befinde ich mich gerade außerhalb von Stonehenge und versuche fieberhaft, etwas zu wahren, was man einen sicheren Abstand zum äußeren Steinring nennen kann. Truman hat seine neue Basis in den Bunkern tief unter den Megalithen aufgeschlagen. Wieder einmal hat er sich eine uralte, eingemottete Regierungseinrichtung zunutze gemacht; aus dem Zweiten Weltkrieg, glaube ich. Die Bunker waren als letzte Zuflucht gedacht, in die die Regierung fliehen sollte, falls die Nazis eingefallen wären und sie aus London vertrieben hätten.« »Moment«, sagte ich. »Ich dachte, solange die Seele Albions sicher in Stonehenge sei, könne keiner England erobern.« »Vielleicht hat die Regierung nicht so ganz darauf vertraut«, meinte Callan. »Bist du bereit, die wirklich schlechten Nachrichten zu hören? Truman hat die Seele. Er hat sie unter dem Hauptopferstein ausgegraben und sie in seinem Privatbüro verschlossen.« »Callan«, sagte ich vorsichtig. »Wie sicher ist diese Information?« »Ich bin selbst hingegangen und habe nachgesehen, und ich bin hier, um dir jetzt zu sagen, dass ich das nicht wieder tun werde. Hinter all die Sicherheitslinien zu kommen und die schwer bewaffneten Wachen zu überwinden hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet und hat mich von dem leichten, aber doch vorhandenen Anflug von Verstopfung geheilt, den ich hatte. Wenn ich noch stärker gezittert hätte, dann hättest du Cocktails in mir mixen können. Warte nur ab, ob ich mich wirklich jemals wieder als freiwilliger Frontagent melde.« »Wie konnte Truman nur an die Seele kommen?«, fragte ich. »Die Familie hat seit Jahrhunderten immer neue Sicherheitsvorkehrungen dafür getroffen.« »Ich weiß«, sagte Callan. »Es gibt nur eine Antwort, und die ist echt nicht schön. Jemand in der Familie muss ihm die notwendigen Worte gegeben haben, die die Zauber außer Kraft gesetzt haben. Und dieser Jemand muss ziemlich weit oben stehen. Ein Verräter in der Familie!« »Unmöglich!«, sagte der Seneschall. »Das ist undenkbar!« »Nicht nach dem Null-Toleranz-Debakel«, sagte ich. »Sie waren bereit, die Familie zu zerstören, nur um ihr eigenes Image aufrechtzuerhalten.« »Genau wie du«, sagte Harry. »Ach, halt die Klappe, Harry«, sagte ich. »Lass die Erwachsenen reden. Empfehlungen, Callan?« »Stell eine schlagkräftige Kampfgruppe zusammen, bring sie sofort her und ich werde Truman mit ihnen da treffen, wo es wehtut. Jetzt sofort, wo wir noch das Überraschungselement nutzen können.« »Nein!«, sagte ich schnell. »Ich kenne deine Vorstellung von Taktik, Callan; nach vorn stürmen und auf Gott vertrauen. Halt deine Position, beobachte weiter und sag Bescheid, wenn es etwas Neues gibt. Ich werde einen Angriffsplan ausarbeiten und mich dann wieder melden. Bis dahin bleibst du mit uns in Verbindung. Das ist ein Befehl.« »Du kannst einen echt sauer machen, weißt du das?« »Seltsam, unterbrich die Verbindung und dann rede mit mir.« »Ja, Eddie. Callan spricht immer noch mit dem Lageraum. Er ist gar nicht glücklich.« »Ich würde ihn nicht wiedererkennen, wenn er das wäre«, sagte ich. »Erzähl mir was über die Seele Albions, Seltsam.« »Ich weiß nur, was die Familie weiß, Eddie. Nach euren Aufzeichnungen fiel vor Tausenden von Jahren ein andersdimensionaler Kristall von den Sternen herab auf die Erde. Vor sehr langer Zeit - so lange, dass die Geschichte schon zur Legende wurde - hat jemand mit der Seele ein Wirken durchgeführt und nutzte seine Macht, um sicherzustellen, dass England nie erobert würde … Solange die Seele an ihrer Stelle unter Stonehenge bliebe.« »Könnten wir die Seele nicht benutzen, um die Eindringlinge zu stoppen?« »Ich weiß nicht«, sagte Seltsam. »Die vollen Fähigkeiten des Kristalls wurden nie getestet. Es könnte England schützen, wenn er rechtzeitig wieder zurückgelegt würde.« »Okay«, sagte ich. »Was ist mit dir, Seltsam? Könntest du sie aufhalten? Es gibt ein paar Hinweise in der alten Bibliothek, dass das Herz eingegriffen hat, um sie zu stoppen, damals, zu den Zeiten der Römer.« »Nein. Das musst du verstehen, Eddie, es ist so wenig von mir hier, relativ gesehen. Selbst mit all der seltsamen Materie, die ich schon hergeholt habe, um eure Rüstungen zu machen. Wenn ich wirklich die Vielwinkligen aufhalten wollte, müsste ich mich hier ganz manifestieren und das wäre genauso katastrophal, als kämen die Eindringlinge. Seltsame Materie gehört nicht hierher, sie stört das natürliche Gleichgewicht. Du hast ja keine Ahnung, wie weit ich hier von dem entfernt bin, was du für Leben hältst.« »Wie lange glaubst du, dauert es noch, bis die Abscheulichen so weit sind, die Eindringlinge zu rufen?«, fragte Molly, nur um zu zeigen, dass niemand sie aus der Diskussion heraushalten konnte. »Drei, vielleicht vier Tage«, sagte Seltsam. »Ich kann den Druck fühlen, den die fertigen Türme auf die natürlichen Barrieren zwischen den Dimensionen ausüben. Ich kann die Hungrigen Götter fühlen, sie versammeln sich um dieses kleine Universum herum und machen ihre schrecklichen Pläne.« »Ich fange an, mir zu wünschen, ich hätte dich nie gefragt«, sagte ich. Ich sah Giles an. »Wie ist es, Oberster Krieger? Kannst du eine Armee in drei, vier Tagen bilden?« »Normalerweise nicht«, sagte Giles. »Aber das ist ganz eindeutig weder eine normale Familie, noch eine normale Welt. Ich mag sie. Sie ist so extrem. Wenn der Rest auch nur ansatzweise so ist wie ihr, dann kann ich in den nächsten paar Tagen etwas durchaus Interessantes schaffen.« »Eigentlich habt ihr nicht mehr so lange«, sagte Sebastian. Wir alle wandten uns um. Sebastian kauerte nicht mehr in seiner Ecke. Er stand allein und aufrecht vor uns, lächelte uns an und da war etwas in seinem Lächeln und seinen Augen, bei dem ich eine kalte Hand sich um mein Herz schließen fühlte. Er sah nicht mehr wie Sebastian aus. »Seb?«, fragte Freddie, der immer noch in der Ecke saß. »Was machst du da, Schätzchen? Jetzt ist nicht gerade die richtige Gelegenheit, um auf sich aufmerksam zu machen. Das sieht dir wirklich nicht ähnlich.« »Du kennst mich nicht«, erwiderte Sebastian. »Keiner von euch kennt mich wirklich. Aber auf der anderen Seite war Sebastian am einfachsten zu spielen. Unglücklicherweise ist seine Zeit jetzt vorbei. Genau wie eure.« »Mein Gott«, sagte Harry. »Er ist infiziert. Er ist ein Abscheulicher. Wie konnten wir das übersehen? Er ist der Verräter in der Familie!« »Nicht der Einzige«, sagte Sebastian mit seinem immer noch unmenschlichen Lächeln. »Es tut mir leid, aber ihr wart alle sehr naiv. Und jetzt ist es für euch alle an der Zeit zu sterben.« Er schauderte und schüttelte sich, während sein ganzer Körper konvulsivisch zuckte und in plötzlichen Schüben zu wachsen schien. Er ragte schließlich über zweieinhalb Meter hoch auf, mit breiten Schultern und einem mächtigen Brustkorb, und sein Torso war mit dicken Muskelsträngen bepackt. Seine unnatürlich rote Haut schien bis zum Bersten gespannt. Zwei weitere Arme brachen aus seiner Seite und alle vier Hände wuchsen zu stark gekrümmten Klauen. Sein Gesicht war breit und monströs, ohne eine Spur von Menschlichkeit. »Die Hungrigen Götter verurteilen dich zum Tode, Eddie Drood!«, sagte er in einer fürchterlich normalen Stimme. »Erschießt ihn«, sagte ich. Harry, der Seneschall und ich rüsteten sofort hoch und warfen uns dem entgegen, was einst Sebastian gewesen war. Wir droschen mit unseren goldenen Fäusten auf ihn ein, aber er stand nur da und nahm das hin. Harry und ich ließen lange Klingen aus unseren Händen wachsen und hieben damit auf ihn ein, aber die Schnitte heilten so schnell wir sie schlugen. Das Ding, das einmal Sebastian gewesen war, lachte uns aus und schlug nur einmal mit seinen vier schweren Fäusten auf uns ein, und es war selbst mit der Geschwindigkeit unserer Rüstungen schwierig, ihnen auszuweichen. Es war der Torques, wissen Sie. Sebastian hatte seinen immer noch. Er konnte die Rüstung nicht über seinem monströsen Körper tragen, aber sie beschützte ihn dennoch. Warum hatte sie ihn dann aber nicht vor einer Infektion der Abscheulichen bewahrt? Warum hatte sie stattdessen die Infektion vor dem Rest von uns verborgen? »Tötet ihn nicht!«, schrie ich zu anderen hinüber. »Wir brauchen ihn lebend, damit er Fragen beantworten kann!« »Ihn nicht töten?«, fragte Harry. »Ich kann den Bastard nicht einmal verletzen.« Giles trat aus dem Nichts vor und schwang sein Schwert. Die lange Klinge kam in einem breiten Bogen angerauscht und rammte sich in Sebastians dicken, muskulösen Nacken. Die Stahlklinge prallte wirkungslos ab und ließ den Nacken unverletzt. Der Schwung riss Giles fast das Schwert aus der Hand. Er zuckte mit den Achseln, steckte das Schwert in seine Scheide und zog seine Energiewaffe. Er schoss Sebastian aus nächster Nähe in den Kopf. Es gab ein grelles Aufblitzen der abgefeuerten Energien und als wir wieder etwas erkennen konnten, war die Hälfte von Sebastians Kopf weggeplatzt. Er taumelte zur Seite und fiel beinahe. Stücke von verkohltem Hirn fielen aus seinem Schädel. Der Seneschall, Harry und ich schnappten ihn uns und rangen ihn nieder. Wir verwendeten alle Kraft, die die Rüstungen uns gaben, um ihn fest und auf dem Boden zu halten. Er bäumte sich immer noch auf und zuckte unter uns, obwohl sein halber Kopf weg war. Molly und Roger traten vor und tauchten ihn in beruhigende Zaubersprüche und lähmende Beschwörungen. Sebastian entspannte sich mit einem tiefen Seufzer und lag still. Und nur ich sah, was als Nächstes geschah. Molly, die sich auf ihre Zaubersprüche konzentriert hatte, kam ihm zu nahe, und eine Klauenhand schoss vor. Sie streifte Mollys Seite nur. Es schnitt oder verletzte sie nicht, aber durch meine goldene Maske sah ich, wie etwas zwischen ihnen ausgetauscht wurde. Etwas kam aus Sebastian heraus und drang in Molly ein, und es dauerte nur einen Sekundenbruchteil. Molly schrie auf, eher vor Schreck als vor Schmerz und fiel, sich die Seite haltend, hintenüber. Ich schrie ebenfalls, weil ich wusste, was gerade passiert war, auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte. Ich lehnte mich vornüber und schlug Sebastian direkt in sein offenliegendes Gehirn. Blut und verkohltes Hirn flogen aus seinem Kopf und er heulte fürchterlich auf vor Schmerz. Ich holte wieder aus, um erneut mit meiner goldenen Faust zuzuschlagen, aber der Seneschall packte meinen Arm mit seiner gerüsteten Hand. »Langsam, Junge«, sagte er. »Ich versteh's ja, aber du wolltest ihn lebend, erinnerst du dich?« Ich nickte kurz. Ich traute meiner Stimme nicht. Sebastian war jetzt still und der Seneschall und Harry hielten ihn ohne Mühe fest. Er war wieder zu normaler menschlicher Größe zusammengeschrumpft und sein verletzter Kopf heilte schon wieder langsam. Giles stand mit seiner Knarre in der Hand da und war bereit, jederzeit wieder zu schießen, wenn nötig. Ich schrie zu Seltsam hinüber, einige Sicherheitsleute herzuholen und dann ging ich nach Molly sehen. Sie stand etwas abseits und hatte ihre Arme um ihren Körper geschlungen, als versuche sie, sich selbst oder etwas in sich zusammen zu halten. Ich sprach sie an, aber sie schien mich nicht zu hören. Sebastian lachte und ich wandte mich zu ihm. Er kämpfte nicht, aber er hatte sein zerstörtes Gesicht zu mir gedreht. »Mein Torques ist echt, Eddie«, sagte er in einer hohen, höhnischen Stimme. »Er konnte Sebastian nicht beschützen und deiner wird dich nicht beschützen. Deine Leute auch nicht. Ich habe unerkannt unter euch gelebt, und keiner hat irgendetwas vor mir versteckt. Oh, was ich für Geheimnisse kenne! Und welche ich schon ausgeplaudert habe! Die Droods, die wegen mir in den Tod gingen!« Harry schlug ihn ins Gesicht und brach mit einem trockenen Knacken seine Nase. Sebastian hielt inne, um Blut zu spucken, aber er grinste mich immer noch an. »Die Hungrigen Götter kommen, und es gibt nichts, was sie noch aufhalten kann!« »Bringt ihn hier weg«, sagte ich. »Sperrt ihn in einen Käfig, der sicher ist und holt die Wahrheit aus ihm heraus. Nehmt ihn auseinander, bis auf die genetische Ebene, wenn es sein muss, aber findet raus, wie er tickt. Ich will alles wissen, was es über ihn zu wissen gibt.« »Genehmigst du auch extreme Maßnahmen?«, fragte der Seneschall. »Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, aber … das sieht dir nicht ähnlich, Eddie.« »Tu's einfach«, sagte ich. Sebastian hatte Molly infiziert. Etwas Außerirdisches und Abscheuliches wuchs jetzt in ihr, fraß an ihrem Verstand und ihrer Seele, um auch sie in eine Abscheuliche zu verwandeln. Ich wusste es, aber ich konnte es niemandem sagen, ich wagte es nicht. Sie würden sie auch in einen Käfig sperren und sie auseinandernehmen und das konnte ich nicht zulassen. Nicht Molly. Also sagte ich es niemandem. Interessanterweise tat Sebastian das auch nicht. Vielleicht dachte er auch, dass niemand es gesehen hätte. Die zusätzlichen Sicherheitsleute kamen herbeigeeilt, bereits in Rüstung, und der Seneschall und Harry übergaben ihnen Sebastian. Er wehrte sich nicht, aber als sie ihn davonzerrten, schrie er zurück zu uns, seine Stimme war voller schrecklichem Gelächter. »Wenn wir in unserer ganzen Pracht kommen, werdet ihr uns lieben! Wir werden euch dazu bringen, uns zu lieben! Und uns anzubeten und für uns zu arbeiten, obwohl wir euch und eure ganze Welt verschlingen werden! Ihr werdet uns lieben und anhimmeln und willig in unser Schlachthaus gehen! Alles, was lebt, wird uns gehören!« »Wer hat dich infiziert?«, fragte der Seneschall. »Du weißt, dass wir es letztendlich aus dir herausholen werden. War es jemand aus der Familie?« Aber Sebastian lachte und lachte nur, bis sich die Türen mit einem Rumms hinter ihm schlossen. Für eine Weile sagte keiner von uns im Sanktum etwas. Wir waren alle geschockt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Freddie kam aus seiner Ecke, mit blassem und abgespanntem Gesicht und sah uns an, als hätten wir Antworten für ihn. »Er war mein Freund«, sagte er. »Wir haben zusammengearbeitet. Wie konnte er nur infiziert werden, ohne dass ich es gesehen habe? Wie konnte er Sebastian so gut spielen, dass ich es nicht bemerken konnte?« »Die Berührung der Abscheulichen korrumpiert«, sagte der Seneschall. »Ein Teil von ihm war immer noch Sebastian und wollte mit uns zusammenarbeiten. Aber gegen Ende war Sebastian vielleicht nur noch der Mantel, den die Drohne an- und ausziehen konnte.« Ich sah Molly an. Ich sagte immer noch nichts. »Wir müssen genau wissen, wann er infiziert wurde«, sagte Harry. »Damit wir genau wissen, seit wann er hier für den Feind spioniert hat. Wie viel er ihnen gesagt hat. Wie viele unserer Pläne er verraten hat.« Ich warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich hatte den Waffenmeister gebeten, einen Test auszuarbeiten, um herauszufinden, wer von uns infiziert wurde!« »Das hast du«, sagte Harry. »Und der Waffenmeister hat einen Test entwickelt. Wir alle haben uns ihm unterzogen und bestanden. Also wurde Sebastian infiziert, nachdem er getestet wurde, oder …« »Oder der Test ist verdammt nutzlos«, sagte ich. »Der Waffenmeister hat im Laufe der Jahre so viele Wunder für uns entwickelt, dass wir dazu tendieren zu vergessen, dass er von Zeit zu Zeit versagt. Sebastian deutete an, dass noch mehr in der Familie infiziert sind. Vielleicht sogar hier im Herrenhaus. Vielleicht sogar der Original-Verräter, der damals auch dafür gesorgt hat, dass die Abscheulichen sich überhaupt erst auf unserer Welt etablieren konnten. Und er sagte, dass sein Torques für ihn arbeitet, und ihn beschützt und nach der Infektion vor Entdeckung schützt. Seltsam?« »Guck mich nicht an«, sagte Seltsam. »Es hätte nicht möglich sein dürfen. Ich habe eure neuen Torques und Rüstungen nach dem genauen Vorbild und den Fähigkeiten der alten entworfen, die euch das Herz zur Verfügung gestellt hat. Ich kann nur vermuten, dass er schon infiziert war, bevor ich die neuen Torques ausgeteilt habe und dass seiner von der Infektion verändert wurde. Vergesst nicht, die Abscheulichen sind in unserer Realität nur Vorboten der Hungrigen Götter selbst. Und sie sind riesig und mächtig und schrecklich genug, um sogar mir Angst zu machen.« »Wir müssen wieder jeden von uns testen«, sagte ich. »Ich werde mit dem Waffenmeister sprechen und sehen, ob wir den Test etwas aufpeppen können.« »Jeden testen?«, fragte Harry. »Selbst dich?« »Jeden«, antwortete ich. Ich sah Molly nicht an. »Wir müssen wissen, wer wer ist.« »Sebastian sagte, dass es viele seiner Art unter uns gibt«, sagte Freddie. »Sie verstecken sich hinter vertrauten Gesichtern und beobachten uns …« »Der Teufel lügt immer«, sagte ich. »Außer wenn einen die Wahrheit mehr treffen kann«, sagte Molly. »Bist du in Ordnung, Molly?«, fragte Seltsam. »Du scheinst irgendwie …« »Sie ist in Ordnung«, sagte ich. »Ja«, bestätigte Molly. »Ich bin in Ordnung.« »Also«, sagte ich. »Truman hat die Seele Albions. Dafür muss er aktiv mit jemandem aus der Familie zusammengearbeitet haben. Seneschall, irgendwelche Ideen?« »Es gibt immer noch Mitglieder der Null-Toleranz-Fraktion, die offen innerhalb der Familie agieren«, sagte der Seneschall langsam. »Einige könnten auch immer noch Verbindungen zu Truman unterhalten. Innerhalb der Fraktion gibt es solche, die mit seiner Hilfe wieder an die Macht und an eine Position innerhalb der Familie kommen wollen.« »Einschließlich der Matriarchin?«, fragte ich und er nickte widerwillig. »Und auf welcher Seite stehst du in diesem Fall, Seneschall?«, fragte Harry. Der richtete sich zu voller Größe auf, sein pockennarbiges und verunstaltetes Gesicht war kalt und verschlossen. »Ich beschütze die Familie, gegen alles, das sie bedroht.« »Die Matriarchin«, sagte ich nachdenklich. »Liebe Großmutter Martha. Sie hätte Truman mit den notwendigen Worten versehen können, um die Schutzzauber um die Seele zu öffnen.« »Das hätte sie tun können«, erwiderte der Seneschall. »Aber ich habe keine Hinweise darauf, dass das passiert ist oder ich hätte etwas unternommen. Meiner Meinung nach sieht Truman die Seele als sein As im Ärmel, das ihn vor den Eindringlingen beschützt, wenn sie sich gegen ihn wenden.« »Ich kriege wieder eine Meldung von Callan«, unterbrach uns Seltsam. »Ich glaube wirklich, das musst du hören, Eddie.« »Okay, stell ihn durch«, antwortete ich. »Callan, hoffentlich hast du was Gutes für uns.« »Das kommt drauf an, was du gut nennst«, sagte Callan. »Truman hat herausgefunden, dass wir hier sind. Und anstatt uns sofort umzubringen, will er, dass ich dir eine Nachricht überbringe. Er ist bereit, die Seele Albions zu zerstören, es sei denn, die Drood-Familie begibt sich unter sein Kommando. Besonders will er Zugang und Kontrolle zu den verbotenen Waffen, die unter den Armageddon-Kodex fallen. Scheinbar glaubt er, er kann sie benutzen, um die Eindringlinge aus unserer Realität fernzuhalten, nachdem er sie dazu benutzt hat, die Welt zu erobern. Der Idiot! Ich hätte jetzt wirklich gern die Erlaubnis, mich zurückzuziehen, bitte. Ich mag das Gefühl nicht, dass er genau weiß, wo wir sind. Ich kann förmlich spüren, wie sich die Geier versammeln.« »Du bleibst, wo du bist«, sagte ich. »Sprich mit Truman, versprich ihm alles, halt ihn hin. Solange er glaubt, dass es immer noch eine Chance gibt, wird er nichts unternehmen. Ich werde mich wieder bei dir melden, sobald wir eine Entscheidung getroffen haben. Seltsam, Verbindung kappen.« »Er spricht immer noch mit dem Lageraum«, sagte Seltsam. »Auch wenn ›brüllen‹ der zutreffendere Ausdruck wäre. Du liebe Zeit, was für eine Sprache …« »Alles der Reihe nach«, sagte ich. »Wir müssen rausfinden, wer die Verräter in der Familie sind.« »Wir haben keine Zeit für eine Hexenjagd«, meinte Harry. »Nicht, wenn es so viele wichtige Entscheidungen zu treffen gilt.« »Klar, dass du sagen würdest, Harry«, sagte ich. »Ich denke, ich fange damit an, einen netten kleinen Schwatz mit der Matriarchin zu halten. Ich denke, sie wird mit mir reden, wenn ich ihr erst von Sebastian erzähle.« »Du kannst nicht zu ihr«, sagte Harry. »Sie ist krank. Sie empfängt niemanden.« »Sie wird mich empfangen«, antwortete ich. »Seltsam, zeig mir, was die Familie während meiner unbeabsichtigten Abwesenheit unternommen hat, um gegen die Abscheulichen vorzugehen. Fürs Erste nur die Höhepunkte. Den Rest nehme ich später nebenher mit. Zeig mir nur, was ich wissen muss.« Visionen erschienen in Seltsams karmesinrotem Leuchten. Wechselnde Szenen von golden gerüsteten Familienmitgliedern in Schlachten mit Drohnen der Abscheulichen in den albtraumartigen Straßen der Ghoulstädte. Ich sah Dutzende von gerüsteten Gestalten gegen Hunderte von Drohnen vorgehen und jeden töten, der nicht zur Familie gehörte. Die Drohnen waren oft schrecklich missgestaltet, Monster, die nur entfernte Ähnlichkeit mit den Menschen hatten, die sie einmal gewesen waren. Die Droods schlugen sie mit goldenen Fäusten nieder und rissen die Drohnen Glied für Glied auseinander. Ein schneller Tod war die einzige Gnade, die sie zu geben hatten. Sie stürmten durch die engen Straßen, ihre goldene Rüstung schimmerte hell in dem grellen, schmerzhaften Licht der Ghoulstädte. Sie zerstörten Gebäude, rissen sie nieder und schleiften sie mit brutaler Gewalt, um sicherzugehen, dass sie nichts, was sich noch darin verstecken mochte, übersahen. Zuletzt steckten sie die Ruinen in Brand. Ganze Städte gingen in Flammen auf. Es wird ja erzählt, dass Feuer reinigt. Manchmal waren die Drohnen bereits tot und verfielen, und wurden nur von den unnatürlichen Energien in ihrem Innern aufrechterhalten. Manchmal sahen sie auch aus wie du und ich. Sie kamen auf die Straßen, bettelten und weinten und wiesen laut auf ihre Unschuld hin. Aber sie waren schon so verändert, dass sie vergessen hatten, wie normale Menschen zu klingen und sich so zu benehmen. Besonders die Kinder. Die gerüsteten Droods töteten sie alle. Sie mussten Abscheuliche sein, sonst wären sie nicht in einer Ghoulstadt gewesen. Manchmal ließen Familienmitglieder die Rüstung fallen, um sich zu übergeben oder zu weinen oder nur auf dem Bürgersteig zu hocken und sich wie zusammengeschrumpft vor- und zurückzuwiegen. Wir haben uns nie als Killer gesehen. Das ist nicht die Art der Droods. Wir haben es immer vorgezogen, hinter den Kulissen zu operieren, mit kleinen Änderungen hier und da. Um zu verhindern, dass die ganze Familie so etwas wie das hier tun musste. Geheime Kriege sind eine Sache, Massenmord eine andere. Aber wir waren Droods, und wir waren immer in der Lage gewesen, die schwierigen, notwendigen Dinge zu tun. Um die Menschheit zu beschützen. Ich konnte nur hoffen, dass wir keinen Geschmack daran fanden. Ich sah meine Familie die Türme in den Ghoulstädten vernichten; große, unnatürliche Strukturen, teilweise technischer Natur und teilweise organisch. Manchmal schrien die Türme, wenn sie fielen. Sie fielen und fielen und doch gab es irgendwie immer mehr von ihnen … Die Visionen endeten. Ich stand schweigend da und dachte nach. Der Seneschall räusperte sich bedeutsam. »Wir sind weiterhin gehandicapt, weil wir all das vor der breiten Öffentlichkeit geheimhalten wollen. Wir können nicht erlauben, dass sie wissen, was geschieht. Wir halten die Regierungen und die Politiker bis zu einem gewissen Grad auf dem Laufenden und sie kooperieren. Mehr oder weniger. Weltweite Panik und Chaos sind nicht gerade in unserem Interesse.« »Jetzt hast du gesehen, wie schlimm es steht«, sagte Harry. »Die Chancen, die wir haben. Vielleicht hat Truman recht. Vielleicht sollten wir den Armageddon-Kodex öffnen.« »Nein«, sagte ich. »Noch nicht.« »Sag mir, dass du einen wirklich guten Plan hast«, meinte der Seneschall. »Naja«, sagte ich. »Ich habe zumindest einen Plan.« Kapitel Dreizehn Die Wahrheit - und noch ein paar andere Dinge - kommen ans Licht Ich warf jeden hinaus, so schnell ich konnte, ohne dabei allzu offensichtlich zu sein. Ich schickte Giles Todesjäger mit dem Seneschall weg, damit sie neue Trainingsprogramme für die Familie erstellen konnten. Mit den beiden hätte ich gegen jede Armee auf unsere gewettet. Harry und Roger staksten alleine hinaus, zweifellos, um irgendwo anders wieder Unruhe zu stiften. Keiner von ihnen sah mich auch nur an, während er ging. Und nach einer diskreten Pause sagten Molly und ich auch auf Wiedersehen zu Freddie und Seltsam und suchten uns einen stillen Ort, an dem wir sicher und privat miteinander reden konnten. Die Leute starrten uns hinterher, als wir durch die Korridore gingen. Keiner jubelte oder buhte uns tatsächlich aus, sie beobachteten uns nur und behielten ihre Gedanken für sich. Die meisten sahen aus, als würden sie nur darauf warten, dass man ihnen sagte, was sie am besten tun sollten. Ich wusste genau, wie sie sich fühlten. Molly und ich kamen schließlich zum Hauptspeisezimmer im hinteren Teil des Herrenhauses. Es war komplett leer zwischen den Schichten, die Tischreihen standen still und mit makellos weißen Tischtüchern gedeckt da. Es war schwer zu glauben, dass wir achtzehn Monate nicht hier gewesen waren. Molly und ich setzten uns gegenüber hin und ich bemerkte plötzlich, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, was ich sagen sollte. Was sagen Sie, wenn die Frau, die Sie lieben, stirbt? »Es ist nicht, als hätten wir das nicht schon gehabt«, sagte Molly freundlich. »Erinner' dich daran, als du von der seltsamen Materie befallen warst und dachtest, du hättest nur ein paar Tage zu leben? Wir haben auch nicht herumgesessen und haben uns die Augen aus dem Kopf geheult, wir haben einfach weitergemacht. Wir haben es überlebt. Wir werden auch das überleben.« »Wie fühlst du dich?«, sagte ich. »Ich meine, wirklich. Fühlst du dich … irgendwie anders?« »Ich kann etwas … anderes in mir spüren«, sagte sie langsam. »Wie nach einem ausgiebigen Essen. Ein Gefühl der Völle. Als wäre ich auf einmal mehr. Meine üblichen magischen Schutzmechanismen hüllen es für den Moment ein.« Sie lächelte kurz. »Aber auf der anderen Seite würde ich das ja sagen, oder? Wenn ich vom Verstand oder dem Körper her schon eine Drohne der Abscheulichen wäre.« »Nein. Ich kenne den Unterschied. Ich könnte unterscheiden, ob du … du bist.« »Ja«, sagte sie. »Du könntest das vielleicht.« »Lass uns über etwas anderes reden. Wenigstens vorläufig. Gib uns eine Chance, dem Hauptproblem wenigstens nahe zu kommen. Vielleicht lösen wir es ja sogar.« »In Ordnung. Was hast du im Sinn, Eddie?« »Naja … was war das da mit dem Himmel und der Hölle und dem Satz: Ich bin halt ein bisschen rumgekommen?« »Ah«, erwiderte sie. »Ja, ich hatte befürchtet, dass das irgendwann rauskommt. Du bist wirklich gut gewesen, Eddie, wirklich. Du hast nie viele Fragen gestellt, was ich getan habe und was ich versprochen habe, um meine magischen Kräfte zu bekommen. Vielleicht weil du Angst vor den Antworten hattest. Nein, entspann dich, Süßer, ich habe meine Seele an niemanden verkauft. Ich habe im Lauf der Jahre eine ganze Reihe Abkommen und Handel abgeschlossen, mit verschiedenen Mächten. Einige höllisch, andere himmlisch, ein paar außerirdisch. Und ich habe mit Lebensjahren für diese Magie bezahlt. Sieh mich nicht so an, Eddie, ich wollte nie wirklich alt werden. Obwohl - jetzt sieht es ja so aus, als wäre das sowieso irrelevant. Ich habe meine verschiedenen Schuldner mit Lebensjahren meines möglichen Alters bezahlt, und jetzt scheint es so, als würde ich gar nicht so weit kommen. Das Ding, das in mir wächst, wird mich wohl lange vor meiner Zeit umbringen.« »Nicht, solange es mich gibt«, sagte ich. »Ich werde dich nie aufgeben, Molly. Es muss etwas geben, das wir tun können. Das ist das Droodsche Herrenhaus, wir wirken die ganze Zeit Wunder für alle Welt. Da habe ich das Recht, auch eines für mich zu erwarten. Weißt du, ich könnte dir einen Torques besorgen. Genau genommen ist es für jeden, in dem kein Droodsches Blut fließt, verboten, aber ich bin sicher, dass Seltsam uns helfen würde. Ich müsste wahrscheinlich nicht mal erklären, warum. Er ist sehr verständnisvoll - für ein unverständliches, andersdimensionales Wesen.« »Das ist ein netter Gedanke, Eddie, aber ich glaube nicht, dass das funktionieren würde. Der Torques hat Sebastian auch nicht geholfen … nur dabei, seine Lage zu verstecken.« »Okay, vergiss die Idee. Was ist mit dem Waffenmeister? Er hat genügend Wunder für die Familie erfunden, er kann auch eines für mich erfinden. Für dich.« »Aber dann müssen wir's ihm sagen, alles. Können wir ihm völlig vertrauen? Ich will nicht in einem Käfig enden wie die anderen. Nicht, solange es noch Arbeit gibt.« »Kannst du im Feld kämpfen?«, fragte ich. »Wenn nicht, dann weißt du, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Körperlich fühle ich mich gut. Kein bisschen anders. Meine Magie schützt mich vor allem, was da anfangen könnte, sich zu ändern. Geistig …« Molly legte den Kopf schief, als würde sie auf etwas lauschen. »Es ist, als wäre da eine andere Stimme in meinem Kopf, sehr weit weg, aber doch deutlich, schwach, aber hartnäckig.« »Und was sagt sie?«, fragte ich so beiläufig ich konnte. »Rauch Crack und bete Satan an. Nein, ich weiß es nicht. Sie ist zu weit weg. Sie klingt nicht wie etwas … Böses.« Plötzliche Hilflosigkeit durchflutete mich. Ich wollte aufstehen und im Raum herumlaufen, die Tische und Stühle umschmeißen und in der Gegend herumwerfen. Ich musste etwas tun, irgendetwas … Aber ich zwang mich sitzen zu bleiben, still und ruhig. Ich konnte Molly nicht zeigen, wie besorgt ich war. Also saßen wir nur da, und sahen uns über den leeren Tisch hinweg an. »Was sollen wir tun?«, fragte ich endlich. »Wir können es keinem sagen. Wir können keinem vertrauen. Nicht in dieser Sache.« »Wir bleiben ruhig und konzentriert«, sagte Molly. »Eigentlich glaube ich, dass ich ganz gut damit zurechtkomme, meinst du nicht? Ich dachte, ich hätte schon Panikattacken, oder würde hyperventilieren. Du bist derjenige, der aussieht, als würde er gleich einen hysterischen Anfall kriegen.« Ich lächelte knapp. »Ich kann nichts vor dir verbergen, oder?« Molly streckte ihre Hände nach mir aus und ich nahm sie in meine. Sie sah mich ernst an. »Du musst für mich stark bleiben, Eddie, damit ich stark sein kann. Wir können damit fertig werden. Wir können.« »Weißt du«, sagte ich ein wenig sehnsüchtig, »als ich meine Familie vor dem Herz gerettet und den ganzen alten Bösartigkeiten ein Ende gesetzt hatte, dachte ich wirklich, die Dinge werden besser. Ich hätte es besser wissen müssen. Was sollen wir nur tun, Molly?« »Wir zerstören die Abscheulichen und all ihre Werke«, sagte Molly bestimmt und drückte fest meine Hände. »Und unterwegs werden wir die Augen nach etwas aufhalten, das eine Heilung sein könnte. Wenn wir das nicht schaffen, dann … wirst du mich töten, solange ich ich selbst bin. Bevor ich etwas werde, was wir beide hassen würden.« »Ich könnte das nie tun«, sagte ich. »Du musst, Eddie. Nur für den Fall, dass ich nicht stark genug bin, es selbst zu tun.« Wir sahen uns für eine lange Weile an und hielten uns aneinander fest wie Ertrinkende an einem Strohhalm. »Warum hast du mich nicht verraten?«, fragte Molly schließlich. »Warum hast du nicht jedem gesagt, dass ich infiziert und eine Gefahr für die Familie bin? Du weißt, das hättest du tun sollen. Es ist deine Pflicht.« »Ich entscheide, was meine Pflicht ist und was nicht. Das Wichtigste für mich ist, dich zu retten. Ich habe dich hierhergebracht, das Geschehen erst möglich gemacht; also ist es meine Schuld.« »Oh, Eddie. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so schnell bereit ist, sich selbst die Schuld für die Probleme anderer zu geben!« »Ich werde tun, was nötig ist, um dich zu retten, Molly. Wenn du sonst nichts glaubst, glaub das. Es muss eine Antwort geben.« »Und wenn es keine gibt?« »Dann werde ich eine schaffen.« Wir sprachen noch eine Weile, aber sagten nichts Wichtiges mehr. Nur die üblichen, beruhigenden Dinge, die man sich sagt, wenn man im Dunkeln Angst hat. Und am Ende mussten wir gehen, sodass ich meine Arbeit aufnehmen konnte. Die ganze Familie verließ sich auf mich, nicht nur Molly. Und ich habe immer schon meine Pflicht gegenüber der Familie geachtet. Verfluchte Bande. Ich schickte Molly hinunter zum Waffenmeister, zu Onkel Jack. Mit ihm konnte sie über das Problem im Allgemeinen reden und sehen, was er dazu zu sagen hatte. Und ich … ging zu meiner Großmutter. Laut Harry war sie krank; zu krank, um irgendjemanden empfangen zu können. Aber das war ein alter Trick der Matriarchin, den sie anwandte, wenn sie mit niemandem sprechen wollte. Also machte ich mich auf den Weg zu ihrer privaten Suite im obersten Stock, und war überhaupt nicht überrascht, als ich dort zwei weitere von Harrys muskelstrotzenden Schlägern die Tür bewachen sah. Sie sahen mich kommen und beide rüsteten sofort hoch. Es schien, als sei auch schon zu ihnen gedrungen, was ich mit den anderen Dumpfbacken angestellt hatte. Ich schlenderte auf sie zu und tat mein Bestes, um beiläufige Sorglosigkeit auszustrahlen. Beide bewegten sich minimal, aber deutlich, um sich mir in den Weg zu stellen. »Tut mir leid«, sagte der Linke. »Die Matriarchin darf nicht gestört werden. Wir haben unsere Befehle.« »Sie darf überhaupt nicht gestört werden«, sagte der Rechte. »Unter keinen Umständen.« »Das habe ich doch gesagt, Jeffrey«, sagte der Erste. »Naja, ich darf nie was sagen«, sagte der Zweite. »Du übergehst mich immer, Earnest.« »Hör zu«, meinte Earnest. »Können wir später darüber reden?« »Du willst nie über etwas reden«, sagte Jeffrey. Earnest seufzte laut hinter seiner goldenen Maske. »Du bist doch nicht immer noch sauer wegen der Party, oder?« »Party? Welche Party?« »Du bist sauer, du bist immer noch stinkig deshalb.« »Du bist einfach abgehauen und hast mich allein stehen lassen!«, meinte Jeffrey hitzig. »Du weißt doch, dass ich da keinen kannte!« »Ich hab doch gesagt, dass es mir leid tut, oder? Was soll ich sonst sagen?« »Lass mich den Leuten drohen. Ich darf ihnen nie drohen.« »Das liegt daran, dass du das nicht richtig machst«, sagte Earnest. »Ich könnte es aber! Ein bisschen Übung und ich wäre fantastisch darin!« »Okay, okay! In Ordnung. Also, du drohst demnächst. Ich stehe hier und sehe zu. Vielleicht lerne ich ja noch was dabei.« »Entschuldigung«, sagte ich. Jeffrey drehte sich um und sah seinen Partner an. »Du wirst Bemerkungen machen, oder? Laute und sarkastische Bemerkungen.« »Nein, werde ich nicht!« »Doch, wirst du! Du kritisierst mich immer. Du lässt mich überhaupt keinen Spaß haben!« »Ich überlass dir doch die Drohungen, oder? Hör zu, du darfst ihn sogar als Erster schlagen. Wie wär das?« »Wirklich?«, fragte Jeffrey. »Ich darf ihn als Erster hauen?« »Natürlich darfst du! Na los, viel Spaß!« »Danke, Earnest! Das bedeutet mir wirklich viel! Du bist echt ein guter Freund …« »Oh, Mann, mach schon, du großes Weichei. Tritt ihm den Schädel ein.« Ich entschied, dass ich davon jetzt so viel gehört hatte, wie ich ertragen konnte. Ich nahm Merlins Spiegel aus der Tasche, schüttelte ihn zu voller Größe aus, aktivierte die Transportfunktion und klappte dann den Spiegel erst über den einen, dann den anderen Türsteher und schickte den einen so in die Arktis, den anderen in die Antarktis. Dann ließ ich den Spiegel wieder schrumpfen und lächelte in den leeren Korridor hinein. »Wenn ihr in die Vodyanoi-Brüder lauft, dann bestellt ihnen einen schönen Gruß von mir«, sagte ich. Ich klopfte höflich an die Tür der Matriarchin und drückte die Klinke, aber es war abgeschlossen. Ich wartete eine Weile, doch niemand öffnete. Ich klopfte wieder, diesmal mit etwas mehr Nachdruck. Jetzt hörte ich auf einmal die Stimme der Matriarchin von der anderen Seite. »Ja bitte? Wer ist da?« »Ich bin's, Eddie, Großmutter. Ich bin zurück. Kann ich hereinkommen und mit dir reden?« »Die Tür ist abgeschlossen. Und ich habe keinen Schlüssel.« Ich hob eine Augenbraue. »Okay, Großmutter. Ich krieg die Tür schon auf. Du solltest zurücktreten.« »Wag es nur nicht, meine Tür einzutreten, Edwin Drood! Sie ist eine wertvolle Antiquität!« Ich seufzte leise in mich hinein. »In Ordnung, Großmutter. Gib mir einen Augenblick.« Ich kniete nieder und sah mir das Schloss an. Altmodisch, plump und überhaupt kein Problem. Ich rüstete meine rechte Hand auf, konzentrierte mich und eine dünne Verlängerung der seltsamen Materie verschwand im Schloss. Sie passte sich genau den Gegebenheiten an und wurde zu einem Schlüssel. Die Aufgaben und Fähigkeiten eines Droodschen Frontagenten sind zahlreich und vielfältig. Ich schloss die Tür auf, rüstete ab, schubste die Tür auf und ging ins Wartezimmer der Matriarchin. Sie stand genau in der Mitte des Wartezimmers, ganz allein. Ohne die übliche Anzahl von wartenden Familienmitgliedern, Freunden und Speichelleckern schien der Raum sehr groß und leer. Die Matriarchin selbst schien irgendwie kleiner und schmächtiger zu sein. Sie tat ihr Bestes, um aufrecht und stolz dazustehen, aber das erste Mal, seit ich sie kannte, sah ich, dass es sie anstrengte. Sie war formell gekleidet, aber ihre lange graue Mähne hing ungepflegt herab, anstatt dass sie sie hochgesteckt hatte. Sie nickte steif zu mir herüber, eine bleistiftdünne alte Lady, die nicht mehr viel außer ihrer Würde besaß. »Edwin, es ist schön, dich zu sehen.« »Dich auch, Großmutter. Darf ich fragen: Wie kommt es, dass du in deinen eigenen Räumen eingesperrt bist?« »Ich wurde gefangen gehalten!«, sagte sie wütend. Sie spie die Worte geradezu aus. »Harry hat mich für Monate unter Bewachung gehalten und mir verboten, mit dem Rest der Familie zu kommunizieren!« »Warum sollte er das tun?« »Weil ich herausgefunden habe, was er ist.« Martha sah mich misstrauisch an. »Wusstest du es, Eddie? Du hast immer schon Dinge gewusst, von denen du keine Ahnung hättest haben sollen. Nein, natürlich nicht. So etwas hättest du mir gesagt. Komm mit in meine privaten Räume, Edwin. Ich glaube, es ist nicht sicher, hier zu reden. Man weiß nie, wer einem dieser Tage zuhört.« Sie führte mich in ihr Schlafzimmer. Die Vorhänge waren geschlossen, was den Raum auf eine gemütliche Weise schummrig wirken ließ. Alistair lag immer noch flach auf dem Rücken in seinem Bett, und war immer noch wie eine Mumie in Bandagen gewickelt. Eine einzige Decke lag auf ihm, die sich kaum unter seinen Atemzügen hob. Er reagierte nicht, als die Matriarchin und ich hereinkamen und die Tür hinter uns schlossen. Martha sah ihn ausdruckslos an. »Keine Sorge, er schläft. Er weiß nicht einmal, dass wir hier sind. Er schläft jetzt die meiste Zeit. Es wird immer schwieriger, ihn zu seinen Mahlzeiten zu wecken. Er sollte eigentlich auf der Krankenstation liegen, aber ich hasse den Gedanken daran, ihn dort allein zu lassen mit all den Schläuchen. Jeder andere wartet nur darauf, dass er stirbt, aber sie kennen meinen Alistair nicht. Du wirst schon sehen, eines Tages wacht er wieder auf und ist wieder er selbst. Wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft. Setz dich, Edwin.« Wir setzten uns in die bequemen Sessel vor dem leeren Kamin, einander gegenüber. Die Matriarchin betrachtete mich einen Moment intensiv. »Du hast dich verändert, Edwin. Du bist älter geworden. Aber auf der anderen Seite hast du ja auch viel durchgemacht, nicht wahr? Du bist erwachsen geworden. Ich wusste, dass das eines Tages passieren würde. Es steht dir gut. - Aber so viel ist passiert, während du nicht hier warst. Eineinhalb Jahre, Edwin! Wo warst du die ganze Zeit?« »Ich bin durch die Zeit gereist, Großmutter. Ich bin in die Zukunft gereist und habe einen mächtigen Krieger gefunden, um der Familie zu helfen. Es war geplant, nur ein paar Sekunden anzukommen, nachdem wir abreisten, aber …« Die Matriarchin schnaubte laut. »Der Zeitzug. Ich hätte es wissen müssen. Es gibt gute Gründe, warum wir dieses dumme Ding nicht benutzen. Ich hätte dir sagen können, dass man sich nicht darauf verlassen kann, aber du fragst ja nie jemanden, nicht wahr? Du warst einfach sicher, dass du es besser weißt. Ich hätte schon vor Jahren anordnen sollen, dass er auseinandergenommen wird, aber ich hatte das dringende Gefühl, dass die Familie ihn eines Tages brauchen würde.« »Was ist los mit dir, Großmutter?«, fragte ich geduldig. »Ich wurde praktisch seit dem Moment, in dem du verschwandest, in diesen Räumen gefangen gehalten. Harry kam, um mich zu sehen. Er sagte es sei notwendig, dass er die Leitung der Familie übernehme, solange du fort seiest und ich war bereit, ihm dafür meinen Segen zu geben. Du musst das verstehen, Edwin; er sagte das Richtige, versprach mir das Richtige. Er ließ mich glauben, dass er die traditionellen Werte der Familie verkörpere. Ganz anders als du. Aber obwohl er all die Dinge sagte, die ich hören wollte, habe ich ihm nicht vollständig vertraut. Ich habe diese Familie zu lange geführt, um alles für bare Münze zu nehmen, was man mir erzählt. Also hatte ich ein stilles und sehr diskretes Gespräch mit dem Seneschall. Nur um sicherzugehen. Der Seneschall wollte mir nicht sagen, was er wusste, aber ich zwang ihn dazu. Und so fand ich die Wahrheit über Harry heraus. Dass er ein Abtrünniger ist und eine Abscheulichkeit! Geht mit seinem eigenen, höllengezeugten Halbbruder ins Bett! Und er wagte es, mich anzusehen und mir zu sagen, er glaube an die alten Familienwerte! Ich zitierte ihn zu mir und konfrontierte ihn mit dem, was ich wusste - und er versuchte nicht einmal, sich zu verteidigen. Er seufzte nur und zuckte mit den Achseln und sagte, es mache keinen Unterschied. Er habe die Familie unter Kontrolle und brauche mich nicht mehr. Er sperrte mich in meinen eigenen Räumen ein und stellte seine Wachen vor meine Tür. Sie sorgten für meine Bedürfnisse und achteten darauf, dass es Alistair und mir an nichts mangelte - aber nichts, was ich sagte oder versprach oder drohte, konnte ihre Meinung ändern. Sie sind Harrys Kreaturen. Ich habe seit über einem Jahr mit keiner lebenden Seele gesprochen. Oh, Harry hält mich über alles, was passiert, auf dem Laufenden. Ich bekomme regelmäßig Berichte und ich werde um nützliche Kommentare gebeten - die ich auch gebe. Meine Pflicht der Familie gegenüber hat sich nicht geändert. Aber du musst mich hier herausholen, Eddie. Harry ist dem Job nicht gewachsen. Die Familie verliert diesen Krieg. Ihr braucht meinen Rat und meine Erfahrung!« »Ja«, sagte ich. »Das tun wir. Aber ich bin zurück und ich bin wieder am Zug, Großmutter. Und ich werde das auf meine Art tun. Bist du jetzt bereit, mit mir zu kooperieren?« »Natürlich. Ich hatte lange Zeit, um über alles nachzudenken. Du und ich werden uns über viele Dinge nie einig sein, aber die Bedürfnisse der Familie gehen vor. Und jetzt braucht sie uns beide.« Sie sah auf die regungslose Gestalt auf dem Bett. »Er wird mich nicht vermissen. Er reagiert nicht einmal mehr auf meine Stimme. Jeder andere Pfleger ist genauso gut, bis er wieder erwacht.« Sie sah wieder zu mir. »Ich habe dir nicht vergeben, was du ihm angetan hast. Das werde ich nie. Aber die Pflicht kommt zuerst. Ich habe das immer gewusst.« »Dann sollten wir hinunter in den Lageraum gehen«, sagte ich. »Damit du dort das Kommando übernehmen kannst. Du kannst das weit besser, als ich es je könnte. Und sie könnten da unten etwas Führung gebrauchen.« Die Matriarchin sah mich direkt an. »Ich führe den Lageraum und du den Krieg. Wir können alles andere besprechen, nachdem wir den Krieg gewonnen haben.« Ich grinste. »Ich freue mich schon drauf, Großmutter. Aber wir sollten etwas klarstellen. Du brauchst mich jetzt, wo Harry dich enttäuscht hat. Das ist der wahre Grund, warum du all dem zustimmst. Du hast mir nicht verziehen, dass ich dich vom Thron gestoßen und die Art und Weise geändert habe, wie es in der Familie läuft. Und ich habe dir all die Kinder nicht vergeben, die über die Jahre dem Herzen geopfert wurden. Wir können zusammenarbeiten und das werden wir auch tun, weil die Familie und die Welt das brauchen. Aber versteh mich richtig, Großmutter: Mach einen Versuch, meine Autorität zu untergraben oder versuch auch nur, die Kontrolle wieder an dich zu reißen und ich sorge dafür, dass du umgehend wieder hier landest und eingesperrt wirst. Auf Dauer.« Sie lächelte mich an, dieses alte, vertraute, und kalte Lächeln. »Siehst du Edwin, du hast verstanden, wie man diese Familie leiten muss. Ich werde aus dir schon noch einen Drood machen. Ich erkläre mich mit all deinen Bedingungen einverstanden. Solange es dauert.« Ich schüttelte langsam den Kopf. »Selbst wenn ich einen Streit mit dir gewinne, habe ich das Gefühl, ich hätte ihn verloren. Eine letzte Frage, bevor wir gehen. Es wird immer deutlicher, dass es einen langjährigen Verräter geben muss, der mitten in der Familie sitzt. Jemand, der möglicherweise von den Abscheulichen infiziert ist, vielleicht sogar die Person, die seinerzeit dafür verantwortlich war, dass sie überhaupt hergeholt wurden. Hast du eine Idee, wer das sein könnte? Kommt dir irgendjemand in den Sinn?« Sie starrte mich schockiert an. »Einen langjährigen Verräter? Unentdeckt seit dem Zweiten Weltkrieg? Unmöglich!« »Leider nicht, Großmutter. Bist du sicher, dass dir niemand einfällt?« »Ja. Es ist undenkbar …! Aber auf der anderen Seite ist so viel passiert, das ich einmal für undenkbar hielt. Ich werde die alten Familienchroniken konsultieren und sehen, ob dort etwas eine Erinnerung wachruft.« »Okay. Dann lass uns gehen. Der Lageraum wartet.« »Nein«, sagte Martha. Der autoritäre alte Kommandoton war jetzt wieder in ihrer Stimme. »Da ist immer noch etwas, was unbedingt sofort getan werden muss, zum Wohl der Familie. Du musst den Ausschluss von Harry und die Hinrichtung seines Liebhabers, diesem Höllengezücht, veranlassen. Man darf ihnen nicht gestatten, die Familie mit ihrer Anwesenheit länger zu infizieren.« »Nein«, sagte ich und meine Stimme war so kalt und autoritär wie ihre. »Harry ist ein guter Frontagent, mit einer Menge Erfahrung. Wir brauchen ihn noch. Ich werde ihn nicht zum Vogelfreien erklären, nur weil er … Ich meine, komm schon, Großmutter, wir hatten doch schon schwule Leute in der Familie, seit Ewigkeiten. Das musst du doch bemerkt haben.« »Natürlich habe ich das bemerkt! Mich kümmert doch nicht, dass er homosexuell ist! Deine Generation glaubt ständig, sie hat den Sex in all seinen Spielarten erfunden. Mich kümmert es einen feuchten Dreck, dass Harry schwul ist, mich kümmert, dass er es mit seinem Halbbruder ist! Inzest wie dieser ist bei den Droods strikt verboten, Edwin. Er muss es sein, oder wir wären schon längst Opfer der Inzucht geworden. Die Lebendigkeit und Kraft der Droodschen Blutlinie müssen strikt bewahrt werden, deshalb werden Heiraten immer so sorgfältig erwogen und wenn nötig auch verboten. Und darüber hinaus nimmt er auch noch ein Ding aus der Hölle als Liebhaber! Ich kann nicht glauben, dass du einer Höllenbrut Zugang zu diesem Haus gestattet hast!« »Roger ist James' Sohn«, sagte ich vorsichtig. »Er ist immerhin dein Enkel, genau wie Harry und ich.« »Er ist ein Dämon und man darf ihm nicht vertrauen«, sagte Martha rundheraus. »Töte ihn, Edwin. Zum Wohl der Familie und der Welt.« »Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich. »Das habe ich dir immer gesagt, als du noch ein Kind warst und ich nicht die geringste Absicht hatte, das zu tun, was du wolltest«, sagte Martha trocken. »Vielleicht hast du recht«, sagte ich. »Ich werde wohl wirklich langsam erwachsen.« Wir standen beide auf. Die Matriarchin trat vor und für einen Moment glaubte ich, sie wolle mir die Hand formell schütteln. Stattdessen legte sie die Hände auf meine Schultern, drückte sie kurz und lächelte mich an. »Mach mich stolz, Eddie.« »Ich werde mein Bestes tun, Großmutter.« »Das weiß ich.« »Großmutter …« »Ja, Eddie?« »Du warst diejenige, die dem Premierminister gesagt hat, wo und wann er mich finden kann, als ich zu meiner alten Wohnung wollte, nicht wahr?« »Aber natürlich, mein Lieber. Siehst du, du fängst ja doch an, wie ein Drood-Führer zu denken.« Wir holten eine Schwester, die sich zu Alistair ans Bett setzte, und dann gingen die Matriarchin und ich hinunter in den Lageraum. Den ganzen Weg blieben die Leute stehen und gafften uns an - und brachen dann in spontanen Applaus aus. Einige jubelten sogar. Keiner hatte Martha seit eineinhalb Jahren in der Öffentlichkeit gesehen und jetzt war sie hier neben mir unterwegs. Die Nachricht verbreitete sich rasant und zu dem Zeitpunkt, als wir unten am Lageraum ankamen, hatten sich schon Massen von Menschen in den Korridoren und Gängen versammelt und jubelten uns zu. Die Matriarchin ignorierte sie alle mit einem steifen Rücken und hocherhobenem Kopf und sie liebten sie dafür. Einiges vom Jubel und dem Applaus war aber auch an mich gerichtet und ich deutete ein paar Kopfnicker und Lächler an und versuchte sehr sorgfältig, mir das nicht zu Kopf steigen zu lassen. Als wir endlich in den Lageraum kamen, lief eine spürbare Welle von Erleichterung durch den großen Raum. Männer und Frauen erhoben sich an ihren Konsolen und Arbeitsstationen, um uns zuzujubeln und zu klatschen. Ein paar pfiffen sogar. Martha verbeugte sich einmal in den Raum hinein und machte dann eine schnelle Schnittgeste. Der Applaus stoppte auf der Stelle. Ich glaube nicht, dass ich das selbst zu meinen besten Zeiten geschafft hätte. Die Matriarchin stieß mit scharfer und autoritärer Stimme ein paar rasche Befehle aus, die vor allem ruhig und professionell klangen. Schon bald waren die Leute wieder an der Arbeit und mit neuer Begeisterung und Selbstvertrauen über ihre verschiedenen Stationen gebeugt. Botengänger flitzten hin und her wie die Verrückten und sammelten die Informationen ein, um die Matriarchin auf dem Laufenden zu halten, während andere sicherstellten, dass sie eine frische Kanne Tee und ein neues Paket gefüllte Kekse bekam. Manchmal glaube ich, diese Familie läuft nur, wenn es Tee und gefüllte Kekse gibt. Ich stand im Hintergrund und sah zu. Es ist immer eine Freude, einen wirklichen Profi am Werk zu sehen. Die Leute von der Kommunikation hatten schon bald die Verbindung mit den Regierungsoberhäuptern der ganzen Welt hergestellt - jede Regierung, jedes Land und jedes Individuum, das etwas zu sagen hatte. Monitore rund um den Lageraum zeigten Gesichter, die grimmig dreinschauten, und die Translatorprogramme gaben ihr Bestes, als die Matriarchin sich mit gewohnt ruhiger Autorität an sie wandte. Einige der Adressaten schienen froh zu sein, dass sie zurück war. Martha ging von Monitor zu Monitor und sprach mit jedem persönlich. Durch eine sorgfältig kombinierte Mischung aus ruhiger Vernunft, Süßholzraspeln, unterschwelligen Drohungen und hin und wieder der Erinnerung daran, dass sie wusste, wer alles eine Leiche im Keller hatte, hatte die Matriarchin schon bald alle wichtigen Leute dieser Welt so weit, dass sie sich überschlugen, um mit uns gegen die Abscheulichen zu kooperieren. Sie versprachen Geld, Verstärkung, Militärressourcen und - und das war das Wichtigste - sie waren alle damit einverstanden, uns von den Füßen zu bleiben, solange wir taten, was nötig war. Martha schaltete schließlich einen nach dem anderen ab und streckte sich dann, langsam, wohlig, wie eine Katze. Sie setzte sich mit königlicher Würde an ihre Kommandostation und lächelte mich kurz an. »Und das ist der Grund, Edwin, warum die Familie das Sagen haben muss. Weil wir diejenigen sind, die das Equipment haben, das wirklich ganze Bild zu sehen und dabei unabhängig genug sind, dass die Leute unseren Rat als objektiv betrachten. Wir können jeden überzeugen, unabhängig von der Politik, das zu tun, was zum Wohle aller ist. Du kannst Politikern nie trauen, das Richtige zu tun, Edwin, weil sie tief in ihrem Herzen nichts anderes im Sinn haben, als an der Macht zu bleiben. Sie leben in der Gegenwart, es ist an uns, langfristig zu denken.« Ich lächelte nur, nickte und sagte nichts. Später war noch Zeit für philosophische Streitereien, wenn wir erst einmal geschafft hatten, dass es ein ›Später‹ geben würde. Ich blieb nur so lange, bis ich sicher war, dass sie die Dinge fest im Griff hatte, dann verließ ich den Lageraum und ging hinunter in die Waffenmeisterei, wo Molly auf mich wartete. Ich war froh, die Waffenmeisterei wieder so lärmend und hochgefährlich vorzufinden, wie sie gewöhnlich war; voller Knalle, greller Blitze und den gelegentlichen unglücklichen Transformationen. Fröhliches Chaos und Durcheinander herrschten um mich herum, als ich durch das Gewölbe ging und nach Molly und Onkel Jack suchte. Jetzt, wo die Laborpraktikanten ihre Rüstung zurückbekommen hatten, waren sie auch wieder zu ihren üblichen, waghalsigen Methoden zurückgekehrt und dachten wieder in ihren gewohnten produktiven und selbstzerstörerischen Bahnen. Am Schießstand wechselte sich ungefähr ein Dutzend gerüsteter Gestalten dabei ab, neue Gewehre aneinander auszuprobieren. Die Rüstung absorbierte alle Arten von Geschossen, von Projektilwaffen, Fluchschleudern bis zu handlichen Granatwerfern. Der Lärm in dem begrenzten Areal war ohrenbetäubend. Ich erinnerte mich noch daran, dass der Waffenmeister einmal eine Waffe erfunden hatte, die kleine Schwarze Löcher verschoss. Es brauchte sechs Leute, um ihn zu Boden zu ringen und ihm das verdammte Ding aus der Hand zu winden, bevor er demonstrieren konnte, wie es funktionierte. Eine junge Dame probierte gerade die neueste Version eines Teleportationsgewehrs. Ich blieb stehen, um mir das anzusehen. Die Familie versucht schon seit Jahren, die Fehler des Dings auszumerzen. Die Grundidee ist recht einfach: Man richtet die Waffe auf etwas und es verschwindet. Praktisch tendierte das Gewehr dazu, nach hinten loszugehen und wir hatten so schon eine Menge Praktikanten verloren. Diese Praktikantin hier war fest an einen Bolzen im Boden gekettet, als sie ihr Gewehr auf einen Zieldummy abfeuerte. Das linke Bein der Puppe verschwand und sie kippte vornüber. Die Praktikantin schrie triumphierend auf und tanzte einen kleinen Siegestanz. Auf einmal erschien das Bein wieder, und flog mit voller Kraft auf sie zu. Wo auch immer die Teleporterwaffe das Ding hingeschickt hatte, dort hatte man es offenbar nicht haben wollen. Jemand anderes versuchte, einen Tarnumhang zum Funktionieren zu bringen, aber alles, was der Mantel bewirkte, war, den Träger halb transparent erscheinen zu lassen. Wir konnten sehen, wie seine Organe arbeiteten. Schönheit ist wirklich etwas sehr Oberflächliches. Eine große Explosion schickte ein halbes Dutzend gerüstete Gestalten quer durch die Luft. Keiner sah sich um. Zwei mutigere oder vielleicht auch selbstmörderisch eingestellte Praktikanten duellierten sich mit atomar betriebenen Würgehölzern hinter tragbaren Strahlenschilden. Na, lieber die als ich. Und einer mit einem dritten Auge auf der Stirn blätterte hektisch in seinen Notizen, um herauszufinden, was falsch gelaufen war. Alles beim Alten in der Waffenmeisterei. Ich fand Molly im Gespräch mit dem Waffenmeister, der wie üblich an seiner Arbeitsstation saß. Oder wenigstens hörte Molly zu, während er sprach. Offenbar war Onkel Jack sehr enttäuscht darüber, dass sein Test, die Drohnen in der Familie zu finden, so schlecht funktioniert hatte. Er unterbrach sich, um mich düster anzustarren, als ich herankam. »Wurde auch Zeit, dass du wieder auftauchst. Ich habe dich gewarnt, es kommt nichts Gutes dabei raus, wenn man mit Zeitreisen rumspielt.« »Ich hab dir eine Energiewaffe mitgebracht«, sagte ich. Er schnaubte laut. »Ich hab sie gesehen. Das Ding ist Schrott. Ich habe schon Besseres während meiner Teepausen in Gedanken entworfen. Und mich kümmert nicht, was andere sagen, mein Test war perfekt geeignet!« »Wie hat er funktioniert?«, fragte ich geduldig. Er schnaubte erneut, diesmal sogar noch abfälliger. »Als ob du das verstehen würdest, selbst wenn ich dir das in einsilbigen Worten und zusammen mit einer Diashow erklären würde.« »Versuch's doch mal.« »Er prüfte, sehr gründlich, die Anwesenheit von andersdimensionalen Energien im Testobjekt. Im Prinzip suchte er nach allem, was nicht in unsere Realität gehörte.« Ich nickte. »Ja, das hätte funktionieren müssen.« Der Waffenmeister zog eine Grimasse und fummelte geistesabwesend an einer übergroßen Granate auf dem Tisch vor ihm herum, bis ich sie ihm wegnahm. »Wir müssen den Test an jedem Einzelnen wiederholen«, sagte er unglücklich, »Und diesmal die Torques berücksichtigen! Die sind ja auch andersdimensionale Dinge, ich hätte erkennen müssen, dass sie dazu benutzt werden könnten, die Resultate zu verstecken oder zu verzerren.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich werde wohl alt. Sonst geht mir so etwas nicht durch die Lappen.« »Du baust immer noch die besten Spielzeuge der Welt, Onkel Jack«, versicherte ich ihm. Er lächelte kurz. »Also, hast du diesmal eine Chance bekommen, mein neues Teleportationsarmband auszuprobieren?« »Ah …«, sagte ich. »Das ist nicht fair!«, meinte der Waffenmeister verbittert. »Ich arbeite jede Stunde von Gottes schönen Tagen und auch an ein paar, von denen er nichts weiß, erfinde Waffen und Geräte für diese Familie und dann kümmert sich keiner auch nur einen Deut darum, sie auch mal in einem verdammten Einsatz auszuprobieren!« »Hör zu, ich war beschäftigt, okay?«, sagte ich. »Da in der Zukunft waren scheußlich viele Leute darauf aus, mich zu töten.« »Gut«, sagte der Waffenmeister. »Das Wichtigste«, sagte ich schnell, bevor er wieder mit einer seiner Jammertiraden begann, »ist rauszufinden, warum Sebastians Torques ihn gar nicht erst vor den Abscheulichen beschützte. Selbst, wenn es passiert wäre, bevor er seinen neuen Torques bekam; die Rüstung hätte die Infektion in ihm erkennen und daran arbeiten müssen, sie zu zerstören. Stattdessen scheint es so, dass Sebastian in der Lage war, den Torques dazu zu benutzen, seine Infektion vor deinem Test und dem Rest der Familie zu verstecken.« »Sieh mich nicht so an«, sagte der Waffenmeister steif. »Die Familienrüstung war immer ein Rätsel. Keiner war je ganz sicher, was sie eigentlich kann. Das gilt für die alte und für die neue. Das Herz wollte nicht darüber reden. Vielleicht würde Seltsam … du solltest ihn fragen, Eddie.« »Das habe ich schon«, sagte ich. »Er war keine große Hilfe.« »Hmmm.« Der Waffenmeister lehnte sich in seinem Stuhl zurück und runzelte nachdenklich die Stirn. »Na ja, theoretisch … Die Infektion ist sowohl mental als auch geistig und körperlich. Wenn der Verstand sich ändert - oder wenn du willst, neu programmiert wird -, dann passt sich der Körper an die Bedürfnisse des Verstandes an. Die Torques haben uns immer vor telepathischen Angriffen und dämonischen Besessenheiten bewahrt, aber das hier ist etwas anderes. Die Abscheulichen sind nun mal nichts weiter als dreidimensionale Ausbuchtungen weit mächtigerer Wesenheiten in unsere Realität. Die Vielwinkligen oder Hungrigen Götter kommen von einem Ort, wo die Regeln der Realität ganz anders sind - und vielleicht sogar den unseren überlegen. Wenn die Abscheulichen wirklich aus einer höheren Realität stammen, kann ihre Gegenwart vielleicht ausreichen, um unsere Naturgesetze mit ihren eigenen zu überschreiben, wenn auch selbstverständlich nur begrenzt. Man könnte jede Infektion als einen neuen Brückenkopf in unsere Realität sehen. Jede neue Drohne hilft dabei, die örtlichen Gesetze zugunsten ihrer eigenen außer Kraft zu setzen. Hmmm, ja … Ein sehr besorgniserregender Gedanke, das. Aber er bringt mich auf ein paar Ideen, mit denen ich meinen Test modifizieren kann. Jetzt weiß ich, wonach ich suchen muss.« »Wir haben nicht viel Zeit, Onkel Jack.« »Ich weiß, ich weiß! Du erwartest immer Wunder in einer unmöglichen Zeit von mir! Es ist kaum zu glauben, dass ich überhaupt noch dunkle Haare habe. Ich hätte wahrscheinlich auch ein Magengeschwür, wenn ich nur genug Zeit hätte, eines zu entwickeln. Also, du hast den neuen Test Ende des Tages. Und jetzt geh weg und geh jemand anderem auf die Nerven.« »Eigentlich«, sagte Seltsam und seine Stimme dröhnte auf einmal ganz in der Nähe, »kann ich jetzt, wo ich weiß, wonach ich suchen muss, den Test für dich durchführen.« »Du lieber Gott, Seltsam, lass das!«, sagte ich, als wir alle zusammenzuckten. »Hast du schon wieder gelauscht? Nach dieser langen Unterhaltung, die wir beide über menschliche Konzepte wie Privatsphäre, Gute Manieren und Kümmer' dich um deine Angelegenheiten, wenn du niemanden mordsmäßig verärgern willst geführt haben?« »Aber das ist wichtig, Eddie, ist es wirklich, ich versprech's! Ich habe schon deine ganze Familie gecheckt und ihre Gäste und ich habe eine Menge Drohnen gefunden!« »Wie viele?«, fragte ich und eine plötzliche Vorahnung schickte mir einen Schauer den Rücken herunter. »Siebenundzwanzig«, sagte Seltsam. Molly und ich sahen uns an und dann den Waffenmeister. Er schien in sich zusammenzusinken. »Das ist doch nicht möglich«, nuschelte er. »Ich kann doch nicht so viele übersehen haben.« »Bist du sicher, Seltsam?«, fragte ich. »Du musst dir da wirklich sicher sein.« »Das gehört nicht zu den Dingen, die ich falsch machen könnte«, sagte Seltsam traurig. »Die andersdimensionale Herangehensweise ist wirklich ziemlich eindeutig. Ein Torques konnte euch nicht beschützen, weil die Hungrigen Götter aus einer höheren Realität kommen, als es meine ist. Sie machen mir Angst, Eddie. Sie können mich einfach so als Partysnack verspeisen.« »Hören jetzt bitte mal alle auf mit der Panik?«, rief ich. »Das geht mir ungeheuer auf die Nerven. Ich habe hier das Sagen, also bin ich auch der Einzige, der hier Panik haben darf. An alle anderen: Ich sage euch, wann ihr dran seid. Reiß dich mal zusammen, Seltsam, oder ich fange an zu glauben, dass du gar nicht so toll bist, wie du immer erzählst. Was zählt, ist, dass wir das Ganze immer noch gewinnen können. Also Seltsam, jetzt gehst du zum Seneschall, gibst ihm die betreffenden Namen und sagst ihm, er soll die betreffenden Drohnen in Verwahrung nehmen. In ganz sichere Verwahrung. Sag ihm, er soll das ruhig machen und diskret - keine öffentliche Gewalt, außer es ist absolut nötig. Wir wollen den Rest der Familie nicht aufregen. Ich will alle siebenundzwanzig lebend und in der Lage, Fragen zu beantworten.« »Ja, Eddie. Und was Molly angeht -« »Nicht jetzt, Seltsam«, sagte ich bestimmt. »Wir werden später darüber reden.« »Ja, Eddie.« »Ist etwas nicht in Ordnung mit dir, Molly?«, fragte der Waffenmeister. »Du siehst sehr blass aus. Und Seltsam klang, als mache er sich Sorgen um dich.« »Oh, das ist nur etwas, das während unserer Zeitreise passiert ist«, sagte Molly leichthin. Sie lenkte ihn mit Details über den gelben Drachen und dem Sternenbogen ab, während ich ein wenig spazierenging, um meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Ich hatte gehofft, irgendeinen Weg finden zu können, Mollys Problem mit Onkel Jack zu besprechen, aber dieser neue Notfall hatte Vorrang. Siebenundzwanzig infizierte Familienmitglieder, und alle arbeiteten sie im Geheimen, um uns zu untergraben und betrügen. Kein Wunder, dass der Krieg während meiner Abwesenheit so schlecht gelaufen war. Es musste einen eigentlichen Verräter geben, der tief in der Familie saß und seine Infektion weitergegeben hatte. Oder konnte es sein, dass derjenige vielleicht gar nichts davon wusste? Dieser Gedanke erinnerte mich an eine alte Sorge, um die ich mich seit meiner Rückkehr noch nicht gekümmert hatte. Ich sah mich um. Molly hatte Onkel Jack dazu gebracht, über ihre Geschichten zu kichern. Die Laborpraktikanten waren alle in ihre eigenen gefährlichen Dinge vertieft. Also suchte ich mir eine stille Stelle, versteckt hinter einem Explosionsschild und nahm Merlins Spiegel heraus. »Zeig mir Penny Drood und Mr. Stich«, befahl ich ihm. »Wo sind sie gerade?« Mein Spiegelbild verschwand und wurde von einem Blick in Pennys Zimmer ersetzt. Sie saß elegant auf der Kante ihres Bettes und eines ihrer langen Beine schwang leicht hin und her. Wie immer trug sie einen hautengen Pulli über schmalen grauen Hosen und sah so cool und beherrscht aus wie man sie kannte. Und dann schien sich die Sicht etwas zu erweitern und zeigte mir Mr. Stich, der auf der anderen Seite des Raums stand und Penny nachdenklich betrachtete. Er trug einen dunklen Anzug und sah beinahe aus wie jedermann - bis man ihm ins Gesicht und in die Augen sah. Selbst so ruhig erkannte man Mr. Stich als das, was er wirklich war. Er hätte genauso gut auch ein über die Augenbrauen tätowiertes Kainsmal tragen können. Aber Penny lächelte ihn an, als wäre er einfach ein Mann von vielen. »Du solltest nicht so weit von mir weg stehen. Ich vertraue dir.« »Das solltest du nicht«, sagte Mr. Stich. »Nach all der Zeit, die wir miteinander verbracht haben? Wenn du mir hättest wehtun wollen, dann hättest du das schon vor langer Zeit tun können. Aber du bist schon seit über einem Jahr hier im Herrenhaus, und du hast niemanden verletzt. Du bist stärker, als du denkst, ich wünschte, ich könnte dich dazu bringen, das zu glauben.« Mr. Stich lächelte kurz. »Wenn es jemand könnte, dann du.« »Warum willst du mir deinen richtigen Namen nicht sagen? Mr. Stich ist doch kein Name, es ist ein Titel, eine Berufsbeschreibung.« »Du könntest mich immer Jack nennen.« »Nein, könnte ich nicht«, sagte Penny entschieden. »Das warst du früher, aber das bist du nicht. Ich denke nicht, dass dir bewusst ist, wie sehr du dich in der Zeit hier verändert hast. Du hast Studenten und Anhänger. Deine Vorlesungen sind immer voll, du hast einen Platz hier, bei uns. Bei mir. Du hast mir Seiten deines Ichs gezeigt, die du noch nie jemandem gezeigt hast. Du hast mich näher an dich herangelassen, als irgendjemanden sonst.« »Ja«, sagte Mr. Stich. »Das habe ich.« Er ging zu ihr hinüber und setzte sich neben sie auf das Bett. Sein Rücken war gerade und ein wenig steif, und er hielt seine Hände zusammengelegt im Schoß. Penny zwang einen ihrer Arme durch seinen, kuschelte sich an ihn und legte ihren Blondkopf auf seine Schulter. Er saß sehr still. »Du bedeutest mir wirklich etwas«, meinte er. »Auf meine Art.« »Das ist in Ordnung«, meinte Penny. »Es ist in Ordnung, dass einem jemand etwas bedeutet; es ist in Ordnung, dass man liebt.« »Ja«, sagte Mr. Stich. »Ich kann lieben. Ich habe geliebt. Aber es endet immer böse.« Penny hob den Kopf und sah ihn gespielt böse an. »Du bist die negativste Person, die ich kenne! Es muss gar nicht immer schlimm enden. Wir sind die Droods und wir existieren nur, um sicherzustellen, dass die Dinge eben nicht schlimm enden! Das ist unser Job.« »Mein Job ist ganz anders«, sagte Mr. Stich. »Ich habe … so schreckliche Dinge getan, Penny.« »Jeder kann sich ändern«, widersprach Penny. »Jeder kann erlöst werden. Daran habe ich immer geglaubt. Der Mr. Stich, den ich kennen- und liebengelernt habe … ist ganz anders als die Geschichten, die ich gehört habe. Ich liebe dich und du kannst mich auch lieben.« »Ich wünschte, es wäre so einfach, Penny.« »Es ist so einfach! Und ein Teil des Verliebtseins ist das Zusammensein. So wie jetzt. Wie lang ist es her, dass du dir gestattet hast, einer Frau so … nahe zu sein?« »Eine lange Zeit. Ich will dich nicht verletzen, Penny.« »Das wirst du nicht! Das ist Liebe, zwei Leute, die zusammen sind. Nur … lass dich gehen. Tu, was du willst. Ich will dich. Das ist in Ordnung, wirklich.« »Ich liebe dich, Penny«, sagte Mr. Stich. »Lass mich dir zeigen, wie sehr ich dich liebe.« Penny lächelte und drehte sich um, um ihn in die Arme zu nehmen und versteifte sich dann. Sie sah herab auf die lange Klinge, die Mr. Stich ihr in den Bauch gestoßen hatte. Es blutete noch kaum. Er drehte die Klinge um und zog sie weiter, schnitt tiefer und sie schrie auf und griff mit beiden Händen seine Schultern. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war purer Unglaube. Sie versuchte, ihn wegzustoßen, aber sie hatte nicht genug Kraft, also hing sie nur an seiner Schulter, als er die lange Klinge aus ihr herauszog und erneut zustieß. Blut sprudelte aus der ersten Wunde und durchtränkte den Pulli und spritzte auf die Vorderseite von Mr. Stichs Jackett. Sein Gesicht war … auf ruhige Art und Weise traurig. Penny verkrampfte sich und schrie wieder auf. Blut sprühte aus ihrem Mund und verteilte sich über Mr. Stichs Gesicht. Ich hatte Merlins Spiegel in dem Moment anwachsen lassen, in dem ich das Messer gesehen hatte und war bereits während seiner zweiten Attacke hindurch und auf dem Weg zu Mr. Stich, aber ich wusste, dass es zu spät war. Mr. Stich ließ Penny los und wich zurück, als ich auf das Bett zustürzte. Ich ließ ihn gehen, ich wollte nur Penny helfen. Ich schrie bereits in Gedanken nach Seltsams Hilfe, und er sagte mir auch, dass sie auf dem Weg sei, aber ich wusste, es war umsonst. Ich beugte mich über Penny und versuchte, die Wunden mit den Händen zu schließen. Blut durchtränkte meinen Ärmel bis zum Ellbogen. Sie sah mich zuckend und schaudernd an und versuchte, etwas zu sagen, aber das Einzige, was aus ihrem Mund kam, war noch mehr Blut. Das Bett triefte jetzt schon. Sie starb in meinen Armen, immer noch etwas stammelnd. Ich ließ sie los. Dann stand ich auf und ging ein wenig vom Bett weg. Ich war über und über mit Blut besudelt. Ich sah Mr. Stich an, der immer noch still neben der Tür stand. Er hätte weglaufen können, hätte fliehen können, aber er hatte es nicht getan. »Ich habe versucht, es ihr zu sagen«, sagte er. »Versucht, sie zu warnen. Das … ist das einzige Vergnügen, dass ich mit einer Frau haben kann, jetzt. Ein Teil von dem, was ich mit meiner Unsterblichkeit erkauft habe … damals, als ich mein Schlachtfest gefeiert habe und ganz London meinen Namen kannte. Das … ist die einzige Liebe, die ich zeigen kann. Alles, was mir geblieben ist. Ich habe so sehr versucht … ihr fernzubleiben. Aber ich bin … was ich bin.« »Ich hab's dir gesagt«, meinte ich und ich konnte die kalte, die eiskalte Wut in meiner Stimme hören. »Ich habe dir gesagt, was passiert, wenn du dich nicht beherrschst.« Ich rüstete hoch, ließ eine lange Klinge aus meiner Hand wachsen und schlug ihm mit einem einzigen wilden Streich den Kopf von den Schultern. Er bewegte sich nicht und versuchte nicht einmal, dem Schlag auszuweichen. Meine goldene Klinge fuhr direkt durch seinen Hals. Der Kopf fiel von den Schultern und rollte davon, die Augen blinzelten noch und auch die Lippen schienen noch Worte zu formen. Ich stand vor dem kopflosen Körper, atmete schwer vor Wut und Trauer, die immer noch in mir brannten, und registrierte nur langsam, dass der Rumpf nicht gefallen war. Er stand einfach so da, neben der Tür. Kein Blut sprudelte aus dem Halsstumpf. Und noch während ich dorthin starrte, schritt der Rumpf langsam nach vorn und streckte die Hände aus. Ich wich schnell zurück, aber er war nicht an mir interessiert. Eine Hand langte nach unten und griff den abgetrennten Kopf am Haar. Ich gab irgendeinen Laut von mir, ich habe keine Ahnung was. Der Körper hob den Kopf auf, und setzte ihn wieder auf den Stumpf. Die Wunde heilte in einem Augenblick und hinterließ keine Spur. Mr. Stich sah mich ausdruckslos an. »Glaubst du, das hätte vor dir noch niemand versucht? Ich wurde schon geköpft, erschossen, vergiftet, durchs Herz hindurch erstochen - ich kann nicht sterben. Das ist es, was ich mit dem Tod der fünf Huren damals 1888 in London erkauft habe. Unsterblichkeit, ob ich sie nun will oder nicht. Ich bin Jack, der Blutige Jack, Jack the Ripper, jetzt und für immer. Und die einzige Liebe, die ich kenne, die einzige Freude, die ich jemals von einer Frau empfangen kann, ist die durch das Messer. Schick mich in die Schlacht, Eddie. Vielleicht finden die Abscheulichen einen Weg, mich zu töten.« Die Tür sprang auf, als die Sanitäter hereinstürzten - zu spät. Mr. Stich ging fort, als sie sich um die Leiche scharten, und sah nicht einmal zurück. Es gab nichts, was ich tun konnte, also transportierte ich mich zurück in die Waffenmeisterei. Es war ja nicht so, als hätte ich woanders hingehen können. Molly schrie auf, als sie mich so blutüberströmt sah und eilte auf mich zu. Sie ließ die Hände über mich wandern, um zu sehen, wo ich verletzt war. Onkel Jack begann, nach den Sanitätern der Waffenmeisterei zu rufen, bis Molly ihm klarmachte, dass ich in Ordnung war. Ich konnte nicht sprechen, ich konnte nichts sagen. Ich hielt Molly eng an mich gedrückt und sie gestattete das, auch wenn das Blut jetzt auch sie bedeckte. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Haar, in ihrer Schulter und sie murmelte sanfte, beruhigende Worte in mein Ohr. Bis ich endlich in der Lage war, sie loszulassen und einen Schritt zurückzugehen. Molly nahm mich an der Hand und führte mich wie ein Kind zum nächstbesten Stuhl. Ich ließ mich fallen und fühlte mich erschöpft und ausgelaugt. Und endlich, mit einer Stimme, die überhaupt nicht wie meine klang, war ich in der Lage, ihnen zu erzählen, was gerade passiert war. Onkel Jack versorgte mich mit etwas medizinischem Brandy und tätschelte verlegen meine Schulter, während ich trank. Dann trat er beiseite, um den Seneschall zu rufen, um die Details zu erfahren. Molly saß neben mir und hielt meine Hand. Nach einer Weile kam Onkel Jack mit zwei Labormänteln zurück, die Molly und ich anziehen konnten, damit wir aus den blutigen Klamotten kamen. Molly half mir, mich auszuziehen, denn meine Hände zitterten immer noch. Wir ließen unsere Kleider in einem unordentlichen Haufen auf dem Boden liegen. Die Laborkittel waren frisch und sauber und rochen nach Desinfektionsmittel. »Rede mit mir«, sagte ich. »Erzähl mir was. Egal was, spielt keine Rolle. Ich brauche etwas zu tun, damit ich nicht an Penny denken muss.« »Naja«, sagte Molly und warf Onkel Jack einen Blick zu. »Es gibt ein Problem mit dem Blauen Elf.« »Wann gibt es das nicht«, sagte ich. »Was hat er denn jetzt angestellt?« »Er wird vom Seneschall unter konstanter, aber geheimer Beobachtung gehalten, seit er hier ist«, sagte der Waffenmeister. »Und sieh mich nicht so an, Eddie, ich weiß, dass du dich für ihn verbürgt hast, aber sein Ruf eilt ihm nun mal voraus. Und überhaupt, er ist ja ein halber Elb, und Elben haben immer eigene Pläne. Also, es sieht so aus, als hätte er eine Menge Zeit in der alten Bibliothek damit verbracht, lange Gespräche mit William und Rafe über die Ursprünge, die Macht und die Fähigkeiten des Drood-Torques zu führen. Als er aus den beiden rausgeholt hatte, was sie wussten, ging er an die Quelle und stellte seine Fragen Seltsam. Sehr detaillierte Fragen. Der Seneschall sagt, er ist jetzt gerade unten.« »Okay«, meinte ich. »Dann wollen wir mal hören.« Ich benutzte wieder Merlins Spiegel und als mein Bild darin verschwand, dachte ich für einen Moment, dass es mir wieder Penny und Mr. Stich zeigen würde. Mein Herz blieb fast stehen, aber dann zeigte mir der Spiegel den Blauen Elf, der allein im Sanktum stand und sich ruhig mit dem scharlachroten Glühen Seltsams unterhielt. Blue tat sein Bestes, völlig entspannt und frei auszusehen, und vielleicht konnte nur jemand, der ihn so gut kannte wie ich erkennen, wie angespannt er wirklich war. Molly und Onkel Jack drängten sich hinter mir und sahen der Szene über meine Schulter hinweg zu. »Aber was willst du denn nun von mir?«, fragte Seltsam geduldig. »Wir hatten so viele faszinierende Gespräche, Blue und ich hatte viel Freude daran, aber ich kann mich nicht länger mit dir im Kreis drehen. Nicht, wenn so viel zu tun ist. Sag mir nur, was du willst. Ich versichere dir, bei mir gibt es keine menschlichen Empfindsamkeiten, die man beleidigen könnte.« »Also schön«, sagte der Blaue Elf. »Wenn es so wichtig ist … ich will einen Torques. Einen goldenen Reif für mich ganz allein, wie jeder sonst.« »Aber du gehörst nicht zur Familie«, sagte Seltsam. »Du bist nicht blutsverwandt mit den Droods. Und es wurde mir eindringlich klargemacht, dass nur sie einen Torques tragen können. Keine Ausnahmen. Warum solltest du einen Torques wollen? Du bist halb Elb, mit eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten.« »Ja«, sagte Blue. »Die habe ich. Ich hoffte, es würde nicht dazu kommen, aber …« Er bewegte seine Hände in einem bestimmten Muster, die langen, eleganten Finger malten unnatürliche Muster in die dunkelrote Luft. »In meinem Fall wurde eine Ausnahme gemacht. Gib mir einen Torques.« »Das war ein sehr verführerischer Zwangszauber«, sagte Seltsam. »Leider wirkt er gegen meinesgleichen nicht.« Der Blaue Elf bewegte seine Hände jetzt hektischer, diesmal murmelte er auch eindringlich in altem Elbisch vor sich hin. Die Luft schien unter dem Aufprall der uralten Worte zu zittern und schimmernde Spuren folgten den Gesten des Blauen Elfs, die ausladende Magie ausspuckten. Und dann hob etwas Unsichtbares den Blauen Elf hoch und warf ihn durch das ganze Sanktum. Er traf mit genug Verve auf der hinteren Wand auf, einen einfachen Menschen zu töten und rutschte dann langsam daran herunter. Er blieb wie ein Häufchen Elend auf dem Boden liegen. Er atmete schwer und seine Hände lagen jetzt still an seiner Seite. »Oh weh«, sagte Seltsam. »Und wir kamen doch so gut miteinander aus! Aber niemand verhext mich. Was soll ich nur mit dir machen? Etwas passend Unangenehmes, denke ich, pour discourager les autres. Immerhin muss man ein Exempel statuieren. Vielleicht kehre ich dein Inneres nach außen, bei lebendigem Leib natürlich, und übertrage das mithilfe des Monitors an alle. Das könnte dir einen ganz neue Sicht auf die Dinge eröffnen.« Ich entschied, dass ich genug gesehen hatte, öffnete den Spiegel und transportierte mich ins Sanktum. Molly folgte mir schnell, bevor der Weg sich wieder schloss. »Ah Eddie«, sagte Seltsam. »Hast du wieder mal gelauscht? Und das, nach allem, was du mir über dieses Thema gesagt hast?« »Ich habe hier das Kommando«, meinte ich. »Und deshalb darf ich das Gegenteil tun von dem, was ich sage. Eigentlich glaube ich sogar, dass es eine Voraussetzung für diesen Job ist. Was war das damit, den Blauen Elf von innen nach außen zu kehren? Ich habe noch nie gehört, dass du jemandem drohst.« »Er hat versucht, mich zu verhexen«, sagte Seltsam. »Niemand verhext mich. Ich helfe, weil ich will und aus keinem anderen Grund.« »Natürlich«, sagte ich. »Aber in Zukunft gilt: Wenn jemand bestraft werden muss, entscheide ich das. Klar?« »Du verstehst gar keinen Spaß mehr«, sagte Seltsam. Ich ging hinüber zum Blauen Elf, der jetzt langsam und schmerzhaft wieder auf die Beine kam. Er sah kurz zur Tür hinüber, aber Molly hatte sich bereits in den Weg gestellt. Er seufzte leise und zupfte ein wenig an seiner Kleidung herum, um sich wieder etwas präsentabler zu machen. »Hallo, Eddie«, sagte er ruhig. »Molly. Ich wusste nicht, dass ihr wieder zurück seid.« »Offensichtlich«, sagte ich. »Warum versuchst du, Seltsam zu zwingen, dir einen Torques zu geben?« Er zuckte mit den Achseln und versuchte sein charmantestes Lächeln aufzusetzen. »Ein Rückfall in meine ureigene Natur, fürchte ich, mein altes Selbst kommt wohl wieder durch. Du weißt ja, wie das ist.« »Ich bin wirklich nicht in der Stimmung für eine gepflegte Konversation«, sagte ich und irgendetwas schwang in meiner Stimme mit, das ihn stramm stehen ließ. »Na los, raus damit, Blue. Sag mir die Wahrheit. Oder ich bin geneigt, dich Seltsam zu überlassen.« »Die Zeit hat dich nicht sanfter gemacht«, sagte der Blaue Elf. »Also schön. Ich fürchte, ich war nicht vollständig ehrlich mit dir, als ich hier ankam. Ich kam nur hierher, um mir selbst zu helfen und nicht dir. Ich wollte einen Torques. Ich wollte eine goldene Drood-Rüstung - damit ich sie zu den Elben bringen kann. Ich wollte sie und ihre Geheimnisse dem Elbenrat im Austausch gegen meine Aufnahme ins Elbenreich überlassen. Ich habe es satt, wie ein Mensch zu leben, in der menschlichen Welt. Ich war nie sonderlich gut darin. Und nach meiner Nahtod-Erfahrung dachte ich mehr und mehr über die andere Seite meiner Herkunft nach. Und es schien mir, dass sie vielleicht freundlicher zu mir wären als ihr. Am Ende zählt doch nur die Familie, Eddie. Das Bedürfnis, irgendwohin zu gehören. Das solltest du verstehen.« »Deine schiere Existenz ist für die Elben verdammungswürdig«, sagte Molly. »Außerhalb des Elbengeschlechts Nachkommen zu zeugen, ist ihr größtes Tabu. Sie würden dich töten, wenn sie dich nur sehen, Torques oder nicht.« Er nickte langsam. »Und ihr werdet mich nicht töten?« »Ich sollte es tun. Aber ich habe heute schon einen Freund verloren.« »Ich habe versucht dich zu warnen, Eddie. Sogar Halbelben haben immer eigene Pläne.« »Das ist wahr, das hast du getan. Also, du hast die Wahl. Du kannst gehen oder bleiben.« »Das ist alles?«, fragte der Blaue Elf nach einem Moment. »Ja«, sagte ich. »Ich habe nicht mehr die Energie, auf dich wütend zu sein. Aber wenn du bleibst und an unserer Seite im kommenden Krieg zu kämpfen, dann könntest du Aufnahme gewinnen. Und einen Platz hier. Freunde können auch eine Art Familie sein.« »Du beschämst mich mit deiner Großzügigkeit«, sagte der Blaue Elf. »Ich bleibe und ich werde kämpfen. Wenn du mich jetzt entschuldigst …« Ich nickte Molly zu und sie trat von der Tür weg, um ihn gehen zu lassen. Sie wartete, bis sich die Tür fest hinter ihm geschlossen hatte und sah mich an. »Bist du verrückt? Du kannst ihm nicht vertrauen! Er ist halber Elb.« »Ich weiß«, sagte ich. »Das ist ja auch der Grund, warum ich ihn in der Nähe haben will. Damit ich ihn im Auge behalten kann.« »Ihr Menschen, mit euren Subtilitäten«, sagte Seltsam. »Ihr seid viel beängstigender als ich jemals sein könnte.« Als Nächstes gingen Molly und ich zu den Isolierstationen in der Krankenstation im Nordflügel. Keiner von uns wollte gehen, aber wir mussten sehen, wie sich die infizierten Abscheulichen machten. Achtundzwanzig waren es jetzt, einschließlich Sebastian. Neunundzwanzig, einschließlich Molly. Ich wollte eigentlich allein gehen, aber Molly bestand darauf, mich zu begleiten und ich brachte es nicht übers Herz, Nein zu sagen. Nicht, wo sie so hart kämpfte, ihre Menschlichkeit zu bewahren. Die Familie hat schon immer ihre eigenen Ärzte und Schwestern im eigenen Krankenhaus ausgebildet. Einerseits wollen wir nicht, dass die Welt erfährt, dass wir verletzlich sind, selbst mit unseren wunderbaren Rüstungen, und andererseits, weil wir die Einzigen sind, die für die Folgen der Probleme ausgestattet sind, die Droods draußen im Einsatz zu bewältigen haben. Unsere Ärzte müssen in der Lage sein, alle Arten von physischen, spirituellen und unnatürlichen Unfällen diagnostizieren und behandeln zu können, angefangen von Werwolfbissen über Langstreckenflüche bis hin zum Post-Besessenen-Stress-Syndrom. Die Ausstattung unserer Krankenstation ist immer voll auf der Höhe der Zeit und geht manchmal sogar noch ein bisschen darüber hinaus, aber der Ort ist eigentlich immer derselbe, traditionell blass, pastellfarbene Wände, schnoddrige Matronen und ein sanfter, aber alles durchdringender Geruch nach gekochtem Kohl. Molly und ich gingen schnell durch die Gänge und nickten kurz dem Ärztestab zu. Ein paar sahen so aus, als hätten sie Einwände gegen unsere Anwesenheit, aber wir waren schon wieder weg, bevor sie etwaige Einwände in Worte fassen konnten. Die meisten Krankenbetten waren besetzt, wesentlich mehr als eigentlich normal war. Einige Familienangehörigen starben ganz offenbar, trotz allem, was unsere Ärzte für sie tun konnten. Ein kleiner, kalter Teil von mir war froh zu sehen, dass Harry ein genauso schlechter Anführer war wie ich, aber ich verdrängte den Gedanken. Die Isolierstationen waren in einem eigenen Anbau untergebracht. Im Grunde bestanden sie aus einer Reihe von schwer bewaffneten Wohntanks mit eigenem Lüftungssystem und Wänden aus Stahlglas, die entworfen wurden, um auch die problematischeren Patienten unter Kontrolle halten zu können. So wie Frontagenten, die eine Krankheit aus einer anderen Dimension mitgebracht haben oder jene, die ernsthaft besessen sind. Der einzige Eingang zu jedem Tank besteht aus einer streng bewachten Luftschleuse, deren Kombinationscode vorsichtshalber täglich gewechselt wird. Es gibt nur sechs Tanks, wir haben nie mehr gebraucht. Jetzt waren sie von einer Wand zur anderen mit den kürzlich eingefangenen Drohnen vollgestopft. Molly und ich gingen langsam auf die Isoliertanks zu und nickten den schwer bewaffneten Wachen vor jeder Luftschleuse zu. Einige der Drohnen kamen heran, um mit den Fäusten auf das schwere Stahlglas einzuschlagen. Ihre Stimmen waren durch die eingebauten Gegensprechanlagen zu hören. Sie sagten, sie seien unschuldig und nicht infiziert und dass alles ein Irrtum sei. Sie riefen mich beim Namen und baten mich um Hilfe. Andere schrien Drohungen und Flüche. Aber die meisten standen oder saßen ruhig mit ausdruckslosen Gesichtern da und warteten darauf, was als Nächstes passierte. Sie warteten darauf, dass wir nicht aufpassten, nur für einen Moment. Im letzten Tank kam Sebastian Drood nach vorn und sah uns spöttisch an, als wir vor der Luftschleuse stehen blieben. Als der Gefährlichste hatte er eine Zelle für sich. Er sah jetzt völlig normal aus, auch wenn da etwas an seinem Gesicht nicht stimmte, als hätte er vergessen, wie man menschlich dreinschaute. Oder vielleicht glaubte er, das sei nicht mehr notwendig. Er nickte mir höflich zu und lächelte Molly an. »Liebste Molly«, meinte er. »Wie fühlt es sich an, eine von uns zu sein?« »Ich werde nie eine von euch sein«, sagte sie entschieden. »Egal, was passiert.« »Ah«, meinte er und zuckte lässig mit den Achseln. »Das sagst du jetzt. Aber so geht es uns am Anfang allen. Wir verraten uns nicht, obwohl wir wissen, das wir das tun sollten, weil wir anders sind. Wir sind stark, wir können damit fertig werden. Wir geben nie auf. Aber nach einer Weile willst du es gar nicht mehr bekämpfen. Du begrüßt es sogar. Weil das Menschsein so ein kleines Ding ist, das man hinter sich lassen kann.« Er wandte sich plötzlich mir zu. »Du hast es niemandem gesagt, Eddie, nicht wahr? Darauf habe ich gezählt. Und zu dem Zeitpunkt, an dem du erkennen wirst, wie hoffnungslos es ist, wird es zu spät sein. Bist du deshalb hier, Eddie? Um mich zu töten, damit ich niemandem sagen kann, was ich der lieben Molly angetan habe? Werde ich auf der Flucht getötet?« »Sag, was du willst, keiner wird dir glauben«, sagte ich. »Eine Drohne würde alles sagen, jede Lüge erzählen, um die Familie zu untergraben.« »Warum bist du dann hier?«, fragte Sebastian. »Hoffst du vielleicht auf eine Heilung? Verschwende nicht deine und meine Zeit. Es gibt keine. Wenn einmal einer zu uns gehört, dann ist er für immer einer von uns.« »Du könntest dir selbst einen Gefallen tun«, sagte ich. »Dir eine bessere Behandlung verdienen, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest.« »Und verschwende deine Zeit nicht mit Lügen«, warf Molly ein. »Ich würde es wissen.« »Ja«, sagte Sebastian. »Das würdest du. Also gut, fragt.« »Wer war der ursprüngliche Verräter?«, fragte ich. »Wer hat die Familie überzeugt, die Abscheulichen wieder herzuholen, damals 1941?« »Ich habe keine Ahnung«, sagte Sebastian fröhlich und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen das Stahlglas. »Und falls ihr glaubt, ihr könntet mich mit Wahrheitszaubern oder einem elektrischen Stachelstock zum Viehantreiben oder was auch immer sonst bei modernen Verhören ›in‹ ist, zum Reden bringen - ja, ich weiß, wir haben einen Verstand, aber wir sind strikt in Abteilungen geordnet. Jede Drohne weiß nur, was sie wissen muss und wann sie es wissen muss. Grundlegende Sicherheit. Ich hätte vielleicht erfahren können, wer der Verräter war, aber im Moment bin ich von diesem Bereich des Wissens abgeschnitten. Oder - um genau zu sein, von jedem Wissensbereich, der euch helfen könnte. Das gilt auch für alle anderen Drohnen hier.« »Es gibt Wege, wie man die Wahrheit ans Licht holen kann«, sagte ich. »Alte Wege. Natürlich sind sie sehr zerstörerisch, sowohl körperlich als auch mental.« »Du liebe Zeit«, sagte Sebastian und grinste breit. »Drohungen mit Tod und Folter einem hilflosen Gefangenen gegenüber? Sind die Droods so tief gesunken?« »Die Sicherheit der Welt geht vor«, erwiderte ich. »Oh, ja ja, das tut sie. Aber kannst du die Welt retten, indem du dich selbst verdammst? Könnt ihr die Monster bekämpfen, indem ihr selbst zu Monstern werdet?« Sebastians Stimme klang unverhohlen höhnisch, auch wenn sein Gesicht vollkommen ausdruckslos war. Er schien sich nicht mehr die Mühe zu geben, menschlich wirken zu wollen. »Die Hungrigen Götter kommen, Eddie, und es gibt keine verdammte Möglichkeit, uns aufzuhalten. Keiner hat uns je aufgehalten …. - Hallo, Freddie.« Molly und ich wirbelten herum, als Freddie unsicher auf uns zukam. Er nickte Molly und mir kurz zu, aber seine Aufmerksamkeit war auf Sebastian gerichtet. Ich erkannte Freddie kaum wieder. All seine typische Extravaganz und sein Glamour waren durch die Ereignisse zerstört worden. Er sah kleiner aus, nach weniger, und er starrte Sebastian mit angewiderter Faszination an. »Hallo, Seb«, sagte er schließlich. »Bist du noch Seb? Erinnerst du dich an mich? Erinnerst du dich daran, mein Freund zu sein?« »Natürlich erinnere ich mich an dich, Freddie. Ich habe mich nicht geändert, nicht wirklich. Ich bin nur ehrlicher zu mir über das, was ich bin. Ich erinnere mich an unsere Freundschaft, an all unsere guten Zeiten; sie interessieren mich nur nicht mehr. Das haben sie eigentlich nie getan. Das war alles Teil der Aufgabe. Du warst nur ein Mittel zum Zweck, fürchte ich, ein einfacher Weg, um ins Herrenhaus zu kommen. Ich wusste, es würde einfacher sein, wenn ich dich dabei hätte, um für mich zu sprechen. Eddie hatte vielleicht die Vogelfreien wieder heimgeholt, aber er hatte guten Grund, mir nicht zu trauen.« »Warst du damals schon infiziert?«, fragte ich. »Das werde ich dir nicht sagen. Und jetzt sei still, ich rede mit Freddie. Ich konnte nicht glauben, dass du gleich wieder abhaust, Freddie, gleich, nachdem ich dich hierhergebracht habe. Ich brauchte dich und deine extreme Persönlichkeit, um die Leute von mir abzulenken. Deshalb habe ich so einen Aufstand gemacht, um dich wieder zurückzuholen und dich zu einem Berater Harrys zu machen. Du hattest in deinem ganzen Leben nie einen nützlicheren Gedanken als diesen in deinem hübschen Kopf. Aber ich habe dich verführt um sicherzugehen, dass du diesmal bleibst. Du bist derart schillernd, dass mich nie jemand ansah, wenn du in der Nähe warst.« »Hast du jemals etwas für mich empfunden?«, fragte Freddie beinahe flüsternd. »Ach, ich weiß nicht«, sagte Sebastian. »Vielleicht. Manchmal. Ab und zu … Ich bin mal mehr, mal weniger menschlich. Aber es macht keinen Unterschied. Das ist jetzt alles vorbei. In der Welt, die kommt, werden menschliche Gefühle keinen Platz mehr haben. Ihr werdet uns lieben, weil wir euch dazu zwingen werden, um den Übergang zu erleichtern. Aber wir werden uns nichts daraus machen. Wir sind die Hungrigen Götter, die Vielwinkligen. Und ihr seid nur Nahrung.« Freddie wandte sich ab, als hätte Sebastian ihn geschlagen und ging dann langsam wieder weg. Er blickte nicht zurück. »Das war grausam«, sagte ich zu Sebastian. »Man muss grausam sein, um freundlich sein zu können«, sagte Sebastian kurz. »Und jetzt geht. Ich habe euch nichts mehr zu sagen. Wenn ihr noch mehr darüber wissen wollt, wie es ist, eine Drohne zu sein, dann fragt Molly. Natürlich werdet ihr kaum sicher sein können, dass sie die Wahrheit sagt - je länger es dauert.« Er lachte uns aus. Ich nahm Molly am Arm, zog sie von der Kabine weg und wir gingen durch die Isolierstation fort. Alle Drohnen kamen diesmal nach vorn und starrten uns durch das Stahlglas eindringlich an. Ihre Mienen waren jetzt alle gleich und sie sahen Molly an, nicht mich. Sie blickte starr geradeaus, gedankenverloren und ich denke, sie bemerkte das veränderte Verhalten gar nicht. Ich hoffte es jedenfalls. »Ich wusste gar nicht, dass Sebastian und Freddie schwul sind«, sagte sie endlich. »Ich denke nicht, dass Freddie je so wählerisch war«, erwiderte ich, froh über ein anderes Thema reden zu können. »Er würde sein Ding auch in Schlamm stecken, wenn der sich nur genügend bewegte. Und Sebastian würde wahrscheinlich tun, was er für nötig hält. Freddie war schon immer ein notorischer Romantiker und hat es nie ausgehalten, keine Beziehung zu haben. Egal mit wem. Sebastian hat das nur benutzt, damit er Freddie als Tarnung verwenden konnte. Armer Idiot.« »Sebastian weiß von meinem Zustand«, sagte Molly. »Früher oder später wird er es jemandem sagen. Wenn er glaubt, es ist für ihn von Vorteil. Und früher oder später wird jemand darauf hören und es glauben. Das weißt du.« »Bis dahin dauert es noch etwas«, sagte ich. »Und wir haben nur drei, vier Tage, bis die Eindringlinge kommen. Die Familie wird zu beschäftigt sein, um sich um Sebastians Tiraden zu kümmern.« Wir hielten inne, als eine der bewaffneten Wachen auf uns zukam. Molly spannte sich und griff nach meinem Arm und ich tat mein Bestes, um unbesorgt und wie immer auszusehen. »Wir haben eine Meldung von dem Mann, der Sebastian bewacht«, sagte die Wache. »Anscheinend hat er euch doch noch etwas zu sagen. Etwas Wichtiges. Aber er will es nur euch beiden sagen.« »Vielleicht ist das nur ein Trick«, sagte Molly. »Er will uns mit falschen Informationen in die Irre führen.« Ich konnte mir denken, wie gerne sie aus der Isolierstation herauswollte, aber ich konnte nicht einfach gehen. Sebastian wusste etwas; es gab immer die Chance, dass er mehr verriet, als er eigentlich wollte, wenn man ihn nur reden ließ. Also gingen wir zu seiner Zelle zurück. Molly ging steif neben mir her. Als wir ankamen, lächelte er uns süßlich zu und lehnte lässig an der schweren Stahlglaswand. »Ich bin schon vor langer Zeit infiziert worden«, sagte er, diesmal ohne sich mit Höflichkeiten aufzuhalten. »Ihr habt keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn der Wechsel wirklich anfängt, sich auszuwirken. Es ist, als wäre man Teil von etwas Größerem, etwas wesentlich Wichtigerem und Bedeutenderem. Ich fühlte, dass auf einmal alles einen realen Sinn, ein Ziel hat, das erste Mal in meinem Leben. Menschlich zu sein ist so begrenzt. Warum sollte ich bedauern, das hinter mir zu lassen, wenn ich so viel mehr sein kann? Wenn die Hungrigen Götter durchkommen, werde ich ein Teil von ihnen sein und über eure Vernichtung jubeln.« »Aber du verlierst dich selbst«, sagte ich. »Du gibst alles auf, was du aus dir selbst gemacht hast. Das hat dir doch immer so viel bedeutet, Sebastian.« »Ich wusste nie, wie klein ich eigentlich bin, bis ich von den Göttern berührt wurde«, antwortete er. »Warum soll ich eine Raupe bleiben, wenn ich ein Schmetterling sein kann?« »Schmetterlinge töten normalerweise niemanden sonst in der Wiese«, wandte Molly ein. Sebastian lächelte ihr zu. »Sie würden, wenn sie könnten. Und du wirst das auch tun, Molly.« »Du sagtest, du hast uns noch etwas Wichtiges mitzuteilen«, unterbrach ich ihn. »Raus damit oder wir sind weg.« »Ach ja. Du warst sehr clever, Eddie, dass du die Drohnen bei Nazca entdeckt und eingekesselt hast. Aber von jetzt an werdet ihr jedes Mal, wenn ihr uns nahe kommt, mehr Leute verlieren. Egal, wie viele Schlachten ihr gewinnt, wir werden immer mehr von euch nehmen, bis niemand mehr da ist. Ihr werdet nicht wagen, uns zu bekämpfen, weil es euch zu unseren Ebenbildern macht.« Ich lächelte zurück. »Naja, das musst du ja sagen, nicht wahr?« Ich ging mit Molly in unserem Raum zurück. Wir brauchten beide eine Auszeit. Zeit zum Nachdenken. Ich streckte mich auf dem Bett aus, aber anstatt sich neben mich zu legen, stand Molly am Fenster und sah auf den Park hinaus. Die Stille im Zimmer schien immer intensiver und eindringlicher zu werden, je länger sie dauerte, aber keiner von uns wusste, wie man sie brechen könnte. Ich hatte gesagt, dass ich ihr helfen, sie retten würde, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte gesagt, dass ich sie sogar vor meiner eigenen Familie beschützen würde, aber wir wussten beide, dass das Schicksal der Menschheit Vorrang haben musste. Wir wussten beide eine Menge, aber keiner von uns wollte der Erste sein, der diese Dinge aussprach. »Wie fühlst du dich?«, fragte ich schließlich, nur um etwas zu sagen, das diese schreckliche Stille durchbrach. »Ich kann die Änderungen fühlen«, sagte sie und sah weiterhin aus dem Fenster. »Körperliche Änderungen. Mein Körper fühlt sich anders an. Unsicher. Und ich habe seltsame Gedanken im Kopf, die aus dem Nichts zu kommen scheinen. Meine Magie hält diese Dinge unter Kontrolle. Noch. Ich kenne so viele Zaubersprüche, so viele verbotene Geheimnisse und Magien, aber ich hätte nie gedacht, dass ich einmal eine dieser Waffen gegen mich selbst gebrauchen müsste.« »Es muss jemanden geben, der dir helfen kann«, sagte ich. »All diese Orte, an denen du warst, all deine Kontakte …« »Der Preis, den sie verlangen würden, wäre schlimmer als das Leiden«, meinte sie. »Dann eben jemand in der Familie«, meinte ich. »Wir müssen die Änderungen nur bis nach dem Krieg stoppen oder zumindest verlangsamen. Bis wir wirklich daran arbeiten können.« »Wen könnten wir fragen? Wem könnten wir ein solches Geheimnis anvertrauen?« »Dem Waffenmeister. Onkel Jack würde das verstehen. Wir mussten seinen Bruder James töten und er hat es verstanden.« »Das war, um die Familie zu retten«, entgegnete Molly. »Und ich werde zu einer wirklichen und realen Gefahr für die Familie. Wen gibt es noch?« »Ich weiß es nicht! Der Blaue Elf? Er schuldet mir was. Vielleicht könnte er nach einer Heilung fischen. Er hat eine für sich selbst gefunden.« »Wir können ihm nicht vertrauen. Alle Elben haben eigene Pläne.« »Naja … vielleicht könnte Giles dich mitnehmen, zurück in seine Zukunft«, sagte ich verzweifelt. »Wer weiß schon, welche Arten von Heilungen oder medizinische Technologien sie dort haben?« »Du hast den Mann doch gehört«, sagte Molly traurig. »Seine ist eine rein technische Zukunft. Seine Leute wären wahrscheinlich nicht mal in der Lage zu erkennen, was mit mir nicht in Ordnung ist. Und überhaupt, wir können doch die Abscheulichen und die Hungrigen Götter nicht auf die Zukunft loslassen. Sie müssen hier und jetzt gestoppt werden.« Ich musste lächeln. »Höre ich richtig? Die berüchtigte Molly Metcalf entwickelt tatsächlich Skrupel und Moral auf ihre letzten Tage?« Sie wandte sich um und brachte ein kleines Lächeln für mich zustande. »Jeder muss irgendwann einmal erwachsen werden. Mich hat es nur die Infektion durch einen andersdimensionalen Parasiten gekostet, der meinen Körper übernommen hat und meine Seele frisst.« Ich setzte mich auf und sah sie nachdenklich an. »Jetzt bist du doch eine von ihnen. Bist du eigentlich schon Teil ihres Kollektivbewusstseins? Kannst du sie hören? Kannst du die Kommunikation der Abscheulichen abhören?« Molly runzelte die Stirn und konzentrierte sich. »Da ist etwas. Am Rand meiner Gedanken. Weit weg, ein Hintergrundgeräusch. Aber es ist nur Gemurmel, ein bedeutungsloser Mischmasch von Geräuschen. Nicht menschlich. Fremd. Vielleicht verstehe ich es, wenn ich mehr … wie sie werde. Werden meine Gedanken dann so klingen? So fremd, so profund anders - jenseits allen menschlichen Verständnisses?« Sie sah mich eindringlich an. »Wir müssen sie aufhalten, Eddie. Während ich noch ich selbst bin. Vielleicht - wenn wir sie alle aus unserer Realität verdrängen, dann wird die Infektion mit ihnen verschwinden.« »Ja«, sagte ich sanft. »Vielleicht.« »Ich habe Angst, Eddie. Ich habe Angst davor, immer weniger ich zu sein und zu etwas zu werden, dem es egal ist, was es verloren hat. Mir wird sogar egal sein, dass ich dich nicht mehr liebe. Wenn es keine Heilung gibt, wenn es keine Hoffnung mehr gibt, Eddie, dann bring mich um, solange ich noch weiß, wer du bist. Wenn du mich liebst, dann töte mich.« »Ja«, sagte ich. »Das kann ich tun.« Kapitel Vierzehn Krieg und Frieden Alle Droods sind Kämpfer. Es liegt ihnen im Blut, und sie werden darauf trainiert. Wir werden alle mit einem Torques geboren und von kleinauf dazu erzogen, den guten Kampf zu kämpfen, auch wenn die meisten von uns nie das Herrenhaus verlassen oder eine wütend erhobene Hand erleben. Weil die Familie immer gewusst hat, dass einmal der Tag kommen würde, an dem alle Droods zusammen in den Krieg ziehen und die Menschheit und die Welt retten müssten. Mögen die Krieger der Droods entfesselt werden! Janitscharen Jane hatte uns schon eine Menge beigebracht, aber Giles Todesjäger lehrte uns etwas anderes. Unter seiner brutalen Ägide lernten wir nicht nur, wie man Krieger war, sondern Soldaten in einer Armee. Als Jane noch das Kommando gehabt hatte, hatte sie mit uns Krieg gespielt. Giles organisierte seine Manöver wie etwas Reales, mit der einen Hälfte der Familie gegen die andere, sodass wir lernen konnten, wie man als Teil einer Gruppe zu kämpfen hatte. Es reichte uns nicht mehr, dass wir Krieger waren, wir mussten eine Armee werden. Giles brachte uns Strategie bei und taktisches Denken, anstatt sich darauf zu verlassen, dass wir unsere Mann-gegen-Mann-Philosophie weiter verfolgten. Er lehrte uns, an die Operation als Ganzes zu denken und nicht nur an unseren individuellen Teil darin. Wir lernten schnell, denn wir sind Training gewöhnt. Und so befanden wir uns alle draußen auf den weiten Rasenflächen, hell glänzend und wild in unseren goldenen Rüstungen und taten unser Bestes, uns gegenseitig umzubringen. Jeder Drood, Mann oder Frau, außer dem absolut nötigen Rumpfpersonal für die Organisation, den Lageraum und die Krankenstation, war mit Leibeskräften dabei, unter Giles strengem Kommando hin- und herzulaufen. Wir stießen zusammen, Körper gegen Körper, und trieben unsere Muskeln und Nerven an ihre Grenzen. Der Schlachtenlärm war ohrenbetäubend - goldene Klingen suchten goldene Harnische, gerüstete Fäuste hämmerten auf gerüstete Köpfe ein und Stimmen schrien leidenschaftlich, wütend und eifrig durcheinander. Die Greifen hievten sich von ihrem angestammten Platz und verzogen sich schmollend in eine friedlichere Ecke. Die Pfauen und die anderen Tiere folgten ihnen schon bald. Selbst unsere Nixe steckte den Kopf aus dem Wasser, um zu sehen, was zur Hölle vor sich ging und verschwand schnell wieder. Die Kinder, die nicht in die Schule gehen mussten, sahen uns zu, wie wir den Krieg probten und jubelten und applaudierten aufgeregt aus sicherer Entfernung. Sie waren dabei, um ebenfalls etwas zu lernen. Denn wir alle wussten - auch wenn es niemand aussprach -, dass verdammt viele von uns nicht wieder zurückkämen, selbst dann, wenn wir den Krieg gewannen. Und die nächste Generation Droods würde vielleicht früher in unsere Fußstapfen treten müssen, als irgendeiner von uns geahnt hatte. Ich war dabei, mittendrin im Getümmel, und übte wie jeder andere. Ich rannte die immer zertretenere Wiese herauf und herunter, und wechselte mich mit den anderen dabei ab, den Angriff zu führen oder auch geführt zu werden. Ich war zu sehr daran gewöhnt, Einzelkämpfer zu sein, das aber war ein Luxus, den ich mir in diesem Krieg nicht länger leisten konnte. Also strengte ich mich immer wieder an, rannte wie verrückt hierhin und dorthin, bis meine Lungen wehtaten und schwarze Punkte vor meinen Augen tanzten. Dann ließ ich lange goldene Klingen aus meinen Händen wachsen und warf mich selbst wieder in ein weiteres wildes und brutales Handgemenge. Jeder Knochen tat mir schließlich weh, und mein Herz pochte so stark, dass ich schon glaubte, es würde jeden Moment meinen Brustkorb sprengen. Und das war nur eine Übung für den wirklichen Einsatz. Offenbar hatte Giles etwas ganz Ähnliches wie eine lebende Rüstung in seiner fernen Zukunft gekannt, weil er lauter Ideen hatte, wie man unsere Rüstung selbst zur Waffe machen konnte. Während der kurzen Pausen zwischen seinen sorgfältig choreografierten Feldzügen, hielt er uns Vorträge darüber, wie begrenzt die Familie bisher immer gewesen sei, wenn es um die Rüstung ging. Sie brauchte nicht nur eine Verteidigung zu sein, eine zweite Haut, die uns schützte und unsere Kraft und Geschwindigkeit erhöhte. James's Trick mit den Klingen zeigte, dass die Rüstung zu etwas werden konnte, was auf unsere Gedanken und Bedürfnisse reagierte. Wenn sie ein Schwert schaffen konnte, warum keine Schlachtaxt? Wenn aus meinen Knöcheln Dornen wachsen konnten, warum nicht über meinen ganzen Körper hinweg? Die Rüstung hatte ihre einfache Form zunächst einmal nur, weil wir niemals auf den Gedanken gekommen waren, dass sie viel mehr konnte. Wenn man schon ein Wunder besitzt - warum sollte man nicht versuchen, es zu verbessern? Es brauchte einen Außenseiter wie Giles, uns die wahren Möglichkeiten der Rüstung erkennen zu lassen und zu begreifen, dass die Möglichkeiten nur von unserer fehlenden Vorstellungskraft begrenzt waren. Nachdem die Idee sich einmal festgesetzt hatte, gab es kein Halten mehr. Es brauchte eine Menge Konzentration, aber die seltsame Materie unserer Rüstung formte sich selbst unter der Kraft unserer verschiedenen Gedanken. Goldene Hände wuchsen zu den verschiedensten Waffen heran und glänzende Gesichter wurden zu grimmigen Gargoyles, heulenden Wölfen, Monstern und Engeln. Geschmeidige Körperformen bogen und änderten sich, wurden zu mystischen Gestalten und legendären Wesen. Ein paar ließen sich sogar goldene Flügel aus ihrem Rücken wachsen und flatterten wacklig in die Luft hinauf. Wir konnten unsere Formen noch nicht lange halten; noch nicht, es kostete zu viel Konzentration. Aber wer wusste schon, was nach einer längeren Übungszeit alles möglich sein würde? Ich sah die grimmigen Gestalten und unmöglichen Transformationen immer wieder vor staunendem Publikum herstolzieren und ich wusste nicht genau, ob ich das gutheißen sollte. Gerade jetzt brauchten wir eine Armee, die über jede Waffe verfügte, die wir kriegen konnten. Aber was würde nach dem Krieg aus uns werden? Wenn keine goldenen Monster oder strahlenden Gladiatoren mehr gebraucht würden? Unter normalen Umständen brauchte die Familie nur eine begrenzte Anzahl besonders trainierter Frontagenten, um den Frieden aufrecht zu erhalten. So wie ich einer gewesen war. Würden diese goldenen Soldaten einfach so bereit sein, die neuen Möglichkeiten aufzugeben? Und was würde passieren, wenn die Rüstung auf einmal begann, auch auf unbewusste Kommandos zu reagieren und nicht nur auf die bewussten? Würden wir dann alle zu instinktbeherrschten, räuberischen Monstern werden, die nur von ihren persönlichen Dämonen angetrieben wurden? Vielleicht würden wir sogar zu Gefangenen unserer Rüstungen werden, wenn sie auf tiefe unbewusste Bedürfnisse einging und unser bewusstes, zutiefst erschrockenes Flehen ignorierte? Aber das waren Albträume für einen anderen Tag. Hier und jetzt bestand mein Job darin, dafür zu sorgen, dass die Welt überhaupt einen anderen Tag sah. Zuerst musste der Krieg gewonnen werden, dann konnten wir uns Gedanken um den Frieden machen. Also warf ich mich wieder in die Schlacht, in der eine Rüstung auf die nächste prallte, den ganzen heißen Tag lang. Und vor meinen Augen wurde die Drood-Familie zusehends zu etwas Neuem, etwas Entschlossenerem, Feinerem und auf das Ziel Konzentrierterem. Giles Todesjäger trieb die Familie an ihre Grenzen. Und wir liebten es. Während einer anderen kurzen Pause, saß ich erschöpft auf dem Rasen und trank ein wunderbar gekühltes Becks direkt aus der Flasche. Die Matriarchin war herausgekommen, um zu sehen, was die Manöver brachten und hatte - sehr aufmerksam von ihr - einen Picknickkorb mitgebracht. Ich durfte zuerst zugreifen. Rang hat eben seine Vorteile. Also kaute ich auf kalten Hähnchenschenkeln herum, genoss mein schönes Becks und ignorierte demonstrativ die Gurkensandwiches. Manchmal denke ich, Großmutter nimmt diesen ganzen Adelskram viel zu ernst. Sie ließ sich neben mir auf einem kleinen Jagdstuhl nieder, gekleidet wie immer in den üblichen Tweed und die Perlen und betrachtete alles mit großem Interesse. Sie legte Wert darauf, sich mit mir in regelmäßigen Abständen zu beraten und sich mit allem einverstanden zu erklären, was ich sagte. Natürlich war das nur zur öffentlichen Kenntnisnahme, damit die ganze Familie sehen konnte, dass ich ihre volle Unterstützung genoss. Nach einer Weile kam Giles Todesjäger zu uns herüber. Er hatte härter gearbeitet als jeder von uns, aber er schien nicht einmal zu schwitzen oder aus der Puste zu sein. Er sah aus, als täte er das jeden Tag und nach allem, was ich wusste, stimmte das vielleicht sogar. Er war Oberster Krieger, was zum Teufel das auch immer sein mochte. Giles verbeugte sich höflich vor der Matriarchin und nickte mir fröhlich zu. »Du machst dich gut, Eddie. Du bist gut in Form und hast einen unbedingten Siegeswillen. Ich bin beeindruckt. Also, was sagst du, wenn ich eine kleine Show veranstalte, um deiner Familie zu demonstrieren, was zwei versierte Kämpfer so alles tun können. Nichts wirklich Anstrengendes, nur ein kleines Duell so zum Spaß. Was meinst du?« Ich seufzte innerlich, hielt mein Gesicht aber ruhig und gefasst. Es schien, als würde jeder, den ich neu hierhin brachte, erst einmal kämpfen wollen. Als ob jeder meinte, erstmal meine Autorität auf die Probe stellen zu müssen. Oder um sich selbst an mir zu testen, bevorzugt so, dass alle anderen es sehen konnten. Jeder will immer wissen, ob der legendäre Revolverheld wirklich so schnell ist wie seine Legende. Und ich hatte das verdammt satt. Wenn Molly hier gewesen wäre, hätte sie laut geschnaubt und gesagt: Männer! Warum holt ihr sie nicht einfach raus und vergleicht sie? Und das mit einer lauten und weithin schallenden Stimme. Aber Molly war nicht hier. Sie wanderte wieder einmal durch den Park und setzte sich mit ihrem inneren Selbst auseinander. Wer oder was auch immer das derzeit sein mochte. »Natürlich«, sagte Giles leichthin. »Wenn du zu müde bist, Eddie, oder keine Lust dazu hast, dann verstehe ich das natürlich. Das würde jeder andere auch.« »Genug davon«, sagte die Matriarchin kurzerhand. Sie stand geschmeidig von ihrem Jagdklappstuhl auf und ließ ihn zurück, wo er ein wenig verloren und verlassen aussah. Sie schritt nach vorn zum verdutzten Giles und sah ihn mit ihrem klaren Blick an. »Ich weiß nicht, wie man die Dinge in deiner Zeit handhabt, Giles Todesjäger, aber wir wählen unsere Führer nicht durch Herausforderung. Wir sind hier alle Krieger. Du musst weit mehr als ein Kämpfer sein, um die Droods zu führen. Aber wenn du so verzweifelt auf ein Duell aus bist, dann werde ich dir zur Verfügung stehen.« »Du?«, sagte Giles und gab sich nicht einmal die Mühe, seine Überraschung zu verbergen. Und dann lächelte er sie von oben herab an. »Oh nein«, sagte ich leise. »Nicht lächeln.« »Ich bin sicher, du warst zu deiner Zeit sicher eine gute Kämpferin«, meinte Giles, aber Martha unterbrach ihn sofort. »Ich bin die Drood-Matriarchin«, erwiderte sie und jedes Wort bestand aus klirrendem Eis. »Und jeder Drood ist einem dahergelaufenen Zukunftssöldner gewachsen.« Giles hob die Hand in einer versöhnlichen Geste. Martha schnappte sich den Arm, drehte ihn um und warf ihn mit dem Gesicht zuerst ins Gras. Er traf hart genug auf, um aufzustöhnen. Und dann trat sie ihn so hart in die Rippen, dass Leute, die noch mehr als sechs Meter entfernt standen, zusammenzuckten. Giles krabbelte weg von ihr und stand schnell auf. Jetzt lächelte er nicht mehr. Er wollte etwas sagen, unterbrach sich aber, als Martha sich ihm wieder in eindeutiger Absicht näherte. Er nahm eine Standard-Verteidigungshaltung ein - und es nutzte ihm verdammt nochmal kein kleines bisschen. Martha verarbeitete ihn in seine Einzelteile, parierte seine zunehmend verzweifelten Schläge mit lässigem Können, warf ihn hierhin und dorthin und ließ das alles ganz leicht aussehen. Alles, ohne auch nur einmal aufrüsten zu müssen. Giles hätte es wirklich besser wissen müssen. Man wird nicht die Matriarchin der Droods, indem man diesen Posten einfach erbt. Martha hatte dreißig Jahre lang unbewaffneten Nahkampf unterrichtet und hatte das nur aufgegeben, weil sie schließlich jemand gefunden hatte, der es besser konnte als sie. Giles war nicht dumm. Nachdem ihm klargeworden war, dass er nicht hoffen konnte, sie zu schlagen oder auch nur zu bestehen, gab er auf. Martha trat sofort zurück und erlaubte ihm, auf die schmerzenden Beine zu kommen. »Ich verstehe, was Sie meinen, Matriarchin«, sagte Giles und wischte sich mit dem Handrücken Blut aus dem Mundwinkel. »Ich bin beeindruckt.« »Das solltest du auch sein«, sagte Martha kalt. »Ich hoffe, wir werden das nicht noch einmal tun müssen. Und Giles, auch wenn du irgendwelche Intentionen hegst, du könntest nie hoffen, uns zu führen. Du gehörst nicht zur Familie.« Sie wandte ihm den Rücken zu und entließ ihn, und er war klug genug, das hinzunehmen. Er schrie jedem, der zugesehen hatte, zu, dass das Training weiterging und alle gehorchten. Martha ließ sich wieder auf ihrem Klappstuhl nieder und sah mich prüfend an. »Ich habe drei Schwestern besiegt, um meine Position als Matriarchin zu festigen. Du hast das Kommando, weil ich das gestatte. Vergiss das nie, Eddie.« »Natürlich, Großmutter«, sagte ich. Und sie schritt wieder zurück zum Herrenhaus. Ich sah ihr hinterher und als ich sicher war, dass sie sich außer Hörweite befand, sagte ich. »Es gibt mehr Wege zu kämpfen und zu gewinnen, als Leute herumzustoßen, Großmutter.« »Das hab ich gehört«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Natürlich, Großmutter.« Die organisierte Selbstverstümmelung ging weiter, während Giles seine Befehle vielleicht etwas lauter brüllte als vorher, aber ich fand, ich hätte eine Pause verdient. Ich plünderte den Picknickkorb, fand noch etwas Kaviar und Toast und machte mich auf, um etwas Ruhe und Frieden zu finden. Irgendwie landete ich bei der alten Kapelle. Still und friedlich war sie und es gab immer noch keinen Hinweis auf Jacob den Geist. Ich begann, mir darum Sorgen zu machen. Er hatte irgendetwas vor. Ich setzte mich in seinen großen abgeschabten Ledersessel und fischte Merlins Spiegel aus meiner Tasche. Die Manie, ihn herauszunehmen, der Drang nachzusehen, was um mich herum passierte, und Dinge herauszufinden, die mich nichts angingen, nahm irgendwie suchthafte Formen an. Aber es gab immer Dinge, die ich wissen musste, für das Wohl der Familie, also … Ich befahl dem Spiegel, mir die Gegenwart zu zeigen und zu enthüllen, was Molly tat. Ich wollte ihr vertrauen, in ihre Instinkte und ihre Selbstbeherrschung, aber sie war eben nicht mehr nur Molly. Da war etwas anderes jetzt in ihr, etwas Lebendiges, und Feindseliges. Ich musste mir ihrer sicher sein. Um unser aller willen. Selbst in den wenigen Stunden seit gestern, hatte ich physische und mentale Änderungen bei Molly bemerkt, beinahe wider meinen Willen. Sie sah größer aus, stärker, ihre Bewegungen waren irgendwie seltsamer - obwohl das alles auch nur meiner Phantasie entsprungen sein konnte. Aber es gab keinen Zweifel daran, dass sie sich selbst anders benahm und manchmal erwischte ich sie dabei, dass sie mit leerem Gesicht unnatürlich still dastand, so als höre sie auf eine innere Stimme. Sie sagte, dass sie bereits eine Ahnung von der inneren Stimme der Abscheulichen bekam, am Rand ihres Verstandes. Sie sagte, dass es immer noch nur ein unverständliches Gemurmel sei, aber sie begann, Teile davon zu verstehen. Sie fing an, besondere Orte für die Nester der Abscheulichen zu lokalisieren, darunter sogar einige, die wir noch nicht einmal vermutet hatten. Ich gab die neuen Koordinaten an den Lageraum weiter, wo sie schnell bestätigt wurden und man mich bat, Molly nach mehr zu fragen. (Ich hatte ihnen gesagt, wir hätten die Nester dank ihrer Magie gefunden und bei ihrem Ruf hatten sie keine Probleme, das zu glauben). Und jedes Mal, wenn Molly ein neues Nest fand, sah sie mich beinahe herausfordernd an, als wolle sie sagen: Siehst du? Ich bin immer noch ich. Immer noch Molly. Immer noch auf deiner Seite. Und was konnte ich dann tun, als nicken und lächeln und ihr gratulieren? Selbst wenn das bewies, wie sehr sich ihr Verstand änderte und mehr und mehr des Alien-Kollektivbewusstseins verstand. Sie hatte auch heftige Stimmungsschwankungen, aber ich wusste nicht, ob ich die auf die Infektion schieben konnte. Merlins Spiegel zeigte sie mir. Sie stand in einem kleinen Wäldchen und sah hinaus auf das verlassene Wasserrad am anderen Ende des Sees. Ihr Gesicht sah eingefallen und nachdenklich aus, ihre dunklen Augen schienen weit weg zu sein und sie ignorierte die Schwäne, die vor ihr auf dem See in der Hoffnung auf Brotkrumen heranschwammen. Ich sah sie lange an. Sie sah immer noch wie Molly aus. Wie meine Molly. Aber ich musste mich fragen, wie lange das noch so sein würde. Wie lange, bevor die innere Molly sich so änderte, dass sie nicht mehr als echt durchging. Ich fühlte mich so hilflos! Und ich hatte es satt. Da war ich nun, der Führer der mächtigsten Familie der Welt und es gab nicht das Geringste, was ich tun konnte, um die Frau, die ich liebte, zu retten. Außer sie in die Schlacht zu schicken und zu hoffen, dass sie einen ehrenvollen Tod starb. Wenigstens würde ich sie so nicht selbst töten müssen, wenn sie sich wandelte. Konnte ich das überhaupt tun? Ich glaubte es. Es war, was sie wollte, worum sie mich gebeten hatte. Und außerdem hatte ich zu meiner Zeit Schlimmeres für die Familie getan. Noch während ich hinsah, kamen Harry Drood und Roger Morgenstern am Seeufer entlang auf sie zu. Harry lächelte fröhlich, als wäre er auf einem kleinen Spaziergang und sei nur zufällig auf Molly getroffen. Roger lächelte ausdruckslos, seine Augen dunkel und wachsam wie immer. Das Gras welkte und wurde schwarz, wohin er seinen Fuß setzte und die Schwäne flatterten davon. Ein Vogel, der über ihm herflog, fiel auf einmal tot vor seine Füße. Roger hob ihn auf und biss gedankenverloren hinein, als wäre er ein ganz normaler Snack. Blut lief sein Kinn entlang. Harry sah ihn angewidert an und Roger warf den toten Vogel augenblicklich fort. Molly musste wissen, dass sie da waren, aber sie ignorierte die zwei, bis sie beinahe neben ihr standen. Und dann brachte sie beide mit einem einzigen harten Blick dazu, auf der Stelle stehen zu bleiben. Ich konnte ihre Stimmen deutlich hören, wenn auch entfernt. Betrachtete man die Art, wie sie die zwei ansah, war mir klar, dass sie sich fragte, ob sie Bescheid wussten. Immerhin hatte Roger übermenschliche Sinne und Harry besaß Jahre an Erfahrung als Frontagent. Aber sie entschied schnell, dass das nicht der Fall war, und nickte Harry kurz zu. Roger ignorierte sie. »Molly«, sagte Harry und lächelte leicht. »Du siehst gut aus.« »Was willst du, Harry?« »Was ich immer will«, sagte Harry. Er lächelte immer noch und richtete geistesabwesend das Drahtgestell seiner Brille. »Ich will das Beste für die Familie. Was dieser Tage bedeutet, dass ich das Kommando habe und nicht Eddie. Die Familie braucht meine Ruhe, meine durchdachten Entscheidungen und nicht Eddies durchgedrehte Impulsivität. Er wird alles verderben und uns alle umbringen. Das musst du doch wissen, Molly. Du kennst ihn besser als jeder von uns. Kannst du wirklich darauf vertrauen, dass er unter Druck das Richtige tut? Und wenn wir besiegt werden - wer wird noch da sein, um die Welt zu retten?« »Was willst du, Harry?« »Du bist unsere einzige Möglichkeit, an Eddie heranzukommen«, sagte Roger. »Wenn wir dich dafür gewinnen könnten - also dafür, dass Harry wieder die Macht in der Familie bekommt -, glauben wir, dass wir eine wirklich gute Chance hätten. Eddie würde einfach draufgehen ohne dich.« Molly grinste plötzlich. »Ihr beide kennt Eddie wirklich überhaupt nicht. Er ist immer stärker gewesen als alle dachten. Das musste er sein. Er ist nicht auf mich angewiesen. Er braucht mich nicht. Und er wird prima zurechtkommen, wenn ich nicht mehr da bin.« Harry und Roger wechselten einen schnellen Blick. »Planst du, … uns zu verlassen, Molly?«, fragte Harry. »Sag nicht, du hast genug von Eddies Gutmenschentum«, sagte Roger. »Na, wurde ja auch Zeit. Du und ich waren uns ja mal sehr nahe, aber ich habe nie verstanden, was du in ihm gesehen hast.« »Du und ich waren uns nie so nah«, entgegnete Molly. »Wie kannst du so etwas sagen«, fragte Roger und schmollte spielerisch. »Dabei war es so schlimm für mich, als du mich verlassen hast. Ich habe Wochen gebraucht, um über dich hinwegzukommen.« »Ich habe dich verlassen, weil du versucht hast, meine Seele an die Hölle zu verschachern!« »Kleinigkeiten. Wir haben alle unsere Verpflichtungen der Familie gegenüber.« Molly schnaubte. »Na, jetzt bist du ja mit Harry zusammen. Eine kleine Überraschung, du warst immer ein großer Weiberheld. Soll ich jetzt wirklich annehmen, du bist schwul?« Roger zuckte mit den Achseln. »Ich bin ein halber Dämon. Ich akzeptiere keine menschlichen Grenzen, am allerwenigsten in meiner Sexualität. Ich will alles ausprobieren - und das tue ich auch meist.« Molly sah Harry an. »Und du bist nicht im Geringsten eifersüchtig auf das, was zwischen Roger und mir gelaufen ist?« »Alles, was ihr gemeinsam hattet, war ein Bett«, sagte Harry. »Roger und ich lieben uns.« »Liebe?«, fragte Molly ungläubig. »Er ist eine Höllenbrut! Ein Ding aus den Schwefelklüften und darauf fixiert, die ganze Menschheit hinunter in die Verdammnis zu ziehen!« »Kritik?«, meinte Roger. »Von der berüchtigten Molly Metcalf? Der Frau, die einmal mit den Dämonen der Hölle im Bett war, weil sie sich anders ihre magischen Kräfte nicht erkaufen konnte? Weiß Eddie etwas davon? Hast du ihm alle Dinge erzählt, die du getan hast, du wilde und durchtriebene Waldhexe? Glaubst du wirklich, dass er immer noch dasselbe für dich fühlen würde, wenn er es wüsste?« Molly erwiderte seinen Blick furchtlos, das Kinn leicht angehoben. »Ich war damals jemand anderes. Ich hatte den Droods Blutrache geschworen, weil sie meine Eltern ermordet hatten. Ich brauchte alle Macht, die ich kriegen konnte, um sie herauszufordern. Aber das war damals und heute ist heute und überhaupt ändert sich mit der Zeit alles … Such dir das Klischee aus, das dir am meisten zusagt. Ich bin nicht im Geringsten mehr die Person, die ich einmal war.« »Glaubst du, Eddie würde das kümmern?«, fragte Roger. »Ich denke, du wirst sehen, dass er da sehr traditionell denkt. Er ist sehr altmodisch, was gewisse Dinge angeht.« »Er muss aber nicht erfahren, was wir über dich wissen«, meinte Harry. »Wir müssen es ihm nicht sagen. Nicht, wenn du deinem Herzen einen kleinen Schubs gibst und uns wenigstens ein bisschen hilfst.« »Im Tausch für euer garantiertes Schweigen?« »Exakt«, sagte Roger. »Alles, worum wir bitten, ist, dass du für uns ein gutes Wort einlegst. Unsere Position unterstützt. Dabei hilfst, Eddie zu überzeugen, dass es im besten Interesse aller ist, zurückzutreten und Harry zu erlauben, seinen Platz als Familienoberhaupt einzunehmen. Keine großen Reden, keine große Sache. Nur ein paar Worte in sein Ohr, im rechten Moment.« Und dann unterbrach er sich, weil Molly ihn anlächelte. Und dies Lächeln war nicht sehr angenehm. Molly trat einen Schritt vor und Roger wich einen zurück. Harry bewegte sich schnell vor, um sich zwischen die beiden zu stellen. »Es gab eine Zeit«, sagte Molly, »da hätte es mir etwas ausgemacht, was ihr Eddie erzählen könntet. Aber das hat sich geändert. Sagt ihm, was ihr wollt, es macht mir nichts aus. Ich kümmere mich nicht darum, und ich glaube, das wird er auch nicht tun. Keiner von uns kümmert sich mehr um die Vergangenheit, denn es ist die Zukunft, die uns Sorgen macht. Aber selbst wenn, Harry, Roger, wäre ich an eurer Stelle sehr vorsichtig mit allem, was Eddie als eine Drohung gegen mich auffassen könnte. Er ist sehr beschützend mir gegenüber, seiner Liebe. Und ihr wollt wirklich nicht, dass er euch schon wieder in aller Öffentlichkeit in den Arsch tritt, oder, Harry?« »Wir ziehen in den Krieg!«, sagte Harry. »Die Familie braucht mich als Oberhaupt!« »Nein«, sagte Molly. »Du hattest deine Chance und du hast sie versaut. Du hast die Dinge erst so weit kommen lassen. Wenn ich Eddie wäre, würde ich dich für das töten, was du der Familie angetan hast. Und weißt du was? Vielleicht tue ich das noch. Einfach so allgemein. Ich könnte nämlich etwas brauchen, das mich aufmuntert.« Sie strahlte Harry und Roger an, wandte sich um und ging davon. Sie sahen ihr hinterher. »Frauen«, sagte Roger, und Harry nickte. Ich schloss die Szene am See, aber ich war mit Merlins Spiegel noch nicht fertig. Ein Teil von mir wollte los und Molly finden, sie an mich drücken und ihr sagen, … dass nichts eine Rolle spielte. Nichts spielte für mich eine Rolle, nur sie. Aber ich hatte immer noch die Verpflichtungen meiner Familie gegenüber, und da gab es Dinge, die ich herausfinden musste. Also sagte ich dem Spiegel, dass er mir zeigen sollte, wo Mr. Stich war und was er gerade tat. Ich hätte mich daran erinnern müssen, dass Lauscher an der Wand nicht nur ihre eigene Schand' hörten, sondern auch die jedes anderen. Zu meiner Überraschung zeigte mir der Spiegel, wie Mr. Stich völlig entspannt zwischen Bücherstapeln in der alten Bibliothek saß, während der Hilfsbibliothekar Rafe ihm einen Tee brachte. Mr. Stich hatte den Straßenanzug ausgezogen, in dem ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Vermutlich, weil er immer noch von Pennys Blut durchtränkt war. Stattdessen trug er wieder die formelle Kleidung seiner viktorianischen Zeit. Er saß still und ruhig da, während Rafe Milch in seinen Tee gab, aber keinen Zucker, und ihm dann die feine Porzellantasse reichte. Mr. Stich blies behutsam auf den Tee, um ihn zu kühlen, aber seine Augen blieben auf Rafes Gesicht gerichtet, als der junge Bibliothekar sich ihm gegenüber niederließ. »Sie trinken Ihren Tee nicht, Rafe«, meinte Mr. Stich. »Ich lasse ihn etwas abkühlen. Lassen Sie sich nicht aufhalten.« Mr. Stich sah Rafe beinahe traurig an und nahm dann einen großen Schluck aus seiner Tasse. Er verzog kurz den Mund und stellte die Tasse dann auf einem Bücherregal neben sich ab. »Wenn Sie mit Gift arbeiten, Rafe, dann müssen Sie den Tee viel stärker machen, um den Geschmack zu überdecken. Und Sie sollten genug Strychnin pro Tasse nehmen, um ein Dutzend normaler Menschen zu töten. Aber ich bin schon seit Langem nicht mehr so leicht zu töten. Für meinesgleichen ist Gift sowieso wie Muttermilch. Warum, Rafe? Ist es wegen Penny? War sie eine Freundin von Ihnen? Oder vielleicht sogar mehr?« Rafe stand abrupt auf und warf seine Tasse weg. Er stand drohend über Mr. Stich, für einen langen Moment, und seine Hände waren an der Seite zu Fäusten geballt. Mr. Stich stand gelassen auf, um ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Rafe brachte zunächst kein Wort heraus, sein Atem ging zu schwer. Sein Gesicht war vor Hass und Verachtung verzerrt. »Wir standen uns nie nahe«, sagte Rafe heiser. »Aber vielleicht wäre es so weit gekommen. Sie wusste nie, was sie mir bedeutet. Und jetzt wird sie es dank Ihnen nie wissen. Soll Ihre Seele zur Hölle fahren!« »Das ist schon geschehen«, sagte Mr. Stich. Rafe griff ihn an. Er warf sich gegen den ruhigen und ungerührt dastehenden Unsterblichen. Er schlug mit seinen Fäusten auf Mr. Stich ein, während heiße Tränen seine Wangen herunterliefen und Mr. Stich stand nur da und nahm es hin. Rafe rüstete hoch und seine goldenen Fäuste hämmerten auf Mr. Stichs leidenschaftsloses Gesicht ein. Die gerüstete Stärke hinter den Schlägen musste furchtbar sein, aber Mr. Stich schien keinen Schaden davonzutragen. Und wenn die Hiebe ihn schmerzten, zeigte er es nicht. Schließlich stand Rafe mit schwer herabhängenden Armen und schweiß- und tränenüberströmtem Gesicht vor Mr. Stich und rüstete ab. Mr. Stich sah ihn an. »Weinen Sie nur, Junge«, meinte er. »Das ist in Ordnung. Ich würde es auch tun, wenn ich könnte.« In diesem Moment kam William Drood herbei, um zu sehen, was es mit all dem Lärm auf sich hatte und nahm die Szene einen Moment in sich auf. Er sah Mr. Stich böse an, der sofort einen Schritt zurückwich und William nahm Rafe mit sich fort. Mr. Stich stand sehr still und sah nicht einmal auf, bis William wieder allein zurückkam. Ich ließ Mr. Stichs Gesicht die ganze Zeit nicht aus den Augen. Er verzog die ganze Zeit keinen Muskel. Ich hatte keine Idee, was er dachte oder fühlte. Wenn er überhaupt etwas fühlte. Es gab Zeiten, … in denen ich wünschte, ich könnte genauso sein und die Dinge nicht fühlen müssen, die mir so wehtaten. William bedeutete Mr. Stich, sich zu setzen und er folgte. William ließ sich ihm gegenüber nieder. Er sah traurig auf das benutzte Teegeschirr. »Trinken Sie den Tee nicht«, sagte Mr. Stich ruhig. »Das habe ich mir zusammengereimt«, sagte William trocken. »Es tut mir leid. Er ist jung. In diesem Alter nimmt man die Dinge so persönlich. Dennoch, es war nichts, was Sie nicht erwartet oder schon erlebt hätten, denke ich. Was wollten Sie hier?« »Molly Metcalf meinte, ich könnte hier Antworten finden«, meinte Mr. Stich. Sie hätten in diesem Tonfall genauso gut über das Wetter reden können. »Altes Wissen, das man nirgendwo sonst findet. Vielleicht sogar einen Hinweis auf eine Heilung meines Zustands. Oder wenigstens einen darauf, wie man bestimmte Aspekte davon mildern kann.« William sah ihn abwägend an. »Sie haben selbst gewählt, was Sie jetzt sind. Bereuen Sie es jetzt?« »Sie kennen diese Bibliothek besser als jeder andere«, sagte Mr. Stich. »Könnten Sie mir helfen?« »Warum sollte ich?«, fragte William offen. »Nach allem, was Sie getan haben, warum sollte ich nicht entzückt über die Aussicht sein, dass Sie unweigerlich zur Hölle fahren?« »Um zukünftige Leben zu retten?«, meinte Mr. Stich ruhig. »Damit es keine Pennys und keine Rafes mehr gibt.« William schnaubte. »Ich schätze, es ist sicher etwas hier. Wir haben Bücher zu jedem Thema unter diversen Sonnen, vom Ungewöhnlichen bis hin zum Unglaublichen, vom Unwahrscheinlichen bis hin zum schlichtweg Unmöglichen. Ich bin mir sehr sicher, dass auch Sie irgendwo dabei sind. Es kommt darauf an, was Sie genau wollen, das ich finde.« »Ich habe mich selbst zu dem gemacht, was ich bin«, sagte Mr. Stich. »Ich bin für alles, was ich bin und alles, was ich jemals getan habe, verantwortlich. Aber zum ersten Mal will ich das ändern.« »Das würde darauf ankommen, mit wem und wie Sie diesen Handel einst abgeschlossen haben«, meinte William vorsichtig. »Einige dieser Verträge könnten neu verhandelt werden. Wollen Sie wieder menschlich werden?« »Ich war immer menschlich«, sagte Mr. Stich. »Das ist das Problem. Ich will etwas anderes. Ich will einen Weg finden, meine Opfer wieder lebendig zu machen. Alle. All den Frauen, die ich in all den Jahren abgeschlachtet habe, will ich das Leben wiedergeben. Bis hin zu den armen fünf Frauen, die das alles möglich gemacht haben, damals, in diesem für die Jahreszeit zu warmen Herbst 1888.« »Das tut mir leid, aber das geht nicht.« Mr. Stich huschte unglaublich schnell vor, und plötzlich hatte er eine schimmernde, lange Klinge in der Hand. Bevor William überhaupt reagieren konnte, wurde das rasiermesserscharfe Messer gegen seine Kehle gepresst, direkt über den Adamsapfel. Mr. Stich starrte ungerührt in Williams Gesicht, sein kalter Atem brandete gegen Williams weit geöffnete Augen. Die Klinge presste sich gegen die Haut und ein kleiner, langsamer Blutfaden rann aus dem winzigen Schnitt, den das Messer geöffnet hatte. William saß sehr still. »Das ist nicht die Antwort, die ich hören wollte«, meinte Mr. Stich. »Wir haben alle Dinge in unserem Leben, die wir ungeschehen machen wollen«, meinte William behutsam. Er wollte ganz offensichtlich sehr gern schlucken, wagte es aber nicht. »Aber Sünden kann man nicht ungeschehen machen. Nur vergeben.« »Das ist nicht genug«, sagte Mr. Stich. »Ich weiß«, erwiderte William. Er sah auch weiterhin in den starren Blick von Mr. Stich, so enervierend das auch war, aber es war besser, als auf das Messer herunterzusehen, das an seinen Hals gehalten wurde. »Aber es gibt nichts in dieser Bibliothek, kein Buch und kein Wissen, mit dem man die Toten wieder zum Leben erwecken kann. Nur ein Mann konnte das je tun und ich denke, wir stimmen darin überein, dass Sie nicht er sind. Ich könnte Ihnen helfen, die Geister dieser armen, unglücklichen Frauen wiederzuerwecken, damit Sie mit ihnen kommunizieren können, oder ihre Körper zu Zombies zu machen, aber das ist nicht, was Sie wollen. Oder was Sie brauchen.« Mr. Stich dachte einen langen Augenblick darüber nach, in dem William kaum atmete. Dann trat er plötzlich zurück und ließ sein langes Messer wieder verschwinden. William hob zögernd seine Hand an den Hals und atmete etwas freier, als er nur ein paar Tropfen Blut an seinen Fingerspitzen sah. »Was gibt es noch?«, fragte Mr. Stich. Er sah in keine bestimmte Richtung und William fragte sich offenbar, ob Mr. Stich noch mit ihm redete. »Was es noch gibt?« »Ich kann nicht ungeschehen machen, was ich getan habe, kann nicht aufhören, zu sein, was ich bin. Ich kann nicht einmal durch den Tod aufhören oder allem entkommen. Was bleibt mir übrig?« »Da ist immer die Buße«, sagte William. »Tun Sie genügend Gutes, um Ihre Sünden auszugleichen.« Mr. Stich dachte darüber nach. »Würde Töten zu einem guten Zweck dazugehören?« »Das würde ich sagen, ja.« Mr. Stich lächelte zum ersten Mal. »Dann ist es ja gut, dass ein Krieg ansteht.« Er wandte sich um und ging fort. William sah ihm hinterher und betrachtete dann wieder das Blut an seinen Fingerspitzen. Etwas später stand ich in dem rosenfarbenen Glühen des Sanktums, mit der Matriarchin an meiner Seite, und wartete auf die anderen, die ich herbestellt hatte. Ich wusste nicht, ob es an mir lag oder an den Zeiten, aber Seltsams rötliches Glühen beruhigte und erfreute mich nicht mehr so wie früher. Seltsam selbst war sehr still. Vielleicht war er nicht damit einverstanden, was ich von der Familie verlangte, mit der Rüstung und der Macht, die er so selbstlos zur Verfügung stellte. Aber ich konnte mir selbst nicht erlauben, mich darum zu kümmern. Ich musste einen Krieg gewinnen. Ich würde mich später damit befassen, falls ich dann noch lebte. Wenigstens hoffte ich das. »Es ist nie leicht«, sagte Martha plötzlich und ihre harsche, kalte Stimme warf in der großen, leeren Halle ein Echo. »Es ist niemals leicht, Agenten hinauszuschicken, vielleicht oder sogar wahrscheinlich in ihren Tod. Wir tun es, weil es notwendig ist, für das Wohl der Familie und der Welt. Aber es wird niemals einfacher.« »Danke für den Versuch«, sagte ich. »Aber das zu wissen hilft nicht.« »Das wird es«, sagte Martha. »Wenn die Zeit dazu gekommen ist. Ich bin froh, dass du nach Hause gekommen bist, Edwin. Wer hätte gedacht, dass wir so viel gemeinsam haben?« »Eddie«, sagte Seltsam plötzlich. »Tut mir leid, euch zu unterbrechen, aber euer Treffen wird warten müssen. Ich wurde gerade von den Sicherheitsleuten an den Arrestzellen informiert, dass man Sebastian ermordet hat.« »Was?«, fragte die Matriarchin. »Das ist unmöglich! Nicht unter unserer Bewachung!« »Was ist passiert?«, fragte ich und unterbrach die Matriarchin. »Hat er versucht, zu entkommen?« »Nein«, sagte Seltsam. »Er wurde tot in seiner Zelle gefunden.« »Wie konnte das nur passieren?«, fragte die Matriarchin. Sie klang ernstlich entrüstet. »Unsere Sicherheit ist die beste der Welt. Das muss sie sein.« »Ich bekomme immer noch Details«, sagte Seltsam. Er klang gedämpft, beinahe entfernt; überhaupt nicht nach seinem typischen, heiteren Selbst. Ich vermutete, dass so viele schlechte Nachrichten hintereinander das wohl bewirkten. Und ich konnte mir nicht helfen, ich nahm auch an, dass unsere materielle Welt vielleicht auch eine große Enttäuschung für ihn war. Ich musste mich konzentrieren auf das, was Seltsam zu sagen hatte. »Zuerst dachten die Wachen, es sei Selbstmord. Bis sie in den Isoliertank hineingingen und das Ausmaß seiner Wunden entdeckten. Und die waren wirklich … enorm. Es scheint, als hätte man ihn aufgeschnitten, vom Hals bis hinunter in den Schritt. Aber es gibt keine Aufzeichnung, dass jemand den Tank betreten hätte. Kein Zeichen, dass jemand hineinging oder ihn verließ. Die Überwachungskameras zeigen uns nichts. Was, wie ich höre, unmöglich sein soll.« »Halt uns über die Ermittlungen auf dem Laufenden«, sagte ich nach einer Pause. »Und verdopple die Wachen an den Türen aller Arrestzellen.« »Das ist alles?«, fragte Martha. »Edwin, wir müssen hinunter und das selbst in Augenschein nehmen!« »Nein, das müssen wir nicht«, erwiderte ich. »Wir wären nur im Weg. Lass die Sicherheit ihren Job machen. Sie sind sehr gut darin.« »Aber …« »Sie wissen selbst, wie unmöglich das ist. Sie brauchen uns nicht, um ihnen über die Schulter zu sehen. Wir müssen uns darauf konzentrieren, was wirklich wichtig ist und dürfen uns nicht ablenken lassen. Vielleicht wurde Sebastian genau deshalb getötet: um uns am Vorabend unserer Attacke abzulenken. Überhaupt: Warum Sebastian töten? Was hätte er uns schon sagen können?« »Die Identität des langjährigen Verräters unserer Familie«, sagte Martha. »Nur einer von uns hätte die Schutzmaßnahmen umgehen können. Einer, der sie in- und auswendig kannte. Aber du hast recht, Edwin. Wir sollten uns nicht von dem ablenken lassen, was wirklich wichtig ist.« Einer von uns. Ja. Ich wollte, dass es einer von uns war, so schlimm das auch sein mochte. Weil es sonst Molly hätte sein können. Ich wollte nicht darüber nachdenken, aber ich konnte es nicht aufhalten. Molly hätte zu Sebastian gelangen können, indem sie ihre Magie benutzte. Sie wollte ihn tot sehen wegen dem, was er ihr angetan hatte. Oder … sie hätte von dem Ding in ihr beeinflusst werden und zu einem Zweck töten können, der den Abscheulichen diente. »Seltsam«, fragte ich. »Wo ist Molly gerade?« »Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, Eddie«, sagte Seltsam nach einer Pause. »Ich bin offenbar nicht in der Lage, sie irgendwo zu lokalisieren. Was merkwürdig ist …« »Macht nichts«, sagte ich. »Ist nicht wichtig. Ich rede später mit ihr.« Das Treffen fand schließlich statt, als die dafür nötigen Leute auftauchten. Giles Todesjäger war natürlich der Erste, mit dem Sinn eines Soldaten für Pünktlichkeit. Er sah ruhig und entspannt aus und unglaublich gefährlich, wie immer. Er verbeugte sich kurz vor mir und der Matriarchin, und es wäre schwer gewesen zu sagen, was das respektvollere Kopfnicken gewesen wäre. Ich begann zu denken, dass ich mich vielleicht doch mit ihm hätte duellieren sollen. Soldaten respektieren nur Stärke. Aber wenn ich verloren hätte … Ich hatte Giles kämpfen sehen und er war wirklich verdammt gut. Als Nächste kamen Harry und Roger, beide fröhlich und unschuldig lächelnd, als ob sie nicht gerade erst versucht hätten, meine Molly zum Verrat zu überreden. Die Matriarchin funkelte beide wütend an, aber sie nahm ihre spitze Zunge an die Zügel, zum Wohl der Familie. Mir schossen eine Menge Dinge durch den Kopf, die ich hätte sagen können, aber ich beschränkte mich selbst auf ein höfliches Nicken. Ich brauchte Harry und Roger. Die Familie brauchte sie. Mr. Stich schlenderte herein, begleitet vom Seneschall, und ich spürte, wie die Temperatur im Sanktum ein paar Grade sank. Wir sahen ihn alle an, aber keiner von uns hatte etwas zu sagen. Mr. Stich lächelte uns kühl an, als ob er peinliche Situationen wie diese gewohnt war. Er hatte sich für die Mission, die ich plante, sofort freiwillig gemeldet, in dem Moment, in dem ich sie ihm erklärt hatte und ich war froh, ihn an Bord zu haben. Solange der Seneschall da war, um ein Auge auf ihn zu werfen. Der Nächste, der kam, war der Blaue Elf. Konnte sein, dass der nur zugestimmt hatte, um seinen Plan, einen Torques zu stehlen, wiedergutzumachen, aber er hatte nicht den Anstand, auch nur ein wenig schuldbewusst auszusehen. Er war in seinen besten, in allen Farben leuchtenden und sorgfältig geschneiderten Anzug gekleidet und lächelte alle an. Es war schwer, den Mann nicht zu mögen, aber die Mühe war es dennoch wert. Der Waffenmeister kam herein und stellte sich etwas abseits auf, die Hände tief in die Taschen seines fleckigen und angekokelten Laborkittels gebohrt. Er vermied den Augenkontakt mit jedem anderen. Er wusste, die Mission, die ich plante, war abhängig von der neuen Waffe, die er entwickelt hatte. Offenbar hatte er keine Lust, hier bei dem Treffen Zeit damit zu verschwenden, ihre Funktionsweise zu erklären, wenn er diese Zeit auch damit hätte verbringen können, sie zu perfektionieren. Seitdem Onkel Jack sich von den Außeneinsätzen zurückgezogen hatte, hatte er seine sozialen Fähigkeiten weniger verloren als vielmehr weggeworfen. Und wie immer als Letzter kam Callan Drood herein. Für ihn war Pünktlichkeit etwas, das andere Leute betraf. Er trug einen langen Ledermantel und einen Schlapphut mit breiter Krempe. Er sah aus, als sei er direkt von einem Viehtrieb gekommen. Callan hinterließ gern den Eindruck, dass man ihn von etwas viel Wichtigerem weggeholt hatte und dass er es nicht abwarten konnte, wieder dorthin zurückzukehren. »Okay«, sagte ich laut, als alle versammelt waren. »Das ist sie. Die große Attacke, der große Vorstoß, um die Abscheulichen bei dem zu stoppen, was sie tun und sie davon abzuhalten, die Eindringlinge in unsere Realität zu bringen. Unser Geheimdienst hat es mit Mollys Hilfe geschafft, jedes einzelne Nest auf der Welt zu finden. Wir müssen sie alle gleichzeitig angreifen und sie und ihre Türme zerstören. Und das müssen wir beim ersten Mal schaffen, Leute, weil die Wettquoten sagen, dass wir keine zweite Gelegenheit kriegen werden. Ihr werdet sorgfältig ausgesuchte kleine Kampfgruppen, die aus unseren besten Kämpfern bestehen, gegen die wichtigsten und größten Ghoulstädte anführen; dort befinden sich die Türme, von denen der Geheimdienst annimmt, dass sie kurz vor der Fertigstellung stehen. Wenn sie einmal geschleift sind, werden wir uns von Ghoulstadt zu Ghoulstadt vorarbeiten, in ein Nest nach dem anderen eindringen, und sie in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit ausradieren. Bis sie alle weg sind. Nicht ein Nest, nicht ein Turm, nicht eine Drohne dürfen überleben. Und wir müssen es schnell tun, Leute. Wenn wir einmal begonnen haben, wird die Nachricht von Nest zu Nest eilen, übertragen durch das Kollektivbewusstsein der Abscheulichen. Und dann werden sie uns erwarten. Onkel Jack, erzähl doch diesen netten Leuten etwas über das unangenehme kleine Ding, dass du für sie zum Spielen entwickelt hast.« Der Waffenmeister trat vor und runzelte die Stirn. Er hatte alles getan, was er konnte, um mich davon zu überzeugen, eine der Kampfgruppen zu führen, aber trotz all seiner Erfahrung als Frontagent war er jetzt zu wertvoll, um ihn einem Risiko auszusetzen. Er hatte es allerdings nicht sehr freundlich aufgenommen, als ich ihn auf diesen Umstand hinwies, und hatte dabei eine Sprache verwendet, die einem Mann seines Alters und seiner Position nicht gerade angemessen war. »Ich habe eine neue Art von Bombe entworfen«, sagte er kurz. »Eine völlig neue Art, die darauf basiert, die andersdimensionale Energie eines Turms gegen ihn selbst zu richten. Das Resultat ist eine massive Explosion, die den Turm sowie jedes lebende Wesen innerhalb eines Hundert-Meilen-Radius komplett zerstört. Also solltet ihr alle verdammt sicher sein, dass ihr außerhalb der Ghoulstadt seid, bevor sie detoniert. Alles, was ihr tun müsst, ist, die Bombe ans Fundament des Turms zu legen, den Timer einzustellen und die Beine in die Hand zu nehmen. Seid sicher, die Wege in und aus der Ghoulstadt abzusichern, denn wir dürfen keine Drohnen entkommen lassen. Tut mir leid, Eddie. Ich weiß, du hast gehofft, dass ich ein Heilmittel finden könnte, das die Infizierten heilt, aber es gibt nichts, was ich tun kann. Niemand könnte irgendetwas tun. Wenn jemand einmal infiziert ist, dann ist er für uns verloren. Für die Menschheit. Wir alle wissen, dass die Drohnen die unschuldigen Opfer in diesem Spiel sind, aber wir müssen unsere Bemühungen auf die konzentrieren, die wir retten können - also auf den Rest der Welt.« Ich antwortete nicht. Ich wollte nicht glauben, was er sagte. Wollte nicht glauben, dass meine Molly hoffnungslos verloren war. Aber fürs Erste nickte ich nur und fuhr fort. Was konnte ich sonst tun? »Euer Job ist es, einen Pfad durch die Drohnen zum Turm hin zu bahnen und die Bombe zu aktivieren«, sagte ich zu den anderen. »Lasst euch nicht ablenken. Verschwendet eure Zeit nicht damit, Drohnen zu töten, denn ihr müsst zu den Türmen gelangen. Hier geht's darum, ganze Nester zu zerstören, nicht einzelne Drohnen.« »Das musst du nicht extra betonen«, meinte Harry. »Wir sind nicht blöd. Ich stelle übrigens fest, dass du keine der Kampfgruppen anführst, Eddie. Warum?« »Weil er hier gebraucht wird«, entgegnete die Matriarchin kurz. »So wie ich auch. Jemand muss hierbleiben, um den Überblick zu behalten. Etwas, so wurde mir gesagt, in dem du bemerkenswert schlecht bist.« »Natürlich«, murmelte Harry. »Ich wusste, dass es etwas in der Art sein würde.« Und dann wirbelten wir alle herum, als U-Bahn Ute ins Sanktum platzte. Es war so lange her, dass ich sie gesehen hatte, dass ich sie tatsächlich vergessen hatte. Sie sah sogar schlampiger aus als gewöhnlich, was schon eine Leistung war. Ihr langer, verschlissener Mantel war zerrissen, zerlumpt und mit verschiedensten Sorten von Dreck beschmutzt und ihr langes Haar war ein Durcheinander schmieriger Strähnen. Aber ihr Mund war fest und ihre Augen brannten grimmig. Sie marschierte direkt zu mir und pflanzte sich vor mir auf. »Ich habe nach einem Weg gesucht, mich nützlich zu machen und etwas beizutragen«, sagte sie mit ihrer rauen, kratzigen Stimme. »Etwas, um Mollys Vertrauen in mich und auch meine Gegenwart hier zu rechtfertigen. Und ich denke, ich habe es gefunden. Ich weiß mehr über versteckte Wege als jeder andere. All die geheimen Gänge, interdimensionalen Abkürzungen und verbotenen Türen. In meinen verschiedenen Leben als Glücksvampirin und Unterirdische, auf all den Wegen runter und wieder rauf hatte ich die Gelegenheit, die meisten von ihnen mehrmals zu benutzen. Aber ich habe für euch etwas Neues gefunden oder wenigstens etwas, das so alt und versteckt ist, dass es so gut wie neu ist. Es hat etwas Zeit gebraucht, durch die dunkleren Regionen zu reisen, mit alten Freunden und Feinden und Verbündeten zu reden, aber ich habe einen völlig neuen und geheimen Weg gefunden, den ihr benutzen könnt. Eine Annäherungsmöglichkeit, die euer Feind nie erwarten wird, weil keiner sie seit Ewigkeiten benutzt hat. Hauptsächlich, weil es zu gefährlich ist. Aber ihr seid Droods, ihr lacht der Gefahr ins Gesicht, nicht wahr? Ihr könnt diesen Weg benutzen, um in der Welt überallhin zu kommen, egal wo ihr seid, und dabei unentdeckt ankommen. Es handelt sich um die Unterseite des Regenbogenwegs, der Weg der Verdammnis.« Sie hielt inne und holte Luft. Sie sah mich erwartungsvoll an. »Der Name klingt nicht gerade vertrauenerweckend«, bemerkte ich vorsichtig. »Könnte es einen Grund geben, warum ihn so lange niemand benutzt hat? Irgendetwas Besonderes, das ihn so gefährlich macht?« »Das weiß keiner mit Sicherheit«, sagte U-Bahn Ute und gab ihr Bestes, nicht allzu defensiv zu klingen. »Die Leute hörten einfach auf, am anderen Ende rauszukommen, wenn sie ihn benutzten. Die Wetten stehen gut, dass etwas darin lebt und die Reisenden verschlingt. Etwas wirklich Mieses.« »Horch was kommt von draußen rein, fragte der Wolf und fraß das Rotkäppchen«, murmelte Harry. Ute warf ihm einen bösen Blick zu. »Gleich schlag ich dich und dann tut es weh.« »Nun, vielen Dank dafür, dass du so viel Zeit und Mühen geopfert hast, um uns zu helfen, Ute«, sagte ich. »Aber wir haben bereits unsere eigenen zeitlosen und nicht feststellbaren Transportwege, uns in die Ghoulstädte zu transportieren. Aber wenn irgendwelche Probleme aufkommen, bin ich sicher, dass wir uns alle besser fühlen werden, weil wir deinen Weg der Verdammnis haben, auf den wir zurückgreifen können.« Ich war freundlich und jeder hier wusste es. Einschließlich U-Bahn-Ute. Sie nickte nur steif, wandte uns den Rücken zu und stakste aus dem Sanktum. Ich sah die anderen an. »Ende der Besprechung. Ihr wisst alle, was ihr wissen müsst. Legt einen Stopp in der Waffenmeisterei ein und holt euch eure Bomben. Dann macht euch mit den Leuten in euren Kampfgruppen vertraut, bevor ihr euch im Lageraum für den Angriff abmeldet.« »Ich habe ein paar Fragen«, ließ sich Harry vernehmen. »Ja, ich dachte mir schon, dass du das hast. Was ist los, Harry?« »Nun, um mal anzufangen: Wo ist die berüchtigte Molly Metcalf? Sollte eine Hexe mit ihren zweifellos vorhandenen Talenten nicht unter den Glücklichen sein, die eine solche Kampfgruppe führen?« »Oh, sie wird dabei sein«, sagte ich. »Und sich selbst nützlich machen.« Molly hatte selbst zu den Nestern gehen und ihren berüchtigten Aufruhr anzetteln wollen, aber ich hatte Nein dazu sagen müssen. Ich konnte nicht riskieren, dass ihre infizierte Persönlichkeit plötzlich in der Nähe eines Turms an die Oberfläche kam. Sie sagte, dass sie das verstünde. Seitdem hatte ich sie nicht mehr gesehen. »Und diese ›bemerkenswerten Transportwege‹«, fügte Harry hinzu. »Hast du irgendeine neue Art Wundergerät, das du in der Tasche mit dir herumträgst?« Ich musste grinsen. »Wirklich lustig, dass du das sagst, Harry …« Molly wartete in dem großen Steingewölbe des Lageraums, als die Matriarchin und ich etwas später endlich eintrafen. Sie lächelte uns an, aber es wirkte, als schenkte sie uns nicht ihre ganze Aufmerksamkeit. Als dächte sie an etwas anderes. Ich sah absichtlich woanders hin. Der Lageraum sah für seine Verhältnisse ziemlich verlassen aus. Ich erkannte ihn kaum wieder. Die meisten der Arbeitsstationen und Bildschirme waren heruntergefahren, damit der Lageraum mit einer Rumpfcrew operieren konnte. Es war seltsam, all die Weltkarten ohne ihre üblichen bunten Lämpchen zu sehen, aber wir kümmerten uns nicht mehr um das, was im Rest der Welt vor sich ging. Die Matriarchin ging direkt zu ihrem Operationstisch und war sofort von einem Dutzend Boten umgeben, die die letzten Berichte und Geheimdienst-Updates brachten. Ich wanderte durch den Raum und überprüfte den verbliebenen Kommunikationsstab. Auch hier hatten wir nur das absolut nötige Personal übriggelassen. Die meisten Leute aus dem Lageraum hatten sich den Tausenden von gerüsteten Gestalten angeschlossen, die mehr oder weniger geduldig in den Korridoren draußen warteten und sich selbst auf die kommenden Schlachten vorbereiteten. Normalerweise konnte jeder Agent, der draußen im Feld operierte, darauf zählen, dass ihn Hunderte im Herrenhaus unterstützten, ihn mit Informationen, Ratschlägen oder sonstiger Hilfe versorgten; aber wir konnten uns das jetzt nicht leisten. Jeder musste mitkämpfen. Es würde ein Schlacht- und Brandfest werden, eiskaltes Töten - Metzgerarbeit. Ich beendete meinen Rundgang durch den Lageraum und blieb neben Molly stehen. Sie sah … angespannt aus, wie unter großer Anstrengung; ein Stück Draht, das so straff gespannt war, dass es jeden Moment reißen konnte. Ich wollte meinen Arm um sie legen, aber ich wusste, das würde sie nicht wollen. Molly wollte in der Öffentlichkeit immer hart und selbstsicher wirken. Sie hätte schon den Gedanken, dass irgendjemand sie als schwach ansehen könnte, gehasst. Also stand ich einfach nur so dicht neben ihr wie ich konnte und hielt meine Stimme ruhig und leicht, als täten wir diesen »Lass-uns-für-die-Menschheit-die-Welt-retten-Kram« jeden Tag. »Also«, meinte ich. »Sieht aus, als ginge es endlich los. Ab in die Hölle für einen himmlischen Zweck und so. Wo warst du?« »Draußen im Park«, sagte sie. »Es ist ziemlich friedlich da draußen.« Sie sagte nichts über Harry und Roger und ich wollte sie nicht drängen. Aber es ließ mich darüber nachdenken, ob sie noch andere Dinge vor mir verheimlichte. Sie hätte Sebastian töten können, aus allen möglichen Gründen. Wie konnte ich sie beschützen, wenn ich nicht wusste, wovor? »Hör zu«, sagte sie plötzlich und sah mich immer noch nicht an. »Lass dich nicht umbringen, ja?« »Ich werde nicht mit den Kampfgruppen rausgehen«, sagte ich. »Ich werde die Dinge von hier aus leiten. Sicher und heil von hier aus, weit von jeder Front weg.« »Ich kenne dich, Eddie. Sobald irgendetwas schiefgeht, bist du der Erste, der losrennt und wieder einmal den Helden spielt. Du wirst gar nichts dafür können, so bist du eben. Also - pass auf dich auf da draußen. Halt dir den Rücken frei. Heutzutage gibt es überall Verräter. Und ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn ich dich nicht mehr habe.« »Alles wird wieder gut«, sagte ich. Es klang schon in dem Moment nicht sehr überzeugt, als ich es sagte, aber ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte. Ich konnte sie nicht hier in der Öffentlichkeit in den Arm nehmen, also nahm ich nur ihre Hand und drückte sie. Sie drückte zurück, ohne mich anzusehen. Wir standen zusammen, und sahen zu den Hauptbildschirmen hin, die die ganze Zeit Bilder der goldenen Armee zeigten, die sich nach wie vor in den Korridoren draußen sammelte. Sie standen in langen Reihen da, so weit das Auge reichte. Es gab überraschend wenig Unterhaltungen, jeder schien mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Die ganz Alten und ganz Jungen standen im Hintergrund und fragten sich ohne Zweifel im Stillen, ob sie ihre Lieben je wiedersehen würden. Ich hatte nicht dabei zugesehen, wie meine Eltern auf ihre letzte, tödliche Mission aufbrachen. Der Lehrer hatte mich nicht aus der Klasse gehen lassen. Als ich es endlich geschafft hatte, mich davonzustehlen, war es zu spät gewesen, sie waren bereits gegangen. Ich sah sie nie wieder. Es machte mir in der letzten Zeit mehr und mehr aus, dass ich ihnen niemals habe Auf Wiedersehen sagen können. Alles für die Familie. Zum Teufel mit der Familie. Und zum Teufel mit der Welt, die uns so nötig braucht. Die verschiedenen Kampfgruppenführer kamen herein, hatten alle ihre Leute überprüft. Der Stress und die Anstrengung sorgten dafür, dass sie sich wie überdrehte Cartoons ihrer selbst aufführten. Giles Todesjäger kam allerdings wie der Soldat herein, der er war und blieb mit großem Getöse vor dem Lagepult der Matriarchin stehen. Sie nahm ihn nur mit einer hochgezogenen Augenbraue zur Kenntnis und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Harry und Roger kamen hereingeschlendert und hielten ostentativ Händchen. Die Matriarchin sah nicht einmal in ihre Richtung. Ich weiß nicht genau, wann Mr. Stich ankam. Ich sah nur auf und da war er schon, ein viktorianischer Anachronismus mitten unter so viel Technik aus dem 21. Jahrhundert. Der Seneschall kam ein paar Momente später hereingestürzt und war sichtlich angefressen, dass Mr. Stich seiner Aufsicht hatte entkommen können. Er starrte seinen flüchtigen Schützling wütend an und stellte sich demonstrativ neben ihn. Mr. Stich nickte nur höflich. Der Waffenmeister kam geschäftig hereingewuselt und trug einen ganzen Sack voller nützlicher Kleinigkeiten. Ein halbes Dutzend Labortechniker schwänzelte wie eifrige Welpen hinter ihm her. Und Callan Drood kam natürlich zu spät und beschwerte sich bitterlich über irgendetwas Unanständiges, das der Blaue Elf angestellt hatte, der höflich so tat, als höre er nicht hin. Und das war's. Diese Leute würden die vier Hauptkampfgruppen anführen und die gefährlichsten Situationen und die Türme bewältigen, die beinahe fertig waren. Alle anderen Kampfgruppen würden von unseren erfahrensten Frontagenten angeführt werden. Ich hätte eigentlich auch eine der Gruppen führen müssen, vorzugsweise mit Molly an meiner Seite. Aber ich hatte alle Verantwortung auf mich genommen, als ich das Kommando über die Familie übernommen hatte und das beinhaltete nun einmal auch, danebenzustehen und hilflos zuzusehen, wie andere fortgingen und auf mein Kommando starben. Martha hatte gesagt, dass es nie einfacher werden würde. Was es wirklich einfacher machte, zu verstehen, wie sie geworden war, was sie darstellte. Harry kam zu Molly und mir herüberspaziert, Roger dicht bei sich. Harry ignorierte Molly ganz offen, um mich anzulächeln. »Also, Eddie«, sagte er. Ein mutiger Schritt in Richtung Selbstverständlichkeit im Umgang mit mir. »Wann wirst du dein neuestes Wunder aus dem Hut ziehen und uns alle überraschen? Wie werden wir zum Beispiel in all diese Nester und Ghoulstädte platzen, ohne entdeckt zu werden? Ich weiß, dass du deine brillanten Weltrettungsideen gern bis zum allerletzten Moment aufhebst, aber es wird jetzt schon verdammt knapp.« Ich grinste, zog Merlins Spiegel aus der Tasche und schüttelte ihn zu voller Größe auf. Am Ende stand er in der Mitte des Lageraums, wie eine Tür ins absolute Überall. Was es ja technisch gesehen auch wirklich war. Jeder drängelte sich jetzt vor dem Spiegel, während ich zusammenfasste, was er konnte. Wir alle sahen zweifelnd auf die besorgten Gesichter unserer Spiegelbilder. Wir sahen nicht gerade wie Leute aus, die die Welt retten wollten. »Der Spiegel Merlins sieht die Gegenwart«, sagte ich. »Überall und nirgends. Und er kann wie ein Tor zu allem wirken, was er sieht. Das ist unsere Eintrittskarte, Leute. Wir sagen dem Spiegel, er soll ein Nest aussuchen. Dann zeigt er uns das Innere einer Ghoulstadt und dann werden wir, respektive ihr, mit eurer Kampfgruppe durchgehen und die Scheiße aus den Abscheulichen prügeln. Was könnte einfacher sein?« Der Waffenmeister und seine Laborcrew hasteten um die Basis des Spiegels herum und verbanden es mittels eines unüberschaubaren Wusts von regenbogenfarbenen Kabeln mit den Kommunikationsstationen und den Bildschirmen, damit wir verfolgen konnten, was in mehr als einem Nest gleichzeitig geschah. Molly schwebte über ihnen und peppte die Verbindungen mit einem zusätzlichen Schuss magischer Unterstützung auf. Harry fuhr plötzlich zu mir herum. »So also wusstest du vor allen anderen von Penny und Mr. Stich. Du hast zugesehen. Du perverser kleiner Voyeur, du. Wen hast du sonst noch die ganze Zeit durchs Schlüsselloch beobachtet?« »Ich führe die Familie«, sagte ich ruhig. »Ich beobachte jeden.« Harry sah Mr. Stich an, der an der Seite stand. »Wir müssen etwas wegen ihm unternehmen, Eddie.« »Wenn du eine Idee hast, was und vor allem, wie wir das tun können, dann lass es mich wissen«, sagte ich. »Aber im Moment brauchen wir ihn.« »Wir werden ihn aber nicht immer brauchen«, sagte Harry. »Nein«, sagte ich. »Das werden wir nicht.« »Es ist Zeit«, sagte die Matriarchin und wir alle sahen in ihre Richtung. Sie stand aufrecht und autoritär vor uns, eine grauhaarige Kriegskönigin. Sie richtete ihren kalten Blick auf mich. »Alle Truppen sind versammelt und bereit. Alle Vorbereitungen wurden getroffen. Gib das Kommando, Edwin.« »In Ordnung«, sagte ich und drehte mich zu Merlins Spiegel um. »Zeig mir die Gegenwart«, sagte ich. »Zeig mir das Innere der Ghoulstadt, deren Turm der Fertigstellung am Nächsten ist.« Unsere Spiegelbilder verschwanden aus dem Spiegel und wurden durch wirbelnde Energiemuster ersetzt, die den Augen wehtaten. Merlins Spiegel stieß durch die Dimensionssperre, die das Nest der Abscheulichen vom Rest der Welt trennte, und dann war sie da, die infizierte Stadt, durch den Spiegel klar erkennbar. Ich hatte noch nie eine selbst gesehen, sondern nur Beschreibungen gehört und Berichte gelesen. Es reichte nicht aus, um einen auf die Wirklichkeit vorzubereiten. Für das, was einmal eine menschliche Stadt, ein menschlicher Ort gewesen war. Jetzt war sie es nicht mehr. Das Licht in der Ghoulstadt war schmerzhaft grell; es leuchtete grimmig und war für menschliche Augen beinahe nicht auszuhalten. Die Drohnen jedoch, die durch die Straßen schlurften und hasteten, schien es nicht zu stören. Sie sprachen nicht miteinander und sahen sich nicht einmal an. Das war nicht notwendig. Alle ihre Gedanken stammten aus dem Kollektivbewusstsein des Nests, aus dem Massenbewusstsein. Sie sahen nicht einmal mehr menschlich aus, oder sie hatten vergessen, wie man das tat. Selbst die Gebäude in der Ghoulstadt sahen infiziert aus. Sie beugten sich in falschen Winkeln vor, Holz und Stein und Ziegel sahen verrottet aus, krank und irgendwie beseelt von eigenem, eitrigem Leben. Seltsame Lichter leuchteten hinter den Fenstern, als wären sie ungesund und fremdartige Silhouetten taten schreckliche, fremdartige Dinge. »Die Schwerkraft fluktuiert ebenfalls«, sagte Callan, der neben mir stand. Das erste Mal klang er niedergeschlagen, beinahe verunsichert. »Oben und Unten, Rechts und Links können sich jederzeit und ohne Warnung verändern. Richtungen haben keine Bedeutung. Die Straßen winden und wenden sich, als hätten sie ein Eigenleben, und auf einmal drehen sie sich um hundertachtzig Grad und du stehst wieder da, wo du losgegangen bist. Die Drohnen allerdings betrifft das nicht. Vielleicht, weil sie nicht mehr wie wir denken. Die Luft ist kaum atembar, selbst, wenn man sie durch die goldene Maske filtert: Sie stinkt nach Blut und verfaultem Fleisch und Verfall. Alle Drohnen hier sind tot oder sterben gerade, ausgebrannt durch die Energien, die sie in sich tragen. Wenn ich einmal sterbe und für all die Dinge, die ich für diese Familie getan habe, zur Hölle fahre, dann wird mir die wenigstens bekannt vorkommen.« »Hast du denn deine Medikamente mal wieder nicht genommen, Callan?«, fragte der Blaue Elf. »Du kannst gern welche von mir haben. Die muntern einen wirklich auf.« »Mit mir ist gar nichts verkehrt!«, sagte Callan ärgerlich. »Die Ghoulstädte sind das Verkehrte! Und man muss sich auf sie vorbereiten, auf alles, was einem da begegnen kann. Oder wir werden diese verdammten Türme nie erreichen.« »Die Rüstung wird helfen«, sagte der Waffenmeister brummig, der jetzt mit seiner Verkabelung an Merlins Spiegel fertig war. »Vertraut auf die Rüstung und euer Training und ihr werdet alles schon hinkriegen. Lampenfieber ist normal vor so einer Mission. Als ich noch ein Frontagent war, habe ich mir jedes Mal die Seele aus dem Leib gekotzt, bevor ich über die Berliner Mauer nach Ostdeutschland bin. Ich schwöre, ich habe einmal in die Toilette geguckt und da meine eigene Niere im Becken schwimmen sehen.« »Vielen Dank, Onkel Jack«, sagte ich. »Ein Organ, dachte ich, das kann doch nicht wirklich mein eigenes Organ sein, oder doch?« »Vielen Dank, Onkel Jack!« Er schnüffelte und sah Merlins Spiegel mit professioneller Zustimmung an. »Was man auch immer über die Satansbrut Merlin sagen kann - und es sind ganze Bücher über ihn geschrieben worden -, damit hat er gute Arbeit geleistet.« »Die Drohnen können uns nicht sehen und hören?«, fragte Mr. Stich. »Sie haben keine Ahnung, dass wir ihnen zusehen?« »Gar keine«, sagte der Waffenmeister heiter. »Ich habe euch das perfekte Überraschungsmoment ermöglicht. Also macht was draus.« Giles Todesjäger zog sein großes Schwert und beinahe sofort wichen alle ein wenig zurück, um ihm ein wenig Raum zu geben. »Es ist Zeit«, sagte er. »Lasst uns loslegen.« »Er ist ja nicht gerade El Cid, oder?«, meinte der Blaue Elf. »Wann hatten wir das letzte Mal eine wirklich feurige Motivationsrede? Ich fühle mich ganz entschieden so, als könnte ich ein wenig Inspiration gebrauchen. Genau jetzt.« Giles sah ihn an. »Versau es nicht, oder ich zieh' dir das Fell über die Ohren.« »Ein echter Drood«, meinte der Blaue Elf. Ich befahl Merlins Spiegel, ein Portal in die vier Hauptnester zu öffnen und einer nach dem anderen erwachten die großen Bildschirme zum Leben und zeigten die Ghoulstädte; die Verbindungen des Waffenmeisters funktionierten. Ich sah mich einmal um, sagte im Stillen Auf Wiedersehen und Gott befohlen, und dann ging Giles mitten in Merlins Spiegel hinein in die dahinterliegende Ghoulstadt. Zweihundert goldene Gestalten folgten ihm durch den Lageraum hindurch. Dann gingen Roger und Harry hindurch, gefolgt von ihrer eigenen Kampfgruppe, und so weiter und so weiter. Es dauerte bei Weitem nicht so lange, wie ich gedacht hatte, all die Führer und ihre Kampfgruppen durchzuschleusen, auch wenn meine Stimme dabei heiser wurde, dass ich Merlins Spiegel immer wieder anbrüllte, sich zu neuen Orten zu öffnen. Das Stampfen und Klappern der gerüsteten Beine im Lageraum war ohrenbetäubend und ich musste schreien, um es zu übertönen. Alle Bildschirme waren nun hochgefahren und liefen. Einer nach dem anderen zeigten sie, wie Kampfgruppe auf Kampfgruppe auf nichtsahnende Drohnen traf. Und dann war auch der letzte Drood hindurch, und es gab nichts weiter zu tun, als zuzusehen. Die unterschiedlichen Angriffe auf die Nester geschahen gleichzeitig, verteilt auf die verschiedenen Bildschirme. Man konnte sie selbst dann nicht alle verfolgen, wenn man es versuchte. Zu vieles geschah gleichzeitig. Aber hier ist Schlacht für Schlacht das, was passierte, erzählt von den Überlebenden. Das erste, was der Waffenmeister tat, war, Molly zu helfen, Merlins Spiegel zu versiegeln, damit zwar noch Droods, aber keine Drohnen mehr hindurchkamen. Wir konnten keinem der Abscheulichen erlauben, zu entkommen. Sie würden ausnahmslos sterben müssen. Auch wenn alles, was den Drohnen passierte, nicht ihre Schuld war, denn sie hatten ja nicht darum gebeten, infiziert zu werden. Nein, es war unser Fehler, der der Droods, die die Abscheulichen zuerst in unsere Realität gebracht hatten. Es war unser Müll, den wir aufräumen mussten. Giles Todesjägers Ghoulstadt war früher eine kleine Stadt namens Heron's Reach in Neuseeland gewesen. Eine sehr kleine Stadt, umgeben von Schafweiden, so weit von jeder Straße entfernt, dass bisher niemandem aufgefallen war, dass sie fehlte. Wir aber wussten es. Wir sind Droods, wir wissen alles. Heron's Reach sah aus, als sei es ursprünglich ein hübscher Ort gewesen. Jetzt strömten infizierte Drohnen unter einem fremdartigen Licht, das so grell war, dass es keine Schatten warf, durch die engen Straßen wie Maden in einer Wunde. Viele der Drohnen waren deformiert, verzerrt und verbogen durch die andersdimensionalen Kräfte, die sich in ihr Fleisch gebrannt hatten und alle bewegten sich mit der geisterhaften Symmetrie eines Vogelschwarms. Sie alle unterbrachen das, was sie gerade taten, in genau dem Moment, in dem Giles und seine Kampfgruppe aus dem Nichts erschienen, die nächsten Drohnen umrannten und sie ohne eine Sekunde zu zögern gnadenlos niedersäbelten. Die Drohnen drangen einheitlich nach vorn und warfen sich der Invasionsmacht entgegen. Einige hatten Klauen oder spitze Finger. Einige hielten auch Äxte, um sie als Waffen zu benutzen. Sie alle trugen den gleichen, fremdartigen Ausdruck auf den Gesichtern, als sie die golden gerüsteten Gestalten überrannten und versuchten, sie durch ihre schiere Überzahl zu erdrücken. Giles führte seinen Trupp an und schwang das lange Schwert mit beeindruckendem Können und Kraft. Die schwere Klinge hieb Köpfe ab, drang in Brustkörbe und schnitt durch Fleisch und Knochen, ohne auch nur langsamer zu werden. Er zerschnitt Drohnen oder stieß sie beiseite, immer nach vorn stürmend, dabei mit blutigen Stiefeln über Leichen trampelnd. Golden gerüstete Männer und Frauen stürmten hinter ihm her, schlugen die Drohnen mit schweren Fäusten oder ausgefahrenen goldenen Klingen nieder. Blut spritzte durch die Luft, Innereien platschten auf die Straße. Die Drohnen schrien nicht, wenn sie fielen, und sie baten auch nicht um Gnade. Sie kamen nur immer weiter, bis ihre Körper ihnen den Dienst versagten. Selbst dann versuchten sie, nach goldenen Beinen und Füßen zu greifen, bis sie endgültig starben. Giles hackte und schnitt und stach und schwang sein großes Schwert in tödlichen Bögen, so als hätte es kein Gewicht. Er lachte und schrie glücklich auf, während er tötete. Blut tränkte seine Rüstung und spritzte auf sein grinsendes Gesicht. Der Todesjäger war ein Krieger. Er tat, wozu er geboren worden war und liebte jede Minute davon. Nicht alle in seiner Kampfgruppe empfanden das genauso. Obwohl die meisten mit den im Training erworbenen professionellen Fähigkeiten kämpften und sich auf das Ziel der Mission konzentrierten - einige brachten es einfach nicht über sich. Sie waren einfach keine Killer und kein noch so intensives Training hätte sie dazu machen können. Sie taten, was sie konnten und wandten sich dann von der Metzelei ab und kamen nach Hause. Keiner sagte etwas, als sie durch den Spiegel zurückgeschlichen kamen. Die Sanitäter standen schon bereit und brachten sie auf die Krankenstation. Wir verstanden das. Einige schafften es nicht. Drohnen schwirrten um sie herum, sobald sie die Kampfgruppe verließen, begruben sie durch schiere Überzahl und schlugen mit deformierten Fäusten auf sie ein. Die Kampfgruppe konnte sich nicht zurückziehen, um sie zu retten. Geschwindigkeit war die Grundlage der Operation. Sie mussten den Turm erreichen und die Bombe des Waffenmeisters dort anbringen, bevor Drohnen mit irgendeiner fremdartigen Waffe eingriffen, um sie aufzuhalten, wie sie das in der Nazca-Ebene getan hatten. Also rein, den Job erledigen und wieder raus. Nichts sonst durfte eine Rolle spielen. Die Droods preschten vor, töteten alles, was nicht zu ihnen gehörte und schützten sich gegenseitig die Flanken und Rücken. Wir konnten am anderen Ende der Stadt den Turm sehen. Über dreißig Meter hoch und höher, kantig und asymmetrisch, nach fremdartigen Spezifikationen gebaut, mit seltsamen Technologien und organischen Komponenten. Er stand groß und arrogant und stolz vor einem weißglühenden Himmel und erstrahlte in unnatürlichen Lichtern. Er sah lebendig und wachsam aus, als wüsste er, dass wir kamen und versuche jetzt, seine ekelhafte Funktion zu erfüllen, bevor wir ihn aufhalten konnten: Die Hungrigen Götter herholen, uns zum Trotz. Die Drohnen der Abscheulichen verstopften mittlerweile Schulter an Schulter die Straßen, als sie nach vorn stürmten, um die Droods anzugreifen. Giles und seine Leute mussten einen Pfad durch sie hindurch schneiden und hacken, als schlügen sie sich durch einen dichten Dschungel. Blut und Leichen bedeckten den Boden und verlangsamten das Vorankommen der Kampfgruppe nur noch mehr: Aber Giles ging immer noch voran, irgendetwas beinahe Unmenschliches lag in seiner grimmigen Weigerung, sich aufhalten zu lassen. Er feuerte seine Leute mit Schlachtrufen aus der fernen Zukunft an, die ihnen nichts bedeuteten, aber trotzdem das Blut in Wallung brachten. Sie standen direkt hinter ihm und rangen den Feind mit verbissener Entschlossenheit nieder. Die Drohnen bekämpften uns mit allen Waffen, die sie nur hatten finden können, angefangen bei Werkzeugen und Äxten, die sie aufs Geratewohl aufgehoben hatten, über ihre eigenen spitzen, klauenartigen, verformten Hände bis hin zu einer Hand voll Gewehren und Schrotflinten. Nichts davon konnte etwas gegen die Drood-Rüstung ausrichten und Giles war einfach zu gut in dem, was er tat, als dass man ihn hätte verletzen können. Klingen konnten das Gold nicht durchdringen, Kugeln wurden einfach absorbiert und Klauen kratzten nutzlos über goldene Gesichtsmasken. Aber als Giles endlich in Sichtweite des Turms war, änderte sich alles. Von Nahem sah der Turm plötzlich so aus, als sei er lebendig geworden; ein riesiges Monster, das aus einem langen Winterschlaf erwachte und Mord im Sinn hatte. Machtvolle Energien zuckten um ihn her, als würden andersdimensionale Aspekte der Konstruktion sich von außen in unserer Realität manifestieren. Der Turm sah … realer aus als seine Umgebung. Realer als die Droods. Einige der goldenen Gestalten mussten sich abwenden, sie waren nicht in der Lage, dem Geschehen ins Auge zu sehen. Giles jedoch hielt stand. Nichts in der Ghoulstadt hatte ihn bisher aus der Fassung gebracht, obwohl er keine der in die Rüstung eingebauten Schutzmechanismen besaß. Ich fragte mich, ob der Todesjäger fernfuturistische Technologie implantiert hatte, und sich nur nicht die Mühe gemacht hatte, uns davon zu erzählen. Giles sah den Turm hinauf, griff in seine gepanzerte Jacke und zog die Bombe heraus, die der Waffenmeister für ihn gemacht hatte. Sie sah nicht gerade nach viel aus - nur ein Stahlkästchen mit einer einfachen, in den Deckel eingebauten Zeitschaltuhr. Giles schwang das Kästchen in Richtung des Turms und schüttelte es heftig, als wolle er ihn verspotten und jeder im Lageraum verzog das Gesicht. Es war niemals sehr schlau, etwas zu schütteln, das der Waffenmeister gebaut hatte. Aber gerade als Giles sich gebückt hatte, um die Bombe zu positionieren, musste er sich wieder aufrichten, denn plötzlich kam eine ganze Armee neuer Drohnen aus einer offenen Luke am Fundament des Turms, die vor einer Sekunde noch gar nicht dagewesen war. Um diese Drohnen war etwas Neues, Anderes. Sie waren eindeutig tot, das Fleisch verrottete und fiel von ihnen herab, als sie ruckartig angestürmt kamen, nur bewegt von dem fremden Willen, der sie beherrschte. Ihre Gesichter waren weggefressen und einige hatten nicht einmal mehr Augen, aber alle kamen unbeirrt auf Giles und seine Leute zu. Jede der Drohnen hielt ein grobes Schwert aus einem unbekannten Metall in der Hand, das selbst in dem grellen Licht der Ghoulstadt beunruhigend leuchtete. »Wir kriegen hier gerade Langstrecken-Scans dieser Schwerter rein«, sagte der Kommunikations-Offizier. »Sie geben massive Mengen an Strahlung ab, aber nichts, was wir einfach so identifizieren könnten. Wahrscheinlich stammt das Metall der Schwerter aus der gleichen Dimension wie die Eindringlinge. Der Strahlungslevel steigt dramatisch an, allein, dass sie den Schwertern so nahe sind, zerfrisst die Drohnenkörper schon.« »Wird die Rüstung unsere Leute beschützen?«, fragte die Matriarchin direkt wie immer. »Unbekannt, Matriarchin. In technischer Hinsicht, immerhin ist die seltsame Materie der neuen Rüstung ebenfalls andersdimensionalen Ursprungs, …« »Wenn du es nicht genau weißt, dann erlaube ich dir, das auszusprechen«, sagte die Matriarchin nicht unfreundlich. »Wir wissen es nicht«, sagte der Kommunikationsoffizier. »Aber der Todesjäger hat keinen Schutz. Wir sollten ihn da rausholen.« »Nein«, sagte die Matriarchin sofort. »Er muss die Bombe platzieren. Er kannte die Risiken vorher.« »Und es ist ja nicht so, als gehöre er zur Familie«, murmelte Molly. Wir sahen auf die Bildschirme. Die ganze Kampfgruppe war vorgetreten, um sich zwischen den Todesjäger und die Drohnen zu stellen, damit er sich darauf konzentrieren konnte, die Bombe abzulegen und den Timer zu stellen. Die erste Drohne, die einen Drood erreichte, schwang das glühende Schwert mit grobem, ungeübtem Bogen. Als der Drood einen goldenen Arm hob, um den Schlag abzublocken, fuhr das Schwert direkt durch ihn hindurch. Die Rüstung bremste den Schwung nicht einmal. Der Drood kreischte schrill auf, als sein abgetrennter Arm vor ihm auf den Boden fiel. Für einen Moment spritzte Blut aus dem Stumpf, bevor die Rüstung sich automatisch darüber schloss und die Wunde versiegelte. Der Drood taumelte zurück, stammelte zusammenhanglos und die Drohnen rückten weiter vor. Die Droods versuchten, mit ausgefahrenen goldenen Klingen zu fechten, aber die glühenden Schwerter hieben mitten durch sie hindurch. Die Droods passten sich schnell an und nutzten ihre überlegene Stärke und Geschwindigkeit, um den Schwerthieben zu entgehen. Sie näherten sich den Drohnen, um sie niederzuringen. Sie rissen Arme und Köpfe aus ihnen heraus, aber mehr und immer mehr bewaffnete Drohnen drangen aus dem Fundament des Turms und überschwemmten die Droods. Ein Drood nach dem anderen fiel, niedergeschlagen von Toten mit Alien-Schwertern. Giles arbeitete so schnell er konnte, aber er musste die Bombe immer wieder sich selbst überlassen, um sich zu verteidigen. Seine Fähigkeiten mit dem Langschwert waren bei Weitem ausreichend, um die Drohnen eine Armeslänge von sich fernzuhalten, aber es war deutlich zu sehen, dass er langsam müde wurde. Trotz all seiner Fähigkeiten war er nur ein Mann, ohne eine Rüstung, die ihn unterstützte. Er wurde langsamer, verpasste Gelegenheiten und an seiner grimmigen Miene konnte man ablesen, dass er das wusste. Und um ihn herum starben die Droods. Ein paar brachen aus und versuchten, zu fliehen. Die Drohnen in der Stadt überschwemmten sie und rissen sie zu Boden. Sie hielten sie fest, bis die Drohnen mit den Schwertern sie erreichen konnten. Das letzte halbe Dutzend Droods, sechs von zweihundert, die dem Todesjäger gefolgt waren, formierten sich zu einem engen Kreis um ihn herum und brüllten ihm zu, endlich seine Arbeit zu beenden, während sie die Drohnen abhielten. Giles nickte widerwillig, steckte sein Schwert in die Scheide und kniete sich neben die Bombe, um sich auf den Timer zu konzentrieren. Die Droods kämpften grimmig, und hielten die bewaffneten Drohnen mit schierer Kraft und Geschwindigkeit in Schach, aber wir alle wussten, dass die Rüstung dieses Level der Beanspruchung nicht lange halten konnte. »Er wird es nicht schaffen«, meinte die Matriarchin. »Sie werden ihn kriegen, bevor er die Sache zu Ende bringen kann. Waffenmeister, können wir die Bombe von hier aus zünden?« »Aber ja«, erwiderte der Waffenmeister. »Aber er hat ja immer noch eine Chance. Schreib ihn noch nicht ab. Wir müssen ihm jede Gelegenheit geben.« Ich ging auf Merlins Spiegel zu. Das alles war meine Idee, mein Plan gewesen. Ich konnte Giles nicht dort sterben lassen, wenn ich die Möglichkeit hatte, ihn zu retten. Aber genau in dem Augenblick, in dem ich mich bewegte, rannte Molly an mir vorbei und warf sich durch das Portal des Spiegels. Ich schrie auf, aber sie war schon weg. Sie erschien auf den Displays, mitten in der neuseeländischen Ghoulstadt, und flog mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die grelle, unerträgliche Luft. Sie schoss in einem Augenblick über die Stadt und fiel wie ein Racheengel aus dem dräuenden Himmel. Die Erschütterung ihrer Landung zerriss den Boden vor dem Turm. Hunderte von Drohnen kippten in alle Richtungen. Sie erhob sich, um ihre Hände zuckten und wirbelten Blitze, die jede Drohne umpusteten, die sie ansah. Sie explodierten, als die Blitze sie trafen, und verteilten ihr verrottetes Fleisch und Körperteile in hundert verschiedene Richtungen. Die belagerten Droods schrien begeistert auf bei ihrem Anblick und sie grinste fies zurück. Giles stand abrupt auf. »Fertig! Wir haben zehn Minuten, um verdammt nochmal hier rauszukommen.« »Du erlaubst?«, fragte Molly. Sie hob Giles und die sechs übrig gebliebenen Droods mit ihrer Magie auf und flog mit ihnen durch die schmerzhaft grelle Luft davon, in Richtung des Portals, das Merlins Spiegel offenhielt. Hinter ihnen fielen die Drohnen über die Bombe her und versuchten, sie auseinanderzureißen, aber das Werk des Waffenmeisters hielt stand. Sie schlugen mit ihren verfaulenden Fäusten darauf ein und hieben ihre glühenden Schwerter danach, aber der Waffenmeister hatte wie immer zu gut gearbeitet. Auf dem Deckel des Kästchens lief der Countdown in leuchtend roten Zahlen unerbittlich herunter auf Null. Molly flog Giles Todesjäger und die sechs Droods über die Ghoulstadt zurück, ihr Gesicht eine Maske verzweifelter Konzentration. Sie ging direkt vor dem frei in der Luft hängenden Portal herunter und flog sie dann alle hindurch in den Lageraum. Molly landete sanft neben mir und sah mich stolz, beinahe triumphierend an, als wollte sie sagen: Siehst du? Ich bin immer noch ich, und ich bin immer noch auf der Seite der Engel. Du kannst mir immer noch vertrauen. Ich lächelte sie an und nickte. Was hätte ich sonst tun können? Allerdings war mir sehr wohl bewusst, dass der Aufenthalt in der Ghoulstadt ihr nichts hatte anhaben können. Sie hatte nicht einmal wegen des grellen Lichts blinzeln oder in der unerträglichen Luft husten müssen. Der Kommunikationsoffizier schrie jetzt, dass die Bombe explodiert und dass die Ghoulstadt Heron's Reach zerstört war. Wir alle ließen so etwas wie Jubel hören. Es fühlte sich aber nicht wie ein Sieg an, mit so vielen Toten auf Seiten der Droods. Ärzte und Schwestern brachten die sechs Überlebenden zu den vorbereiteten Ambulanzen, um dort die Schocks zu behandeln und Strahlungswerte zu überprüfen. Ein paar von ihnen meinten, sie seien fit genug, um weiterzukämpfen, bei den anderen Nestern, aber man konnte sehen, dass das Angebot nicht von Herzen kam. Die Matriarchin befahl ihnen, sich zurückzuziehen und ich glaube, sie waren insgeheim dankbar. Ich wusste, wie sie sich fühlten. Ich erinnerte mich an das Gemetzel auf der Nazca-Ebene. Es ist schwer, einen unmenschlichen Feind mit ausschließlich menschlichen Mitteln bekämpfen zu müssen. Natürlich, hörte ich Martha sagen. Wenn es leicht wäre, würde es jeder tun und die Welt würde die Droods nicht brauchen. Harry Drood und Roger Morgenstern nahmen ihre zweihundert gerüsteten Droods und gingen nach Sibirien. Tunguska, um genau zu sein, wo 1908 etwas in die Erde gekracht war. Der Einschlag war so verheerend gewesen, dass er Hunderte von Meilen im Umkreis alle Bäume flachgelegt hatte. Das Licht, das beim Einschlag entstand, war so hell gewesen, dass man in den Straßen von London um Mitternacht eine Zeitung hatte lesen können. Es gibt eine Menge Theorien über das, was Tunguska vor all den Jahren getroffen hat, und alles, angefangen von einem Meteor bis hin zu einem havarierten Alienraumschiff, war dabei - aber keiner weiß irgendetwas sicher. Außer uns. Wir wissen alles, erinnern Sie sich? Nach allem, was uns bekannt war, war die Anwesenheit der Abscheulichen in Tunguska reiner Zufall. Sie hatten keine Ahnung von dem, was dort immer noch schlief, in den tiefsten Tiefen unter dem Permafrost und wir waren alle froh darüber, dass die Dinge so blieben, wie sie waren. Was, wenn die Drohnen es aus Versehen aufwecken?, hatte Molly gefragt. Dann hätten wir wirklich ein Problem, hatte ich geantwortet. Die Abscheulichen hatten eine geheime sowjetische Wissenschaftsstadt, X37, erobert - eine jener hochgeheimen Forschungsgemeinden, die man gegründet hatte, um die Art von Experimenten durchführen zu können, von denen die UdSSR wusste, dass der Rest der Welt ihnen dafür keinen Beifall spenden würde. Deshalb waren sie in Sibirien gebaut worden, damit - wenn etwas wirklich mies liefe - kaum jemand verletzt werden konnte. X37 war auf keiner offiziellen Karte zu finden, damals nicht und heute auch nicht, und sie war in den letzten Jahren von den Wissenschaftlern und ihren Familien verlassen worden, nachdem die staatlichen Förderungen eingestellt worden waren. Als die Drohnen gekommen waren, hatte es dort nur noch einen einzigen Trupp russischer Soldaten gegeben. Sie waren für eine Handvoll Wissenschaftler da, die an einer neuartigen Form von Lebensmittelaroma arbeiteten. Sie hatten keine Chance gehabt. X37 wurde zu einer Ghoulstadt und niemand hatte es gemerkt. Außer uns. Harry, Roger und ihre Kampfgruppe gingen durch Merlins Spiegel und kamen auf einem großen, offenen Platz in der Mitte der geheimen Stadt an. Die umgebenden Gebäude schienen sich entwickelt zu haben, schienen sich selbst auf eine unheimliche und organische Weise transformiert zu haben. Drähte und Kabel wanden sich durch die Wände, schlängelten sich durch Ziegel und Steine wie pochende Venen. Noch mehr Kabel hingen über den Straßen wie Spinnennetze oder wie offene Nervenbahnen und pulsierten langsam in der überhellen Luft. Seltsame Kombinationen von Technologie und lebenden Dingen hingen aus aufgebrochenen Türen und zerbrochenen Fenstern heraus, als wären die Innereien des Gebäudes zu groß gewachsen. Und über allem lag das überhelle, grelle Licht, während die Luft so von nicht atembaren Elementen geschwängert war, dass es aussah, als läge die ganze Stadt unter Wasser. Die Rüstung schützte Harry und die Droods, Roger schien die kranke Atmosphäre gar nicht zu bemerken. Sie konnten den Turm von ihrem Ankunftspunkt aus sehen; er stand hoch und grotesk, aber ebenfalls trotzig über der reinen Funktionalität der alten Sowjetarchitektur. Seltsame Energien blitzten die volle Länge des Turms herauf und herunter, als ob sie versuchen würden, ihn zu wecken. Harry und Roger sahen sich schnell um, als Horden von Dämonen aus allen Richtungen gleichzeitig auf sie zugerannt kamen. Sie waren durch den Angriff auf die neuseeländische Ghoulstadt alarmiert worden und waren bereit. Aber hier, in diesem Nest, waren alle Drohnen Freaks und Monster. Ob es nun ein Erbe der alten, verbotenen Wissenschaften war, an denen in X37 während des Kalten Krieges geforscht worden war, oder vielleicht die seltsame Strahlungen, die von dem Ding ausgingen, das unter dem Permafrost lag: Jede Drohne hier war übergroß und monströs. Fürchterlich deformiert waren sie: mit großen Knochen und langen Muskelsträngen, mit langgezogenen Gesichtern, mit geschlitzten Mündern voller Haifischzähne, mit Augen-Clustern und selbst mit winkenden, klauenartigen Antennen. Sie waren vielleicht einmal menschlich gewesen, aber das lag lange hinter ihnen. Die Drohnen drangen mit ihren Fängen und ihren Klauen und auch improvisierten Waffen vor, und Harry und Roger und die Droods stürmten auf sie zu. Fänge und Klauen waren den goldenen Rüstungen nicht gewachsen, und die verstärkte Kraft und Geschwindigkeit der Droods machte sie jedem Monster überlegen. Harry trug Gold und kämpfte an der Seite seiner Leute. Er schlug seine Feinde mit brutaler Effizienz nieder. Roger blieb hinter dem Hauptkampffeld zurück und sah aufmerksam zu. Er wartete. Und als die ersten Drohnen mit glühenden Schwertern in ihren unnatürlich geformten Klauen erschienen, war er bereit. Er wies mit dem Finger auf sie, und sie explodierten. Er sah sie auf eine bestimmte Art und Weise an, und Blut sprudelte aus ihren Mündern und Augen und Ohren. Er sprach bestimmte Worte und ihr verrottendes Fleisch schmolz und floss ihnen vom Körper. Roger Morgenstern hatte jetzt seinen höllischen Aspekt nach außen gekehrt und selbst Harry konnte nicht mehr ertragen, ihn direkt anzusehen. Trotz ihrer überwältigenden Überzahl waren die Drohnen ohne ihre radioaktiven Schwerter nichts gegen die Höllenmagie und die Drood-Rüstung. Es stand eins zu null für Harry und Roger und langsam, aber unausweichlich kämpften sie sich über den Platz in Richtung Turm. Jede Drohne im Nest kam durch die Straßen der Stadt gelaufen oder gehüpft oder herangeschlittert. Sie rotteten sich in engen Durchgängen zusammen, um den Zugang zum Turm zu sperren, aber die Geschwindigkeit der Kampfgruppe bremsten sie nicht. Die schnitt und hackte und hämmerte sich ihren Weg durch die Drohnen und tötete alles, was nicht zu ihr gehörte. Harry blieb immer am Kopf seiner Leute und stellte wieder einmal unter Beweis, was für ein hervorragender Kämpfer er war. Die goldenen Klingen in seinen Händen schwangen mit übernatürlicher Schnelligkeit auf und ab. Zu schnell für das nicht unterstützte menschliche Auge. Blut wusch über seinen glänzenden Brustharnisch, sprühte über seine goldene Gesichtsmaske und rann einfach daran herunter; es war nicht in der Lage, sich festzusetzen. Drohnen attackierten ihn einzeln und zu mehreren, aber sie bremsten sein Fortkommen nicht einmal ab. Er hatte alles gelernt, was der Todesjäger ihm über den Kampf mit den Klingen hatte beibringen können und nichts konnte ihn noch aufhalten. Roger schlenderte neben ihm her, hieß seinen höllischen Aspekt willkommen und die Drohnen fielen tot um, einfach nur, weil sie ihm zu nahe kamen. Roger sah endlich aus wie das, was er wirklich war: ein Ding aus den Schwefelklüften, das arrogant und zügellos in der Welt der Menschen wandelte, und sie allein durch seine Gegenwart vergiftete. Wo immer er hinsah, explodierten Leichen und blieben in den Rinnsteinen liegen. Wenn er sprach, wandten sich die Drohnen gegeneinander und zerrissen sich gegenseitig. Er lächelte ein teuflisches Lächeln: Endlich zu Hause. Die Droods bahnten sich einen Weg hinter ihren Führern und töteten alles, was in ihre Reichweite kam. Der Turm stand bedrohlich vor ihnen, eine Tür öffnete sich am Fundament und eine ganze neue Armee von Drohnen stolperte und schlurfte heraus, mit Hunderten von glühenden Schwertern. Roger sprach nur ein einziges schreckliches Wort, und sie alle explodierten in einem Flammenmeer, glühende scharlachrote Flammen, die nach Schwefel und Blut stanken und die Drohnen schneller zerfraßen, als sie erscheinen konnten. Harry platzierte die Bombe an der richtigen Stelle und setzte den Timer auf eine bequeme Zeit. Dann führten er und Roger die Ihren durch die Ghoulstadt wieder zurück zu Merlins Spiegel. Alle kletterten in den Lageraum und ich schloss das Portal hinter ihnen. Jeder im Raum flippte völlig aus. Harry und Roger umarmten einander, Rogers Höllenaspekt war nun wieder unterdrückt. Die Droods rüsteten ab und schlugen sich auf die Schulter und auf den Rücken, und es gab sogar ein paar Küsse und Tränen. Ein Sieg kann sich so gut anfühlen. So lange er dauert. Mr. Stich und der Seneschall führten ihre Kampfgruppe in den nordindischen Pandschab. Es war ein enges, fruchtbares Tal inmitten der Ausläufer des Himalaya, in dem eine kleine Gruppe Menschen wohnte: das perfekte Versteck für die Abscheulichen. Die ruhige Siedlung war zu einer Ghoulstadt geworden und keiner hatte es bemerkt: Immerhin handelte es sich um eine Gegend, in der ein Volksstamm sich nicht dazu herabließ, mit dem anderen zu reden. Und keiner von ihnen würde mit Außenstehenden sprechen, weil man Autoritäten generell niemals traute. Vielleicht würden die ja wollen, dass man Steuern zahlte. Als die Kampfgruppe durch Merlins Spiegel ging, stellte sich die Ghoulstadt als eine Sammlung von plumpen Häusern heraus. Sie waren von einer Vegetation überwuchert, die sich langsam bewegte. Die andersdimensionalen Energien der Stadt hatten den Bewuchs mutieren lassen. Im nackten Felsboden hatten sich abgrundtiefe Risse gebildet, und das Licht war so hell, dass es die Details aus allem herauszuwaschen schien. Es war eine Szene aus einer nackten, abstrakten Hölle und Mr. Stich schien sich darin wie zu Hause zu fühlen. Die Drohnen warteten bereits auf den Angriff, aber diesmal spaltete sich die Masse, die auf die Invasions-Streitmacht zurannte im letzten Moment, als stünde ihnen ein unbewegliches Objekt im Weg. Sie stürmten um dieses Ding herum und taten ihr Bestes, es nicht zu berühren, doch das tat der Gewalt, mit der sie wie üblich auf den Seneschall und die anderen Droods eindrangen, keinen Abbruch. Aber sie konnten Mr. Stich nicht berühren - er war es, dem sie auswichen. Etwas in seiner nicht-mehr-menschlichen Natur schien ihnen Furcht einzujagen. Sie konnten seine Nähe nicht ertragen. Also ging er einfach seinerseits in den tobenden Mob hinein und begann, mit einer eleganten Grazie zu töten. Er benutzte ein langes, schimmerndes Messer, das er aus dem Nichts gezogen hatte. Ohne auf Widerstand zu stoßen, bewegte er sich zwischen den kämpfenden Drohnen und tat schreckliche, furchtbare Dinge mit ihnen. Doch sie konnten ihn nicht einmal berühren. Mr. Stich lächelte leicht. Vielleicht erinnerte er sich an bessere Zeiten. Der Seneschall sorgte schnell dafür, dass er hinter Mr. Stich kam, um ihn zu unterstützen, und die Kampfgruppe half ihm dabei. Der Seneschall hatte noch nie viel für Klingen und Schwerter übriggehabt. Er bevorzugte es, Feuerwaffen in seiner Hand erscheinen zu lassen, eine Gabe, die ihm die Familie verliehen hatte. Er musste nur eine bestimmte Geste ausführen, und schon erschien eine bis zum Anschlag geladene Pistole in seiner Hand. Und der Seneschall benutzte diese Knarren, um jede Drohne mit einem glühenden Schwert über den Haufen zu schießen, bevor sie auch nur irgendeinen Schaden anrichten konnte. Hatte die eine Pistole keine Munition mehr, dann warf er sie einfach beiseite und zauberte sich eine neue herbei. Die fortgeworfene Waffe verschwand irgendwo in der Luft. Es mangelte ihm nie an Nachschub. Mr. Stich schlitzte die Drohnen auf, der Seneschall mähte sie nieder. Die Kampfgruppe bewegte sich unaufhaltsam in Richtung Turm weiter. Es sah beinahe einfach aus. Mr. Stich tanzte durch das Massaker, der Seneschall leerte eine Pistole nach der anderen und die gerüsteten Droods warfen alles nieder, das in ihre Reichweite kam. So erreichten Sie schon bald das Fundament des Turms. Aus dem Inneren erschienen mehr Drohnen, die eine ganze Reihe komplett unbekannter Waffen trugen. Der Seneschall machte kurzen Prozess und erschoss sie alle aus der Ferne. Die paar, die sich von Kugeln nicht aufhalten ließen, weil sie von seltsamen, glühenden Rüstungen oder Energiefeldern geschützt wurden, wurden von einem lächelnden Mr. Stich erledigt. Der Seneschall platzierte die Bombe, stellte den Zünder ein und brachte seine Kampfgruppe sicher wieder nach Hause zurück. Wieder war ein Nest zerstört, ein weiterer Turm vernichtet - und das ganz ohne Verluste oder Opfer. Ich begann, mich zu entspannen. Wir hatten wohl doch nur einen schlechten Start gehabt. Es schien, als hätten wir jetzt den Dreh raus. Vielleicht konnten wir den Karren doch noch aus dem Dreck ziehen. Ich sagte so etwas zu Molly und sie nickte lächelnd. Ich hätte es besser wissen müssen. Callan und der Blaue Elf brachten ihre Kampfgruppe in eine kleine Siedlung nördlich von San Francisco. Theoretisch war der Blaue Elf als Freiwilliger dabei, um Callan zu unterstützen und ihm den Rücken zu decken. Praktisch hatte ich ein stilles Gespräch mit Callan gehabt und ihm gesagt, dass er auf den Blauen Elf aufpassen müsse. Ich war immer noch nicht bereit, Blue zu vertrauen. Ihre Ghoulstadt war einmal ein wichtiger Bestandteil der Hippiezeit in den Sechzigern gewesen, ein Sammelbecken für mehr Sex-, Drogen- und Rock 'n' Roll-Magie, als jede Wirklichkeit gut ausgehalten hätte. Heutzutage, wo alles viel verkopfter und materialistischer war, war die Kleinstadt Lud's Drum einfach nur noch ein Zufluchtsort für schäbige, alt gewordene Hippietypen und ausgebrannte Opfer des Drogenkrieges. Eine ganze Industrie hatte sich entwickelt, die darauf basierte, die unrühmliche Vergangenheit der Stadt zu vermarkten. Nur Leute wie wir hielten noch ein wachsames Auge auf Lud's Drum, weil die dimensionalen Barrieren in und um die Stadt gefährlich schwach geworden waren, seit Timothy Leary dort einen heldenhaften LSD-und-Peyote-Trip geschmissen und versucht hatte, einen Fernexorzismus des Pentagon abzuhalten. Als Ergebnis seiner Geschichte hatten die Abscheulichen die Stadt ohne die geringste Anstrengung übernehmen können. Lud's Drum war einer der wenigen Orte, wo Drohnen offen herumlaufen konnten, ohne Verdacht zu erregen. Jetzt war Lud's Drum eine Ghoulstadt und eines der letzten Überbleibsel des Traums der Sechziger war zu einem lebendigen Albtraum geworden. Callan führte seine Kampfgruppe durch die grell erleuchteten Straßen und schnitt Drohnen mit kalter, beinahe klinischer Präzision in Stücke. Er gestattete sich nicht, von den zusammenbrechenden, bonbonfarbenen Häusern abgelenkt zu werden, den weichen, wogenden Straßen oder den endlosen Wellen von Drohnen, die mit teuflischer und bösartiger Schadenfreude über seine Leute herfielen. Er schnitt sich einen Pfad mitten durch sie hindurch, mit sturer Entschlossenheit in Richtung des beinahe vollendeten Turms im Zentrum der Stadt vorrückend. Callan hatte vielleicht ein freches Mundwerk und keinen Respekt vor Autoritäten, aber nichts lenkte ihn von seinem Ziel ab, wenn er draußen im Feld war. Der Blaue Elf hielt sich in seiner Nähe und bewachte Callans Rücken mit überraschendem Können und ebensolcher Entschiedenheit. Er hatte kein Schwert oder Pistole, nur einen schlanken Zauberstab, den er aus dem Nichts heraus hergezaubert hatte. Ach, dieses alte Ding, hatte er leichthin gesagt. Ist schon lange in der Familie. In der Ghoulstadt hatte er bisher eine ganze Reihe kleiner, aber erstaunlich effektvoller magischer Tricks angewandt, die die Drohnen auf Armeslänge von ihm fernhielten. Es hätte mich nicht sonderlich überraschen sollen, dass Blue wusste, wie man kämpft. Er konnte diese ganzen Jahre bei der Art von Feinden, die er sich gemacht hatte, ohne ein paar entsprechende Fähigkeiten nicht überlebt haben. Callan führte seine Leute durch sein Beispiel immer weiter nach vorn, er ließ einfach nicht zu, dass er von irgendetwas, was die Dämonen ihm entgegenwerfen konnten, aufgehalten oder auch nur gebremst wurde. Seine goldenen Klingen hoben sich und fielen wieder und Blut flog durch die Luft. Er kam hartnäckig immer weiter voran, brachte sie alle durch reine Kriegskunst und beinahe brutale Entschlossenheit dichter und dichter an den Turm heran. Ihm zuzusehen machte mich stolz, ein Drood zu sein. Dazu waren wir da: Den guten Kampf zu kämpfen und die bösen Jungs im Namen der Menschheit fertigzumachen. Die Drohnen besaßen auch hier ihre glühenden Schwerter, aber auch andere ähnlich schreckliche Waffen, doch der Blaue Elf sorgte dafür, dass sie alle nicht nahe genug herankamen, um den Droods Schaden zuzufügen. Er fuchtelte mit seinem Zauberstab in der Luft herum - ein schlanker Stab aus Elfenbein, in den elbische Zeichen geschnitzt waren - und wohin er auch zeigte, sah es für die Drohnen übel aus. Wieder und immer wieder. Blue runzelte grimmig die Stirn und konzentrierte sich, sprang hierhin und dorthin, um sicherzugehen, dass er selbst nicht einmal in die Nähe der Gefahr kam, aber ich hatte das Gefühl, dass er dennoch das alles genoss. Immerhin war er ein Halbelb, mit dem den Elben angeborenen Talent für Tod und Zerstörung. Ohne Verluste schafften sie es bis an den Fuß des Turms, bevor alles schiefzugehen begann. Der Turm erhob sich über ihnen, wie ein zerfetzter Blitz aus unirdischer Technologie und organischen Komponenten, mit göttlicher Kraft in den Boden gerammt. Seine Form ergab keinen Sinn, weil er mehr räumliche Dimensionen aufwies als das menschliche Gehirn verarbeiten konnte. Wieder war da das eindeutige Gefühl, dass das Ding auf irgendeine Art lebendig und wachsam war, und wusste, dass wir kamen. Callan platzierte die Bombe am Fundament des Turms. Der Blaue Elf sah ihm dabei über die Schulter, während die gerüstete Truppe eine Barriere bildete, um die herankommenden Drohnen fernzuhalten. Callan stellte den Timer ein, stand auf und nickte dem Blauen Elf zu. Und dann erstarrte jedes einzelne Mitglied der Kampftruppe, brach zusammen und lag still da. Keine Warnung, kein ersichtlicher Grund, keine Drohne mit einer Waffe. Einfach so lagen zweihundert gerüstete Droods bewegungslos auf dem Boden. Ich konnte nicht einmal sagen, ob sie tot oder lebendig waren. Callan sah ihn böse an und schwang seine goldenen Klingen hier- und dorthin. Doch der Blaue Elf tippte Callan mit seinem Zauberstab nur elegant auf die Schulter und Callan ging in die Knie. »Tut mir leid, Alter«, sagte der Blaue Elf. »Aber ich war nie sehr gut darin, mit anderen zusammenzuspielen. Und du hast etwas, das ich brauche.« Wir alle sahen hilflos zu, als Blue seinen Zauberstab auf Callans Nacken legte und dann irgendwie … Callan den Torques wegnahm. Sein Mund öffnete sich weit zu einem Schrei, aber kein Ton war zu hören. Er kniete immer noch, aber er war jetzt wieder nur ein einfacher Mensch, ohne seine gestohlene Rüstung. Der Blaue Elf sah auf den Reif in seiner Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. Dann wandte er sich auf dem Bildschirm direkt zu uns und lächelte beinahe traurig. »Ich weiß Eddie, du hast mir vertraut. Das war ja wirklich sehr nett und alles, aber dieser Torques wird mir ermöglichen, vor den Elbenrat zu treten. Ich hab's dir gesagt, am Ende ist es die Familie, die bleibt. Und nie, niemals darfst du einem Elben vertrauen. Wir haben immer eigene Pläne.« Er drehte sich so lange um sich selbst, bis er verschwunden war. Alle Droods wurden auf der Stelle wieder lebendig, außer Callan, der zusammengebrochen war und krampfend auf dem Boden lag. Die Drohnen drangen vor. Irgendwie brachten die Droods Callan da raus. Sie kämpften sich aus Lud's Drum hinaus, aber die Drohnen zwangen sie, um jeden Zentimeter zu kämpfen. Die ganze Zeit tickte die Bombe. Sie kamen durch Merlins Spiegel wieder zurück, brachten den bewusstlosen Callan mit und ich schlug die Tür in genau dem Moment zu, als die Bombe losging. Für einen Augenblick kam ein Licht hindurch, das so grell war, dass ich es fühlen konnte und das den ganzen Lageraum erzittern ließ, aber das Portal schloss sich gerade noch rechtzeitig, um uns zu schützen. Lud's Drum war vernichtet und mit ihm das Nest und der Turm. Sie brachten Callan in die Krankenstation. Schock, meinten sie. Gott weiß, wie es sich anfühlte, wenn einem der Torques weggerissen wurde. Ich fragte Seltsam, ob die Elben den Torques für sich dazu bringen konnten zu funktionieren und er fragte: Was sind Elben? Was die Sache nicht gerade klärte. Wir würden uns später am Blauen Elfen rächen. Keiner bestiehlt die Droods und lebt lange, um damit anzugeben. Nach all diesem Drama ging eigentlich alles wie geplant. Die Kampfgruppen eroberten eine Ghoulstadt nach der anderen. Sie verwendeten dabei alle die Taktik, die wir entwickelt hatten: Ein Nest nach dem anderen wurde zusammen mit den Türmen zerstört. Alle Bomben des Waffenmeisters explodierten und wir verloren keinen einzigen weiteren Drood an die Drohnen. Keine üblen Überraschungen mehr, keine beängstigenden Waffen, nur Droods, die ihren Job taten und die Welt sicherten. Die Stunden vergingen langsam, ständig gingen und kamen goldene Gestalten durch Merlins Spiegel. Die Drohnen kämpften weiterhin wie wild und wir mussten um jeden Sieg ringen. Aber immer noch, Schritt für Schritt, gewannen wir. Frische Männer und Frauen kamen, um die Droods zu ersetzen, die von zu vielen Angriffen ermüdet waren, und weiter ging's. Die ganze Familie war bereit, zu kämpfen, wenn das nötig war. Die Krankenstation wurde gut damit fertig. Wir hatten sogar schon das Ende vor Augen, als schon wieder alles zu Rattenscheiße wurde. Ein Kommunikationsoffizier sprang plötzlich auf und schrie der Matriarchin seine neueste Information zu. Der ganze Lageraum wurde still, um nichts zu verpassen. »Es ist Truman!«, rief er. »Die ganze Zeit hat er die Drohnen der Abscheulichen in seiner neuen Untergrund-Basis gehabt und hat einen Turm gebaut! Er muss fast fertig sein, denn seine Präsenz ist in diesem Augenblick durch die Schutzschirme gebrochen! Der Turm ist so mächtig geworden, dass Truman ihn nicht mehr länger verstecken kann. Er ist fast so weit, ein Portal zu öffnen und die Eindringlinge hineinzubringen! Alles war umsonst!« »Ruhe, Mann«, schnappte die Matriarchin. »Ich dulde keine emotionalen Ausbrüche dieser Art in meinem Lageraum! Jemand soll diesen Mann hinsetzen und ihm eine starke Tasse Tee bringen. Edwin, wer von unseren Hauptakteuren kann noch eine Kampfgruppe führen?« Ich prüfte das. Der Seneschall und Mr. Stich waren immer noch dabei, ein Nest in Nordchina auszuräuchern. Callan war noch immer in der Krankenstation. Und Giles Todesjäger, der persönlich über dreißig Angriffe geführt hatte, lag auf einer Trage neben Callan, zu erschöpft, um noch einmal loszuziehen, auch wenn er das nie zugeben würde. Das ließ nur Harry und Roger Morgenstern übrig. Sie machten gerade eine kurze Pause zwischen zwei Angriffen und erzählten hingerissenen jüngeren Droods übertriebene Geschichten von ihren Missionen. Ich ließ sie in den Lageraum bringen und erklärte die Situation. Harry sah so aus, als wolle er jeden Moment ausspucken. »Nur einmal hätte ich gern, das alles so läuft wie geplant.« »Fühlst du dich dem gewachsen?«, fragte ich. »Ich hab ja wohl keine Wahl, oder?«, fragte er. »Na gut, stell eine Kampfgruppe aus den Besten zusammen, die noch stehen können, und ich bringe sie dorthin.« Er sah müde und erschöpft aus, aber sein Rücken war noch immer gerade und sein Blick immer noch konzentriert. Er stieß Roger mit dem Ellbogen in die Rippen. »Wer hätte das gedacht, was? Der Außenseiter der Familie Harry Drood meldet sich freiwillig, um die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Hättest du drauf gewettet, Großmutter?« Martha sah ihn unbewegt an. »Natürlich. Du bist James' Sohn.« Harry drehte ihr absichtlich den Rücken zu und grinste Roger an. »Wie ist es, Liebling? Eine letzte Mission, um die Welt zu retten? »Ich bin nicht ganz sicher, ob die Seite meiner Mutter damit einverstanden wäre, aber zum Teufel. Warum nicht? Ich kann dich das doch nicht allein machen lasen. Du hast nie gelernt, wie man sich gescheit den Rücken deckt.« Ich war nicht so sicher, dass es eine gute Idee war, das Roger mitkam. War man ehrlich, sah er scheiße aus. Er hatte bei den Angriffen so viel seiner Magie verbraucht, das ein Großteil seiner Glorie verschwunden war und er irgendwie menschlicher aussah. Harry wandte sich mir zu und sah mich von oben herab an. »Was ist, Eddie, kommst du nicht mit zu diesem kleinen Ausflug? Du liebst es doch so sehr, dem Verderben in allerletzter Sekunde den Sieg vor der Nase wegzuschnappen.« »Ich werde noch immer hier gebraucht«, sagte ich ruhig. »Jemand muss dir die notwendigen Informationen mitteilen und dir die richtige Richtung weisen. Aber - wenn alles völlig daneben gehen sollte, dann bin ich die Verstärkung.« »Ich auch«, sagte Molly und stieß mir ihren Ellbogen fest in die Rippen. »Auf der anderen Seite«, sagte ich. »Wenn du glaubst, dass ihr es ohne mich nicht schafft, dann …« »Wir können das«, sagte Harry sofort. »Verdammt richtig, Lover«, erwiderte Roger Morgenstern. Es war leicht, Merlins Spiegel auf Trumans neue Operationsbasis auszurichten: Der beinahe fertiggestellte Turm dominierte den Äther. Aber aus irgendeinem Grund schien uns der Spiegel nicht das Innere der Basis zeigen zu können, nur eine Fläche, von der aus man über Stonehenge sehen konnte. Die uralten Menhire ragten groß und dramatisch in den dunkler werdenden Abendhimmel. Harry zog eine Grimasse und stellte sich dicht neben mich. »Die Steine sehen aus, als wären sie beinahe eine halbe Meile entfernt, bringst du uns wirklich nicht näher heran?« »Das ist kein gewöhnliches Nest«, meinte ich. »Keine Ghoulstadt. Nur eine unterirdische Basis, die von unzähligen Schichten der besten wissenschaftlichen und magischen Schutzmechanismen, die man für Geld kaufen kann, umgeben ist. Wir wüssten doch nicht einmal, dass da ein Turm wäre, wenn er nicht bildlich gesprochen hindurchgestochen wäre. Ihr werdet euch anschleichen müssen. Außer natürlich, du hast deine Meinung geändert, was das Hingehen betrifft.« »Natürlich habe ich das nicht! Es ist nur - mir gefällt das nicht. Es fühlt sich wie eine Falle an.« »Würde mich nicht überraschen«, sagte ich. »Aber welche Art Falle könnte das Manifeste Schicksal schon zusammenzimmern, die Harry Drood, Roger Morgenstern und zweihundert Droods in goldenen Rüstungen aufhalten könnte?« Harry lächelte schwach. »Was Motivation angeht, bist du echt mies, weißt du das?« Er sah zu Roger. »Also, lass' krachen, Bruder.« »Oh, bitte«, sagte Roger. »Du weißt doch, wie ich dieses Macho-Gelaber hasse.« Harry und Roger brachten ihre Kampftruppe durch Merlins Spiegel. Ich schloss das Tor hinter ihnen sofort wieder. Truman war ein hinterhältiger Bastard, und ich traute ihm alles zu. Sogar, dass er die Anwesenheit seines Turmes absichtlich verriet, um uns dazu zu bringen, ein Portal zu öffnen und daraus seinen Nutzen zu ziehen. Aber alles schien still zu bleiben. Molly nahm meinen Arm und drückte ihn eng an sich, als wir zusahen, wie Harry seiner Kampftruppe den Befehl zuzischte, sich über die weite, grasbewachsene Ebene zu verteilen, um kein einheitliches Ziel abzugeben. Ihre goldene Rüstung glänzte stumpf im dämmrigen Abendlicht. Nach allem, was die Bildschirme uns verrieten, waren sie allein auf der Ebene. Alles war still und ruhig. Und dann schoss Rogers Kopf hoch und er wies in die Dunkelheit. Überall um die auseinandergezogene Kampfgruppe erschienen jetzt Gestalten aus dem Nichts, aus jeder Richtung gleichzeitig und bewegten sich mit unmöglicher Geschwindigkeit. Die Gestalten waren menschlich, aber sie bewegten sich übernatürlich schnell, unmöglich flink, schossen auf eine Art und Weise über die offene Ebene, denen die gerüsteten Droods nichts entgegenzusetzen hatten. Die Droods drehten sich um, um sich ihnen zu stellen und hoben ihre Waffen, aber sie schienen sich im Gegensatz zu den Angreifern wie in Zeitlupe zu bewegen. Je näher die anderen kamen, desto mehr glich jede ihrer Bewegungen einem verschwommenem Fleck auf den Bildschirmen. Selbst ihre Gesichter waren nicht zu erkennen. Sie waren nur Formen, die durch die Abenddämmerung flitzten. Sie umzingelten die Droods, griffen an und zogen sich wieder zurück, bevor die bewaffneten Droods reagieren konnten. Die Angreifer schienen waffenlos, sie schlugen nur immer wieder mit bloßen Fäusten auf die goldenen Rüstungen ein. Als das nichts half, erschienen auf einmal glühende Klingen in ihrer Hand und sie griffen erneut an. Und diesmal gingen die Droods zu Boden, als die Klingen durch ihre Rüstungen bis auf die Männer und Frauen darunter schnitten. Die Kampfgruppe fiel, einer nach dem anderen, nicht in der Lage, der Geschwindigkeit ihrer Angreifer etwas entgegenzusetzen. Harry rief seine Leute zurück, um einen Verteidigungskreis zu bilden, aber er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da war die Hälfte des Trupps schon tot. Im Lageraum erhob sich Stimmendurcheinander, jeder versuchte sofort, eine Erklärung oder eine Theorie zu liefern. Die Kommunikation schrie nach den Analysten, die wiederum nach den Nachrichtenleuten riefen, die Aufzeichnungen haben wollten. Und da kam die Antwort dann schließlich auch her. Droods wissen alles, aber manchmal braucht es ein bisschen, bis wir es gefunden haben. Es stellte sich heraus, dass es einen Bericht über die Existenzmöglichkeit solcher Leute gegeben hatte, aus einer Akte, die Callan in Trumans alter, verlassener Untergrundbasis gefunden hatte: Beschleunigte Menschen. Chirurgisch veränderte, technologisch weiter entwickelte und bis zur Nasenspitze mit Drogen vollgepumpte Fanatiker, die ihre Lebensenergie in ihre unnatürliche Geschwindigkeit investierten. Sie starben, um schnell zu sein. Aber auf der anderen Seite hatte es dem Manifesten Schicksal noch nie an Fanatikern gefehlt. Giles Todesjäger kam in den Lageraum und sah immer noch halbtot, aber fest entschlossen aus und musste beinahe körperlich davon abgehalten werden, den Jungs zu Hilfe zu kommen. Ich entschied das. Es ergab keinen Sinn, mehr Leben wegzuwerfen, bis wir eine Idee hatten, womit wir es überhaupt zu tun hatten. Giles betrachtete die Bildschirme mit lebhaftem Interesse. Ich erwartete fast, dass er sich Notizen machte. Es schien, als habe er endlich etwas gefunden, dass er noch nie gesehen hatte und von dem er glaubte, er könnte es mit in seine zukünftige Zeit nehmen. Auf der Wiese vor Stonehenge hatten sich Harrys Leute zu einem engen Ring um Harry und Roger zusammengezogen. Sie standen Schulter an Schulter, denn so waren sie besser in der Lage, sich zu verteidigen und brachten ihre Geschwindigkeit dank der Rüstung an die Grenzen. Was bedeutete, dass sie Vereinzelte der Beschleunigten mit einem kräftigen Schwerthieb erwischten. Als diese menschlichen Blitze zu Boden krachten, endlich tot, sahen sie aus wie Greise, die Gesichter von fürchterlicher Anstrengung verzerrt. Die Droods kämpften weiter, doch sie verloren immer noch hier und da einen Mann oder eine Frau, sodass der Verteidigungskreis langsam immer kleiner wurde. Bis plötzlich die Beschleunigten zu stolpern begannen und zusammenbrachen. Zuerst dachte ich, Roger hätte endlich wieder etwas Magie zusammengekratzt, doch es wurde schnell klar, dass die Beschleunigten einfach nur all ihre Lebenskraft aufgebraucht hatten. Harry und Roger und das runde Dutzend übriggebliebener Droods sahen sich langsam um. Um sie herum lagen Dutzende von Greisen mit von der Zeit zerstörten Gesichtern. Sie waren nicht dazu gemacht, lange zu leben, sondern sie waren nur Mittel zum Zweck gewesen; um die Droods wieder zu einem einfach anzupeilenden Ziel zusammenzutreiben. Ein fürchterlicher Lichtblitz machte die Dunkelheit zum Tag, ein Licht so stark und intensiv, dass es Masse und Gewicht hatte. Die Droods schrien auf. Roger hing an Harry, schrie Worte der Macht, die von dem schrecklichen Licht aber geradezu davongespült wurden. Und dann, einfach so, ging das Licht wieder aus. Der Abend kehrte zurück, aber alle Droods waren weg. Nur Harry und Roger waren noch übrig, sie hielten einander fest. Harry hielt Roger aufrecht. Die Höllenbrut war beinahe zusammengebrochen und hatte sämtliche Kraft und Magie erschöpft. Nur zwei Mann, um die Welt zu retten. Im Lageraum brach wieder das Chaos aus. Diesmal dauerte es etwas länger, um Antworten zu bekommen, aber es war nicht weniger beunruhigend, als der Waffenmeister endlich mit einer ankam. Er gab zu, dass er riet, aber es klang nach der Wahrheit. Truman hatte seine neue Basis unter Stonehenge platziert, um die Seele von Albion in die Finger zu kriegen, dieses unglaublich machtvolle Stück Stern, das vor Jahrtausenden aus dem Himmel gefallen war. Truman hatte es für sich gewonnen und die Technologie der Abscheulichen benutzt, um es als Waffe zu benutzen: als Seelenkanone. Er hatte einen Weg gefunden, die Energie der Seele in kleinen Ausbrüchen loszulassen und alles, was im wütenden Licht der Seele gebannt war, wurde direkt aus dieser Realität herausgeschleudert. Die Droods, die wir verloren hatten, würden nicht wiederkommen. Harry und Roger riefen verzweifelt um Hilfe. Es wurde langsam still im Lageraum, als alle die Matriarchin ansahen und danach mich, und auf Befehle warteten. Martha stand sehr still da und rang mit starrem Blick auf den Bildschirm und ihre Hände. Ich dachte fieberhaft nach. Und während ich noch dachte, ging die Seelenkanone wieder los. Roger hatte es wohl gespürt, weil er sich plötzlich aufrichtete und Harry hinter sich schob. Das furchtbare Licht flammte auf und zerriss die Nacht, ein Leuchten so übermächtig, dass es jenseits aller Farben stand, etwas, das man eher mit Verstand und Seele begriff, als mit den Augen. Aber Roger stellte sich dem Licht entgegen und rang es nieder. Er stand zwischen dem Licht und dem Mann, den er liebte und bekämpfte das Seelenlicht mit jedem Quäntchen Kraft, das er noch besaß. Die Seelenkanone feuerte und Roger begegnete seiner grausamen Macht mit unbeugsamem Willen. Überlebenswillen hätte nicht ausgereicht, ebenso wenig wie Furcht oder Wut, aber das hier war Liebe. Und am Ende erlosch die Seelenkanone als Erste. Das Licht ging plötzlich aus und Roger fiel wie ein Toter auf der Erde. Harry schlang die Arme um seinen reglosen Körper und wog ihn hin und her, als beruhige er ein Kind. Im Lageraum sah mich jeder an. Ich holte tief Luft. »Giles, Molly, ihr kommt mit mir. Martha, finde heraus, wo Mr. Stich und der Seneschall sind und hol sie her. Und irgendjemand soll U-Bahn-Ute finden. Wir gehen in Trumans Bunker, um den Turm auszuschalten und dafür brauchen wir den Weg der Verdammnis.« Kapitel Fünfzehn Reisen enden mit einem Treffen von Feinden Und alles hatte so gut geklappt - na ja, relativ gut. Jetzt sah es so aus, als wären all unsere Erfolge zuvor umsonst gewesen und ich müsste eines meiner chancenlosen As-im-Ärmel- und Wettlauf-mit-der-Zeit-und-hol-die-verdammte-Kuh-vom-Eis-Wunder wirken. Ich wünschte, die Leute wüssten zu schätzen, wie unglaublich viel mich so etwas kostet. Auf dem großen Hauptbildschirm half Harry Drood einem verwirrten und zitternden Roger Morgenstern auf die Füße. Roger hatte gerade erst Harrys Leben gerettet, indem er seines aufs Spiel gesetzt hatte und es war schwer zu sagen, welcher der beiden mehr überrascht oder schockiert aussah. Sie lehnten sich erschöpft aneinander und sprachen eine Weile miteinander, aber wir konnten nicht hören, was sie sagten. Die Leute von der Kommunikation arbeiteten, angetrieben vom bösen Blick der Matriarchin, fieberhaft daran, die Audioübertragung wiederherzustellen, allerdings erfolglos. Offenbar hatte die Seelenkanone mit ihrem Feuer den Äther mit andersdimensionalen Energien übersättigt. Wir hatten Glück, dass wir immer noch über ein Bild verfügten, auch wenn der Kommunikations-Offizier genug Verstand hatte, das mit dem Glücksfaktor der Matriarchin eher anzudeuten als offen zu sagen. Auf dem Bildschirm stolperten Harry und Roger unsicher über die Wiese in Richtung Stonehenge, höchstwahrscheinlich auf der Suche nach Trumans unterirdischem Bunker. Nur die beiden gegen Truman und all seine Armeen. Ich schätze, die Leute können einen immer überraschen, besonders wenn einer von ihnen ein halber Dämon ist. Ich versuchte, sie zu rufen und ihnen zu sagen, dass Verstärkung auf dem Weg sei, aber sie konnten mich nicht hören. Ich versuchte sogar, sie über Seltsam zu erreichen, aber er konnte mir auch nicht helfen. »Es ist der Turm«, sagte er und klang merkwürdig kleinlaut. »Er ist fertig, Eddie und beinahe bereit, aktiviert zu werden. Er lebt und ist wachsam, wenn auch nicht in einer Art, die du erkennen könntest. Und ich kann ihn denken hören. Er weiß, dass ich zusehe. Er kommt von einem noch fremderen Ort als ich, einer noch höheren Dimension. Die pure Macht, die in diesem Ding steckt, ist beängstigend. Die Eindringlinge, die Vielwinkligen, die Hungrigen Götter kommen - und ich habe Angst, Eddie.« »Du könntest abhauen«, sagte ich. »Aus unserer Welt verschwinden und dich in deine eigene Dimension zurückziehen.« »Und dich und deine Familie schutzlos zurücklassen? Nein. Das ist nicht die Art von andersdimensionalem Wesen, das ich bin. Ich mag diese Welt, und euch, und eure komische Art, Dinge zu tun. Ihr seid spaßig. Die Hungrigen Götter würden euch nur verschlingen und nicht einmal wissen, was sie da zerstören. Sie sind verschlagene, böse, und genau genommen sogar ziemlich dumme Götter. Ich werde dich und deine Familie nicht verlassen, Eddie. Einige Dinge sind es wert, das man um sie kämpft, einfach nur so aus Prinzip.« »Danke, Ethel.« »Ach, zum Teufel«, sagte Seltsam. »Wozu hat man denn Freunde?« In diesem Moment kam U-Bahn Ute in den Lageraum gerannt. Sie hatte sich Mühe gegeben, sich zu säubern, sogar neue Klamotten trug sie, die allerdings eindeutig für jemanden Größeres gedacht waren. Dennoch sah sie immer noch keinesfalls vertrauenerweckend aus und Stress und Anstrengung ließen ihr Gesicht zwanzig Jahre älter aussehen. Zu ihrer Ehrenrettung musste man aber sagen, dass sie versuchte, nicht allzu triumphierend in die Runde zu sehen, weil sie recht gehabt hatte und wir sie jetzt brauchten. »Ich hatte schon das Gefühl, dass ihr mich noch brauchen würdet«, sagte sie. »Also, hier bin ich. Gehe ich recht in der Annahme, dass alle eure Pläne in die Hose gegangen sind und der Weg der Verdammnis die einzige brauchbare Alternative ist?« »Perfekt zusammengefasst«, meinte Molly. »Verdammt«, meinte U-Bahn Ute. »Dann sitzen wir wirklich tief in der Scheiße.« Molly nahm Ute zur Seite, um sie auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen und zu erklären, wie tief wir wirklich in der Scheiße steckten und ich nutzte den Moment, um darüber nachzudenken, wen genau ich mitnehmen wollte. Molly natürlich, aus einem ganzen Bündel von Gründen. Nicht den Waffenmeister. Onkel Jack würde hier gebraucht werden, wenn wir das wieder vermasselten. Giles Todesjäger, weil er der beeindruckendste Kämpfer war, den ich jemals getroffen hatte. Und Mr. Stich, weil er … nun mal das war, was er war und weil er so verdammt schwer zu töten war. Ich hätte auch gerne Callan dabei gehabt, aber er war immer noch außer Gefecht. Also würde der Letzte dieses kleinen Ewiger-Ruhm-oder-Tod-Teams der Seneschall sein müssen. Einerseits, weil ich jemanden dabeihaben wollte, bei dem ich mich darauf verlassen konnte, dass er Befehle befolgte und andererseits, weil ich jemanden brauchte, auf den ich mich verlassen konnte, dass er bis zum letzten Blutstropfen kämpfen würde, für die Familie. Jemanden, … der verzichtbar war. Ich hatte nie so gedacht, bevor ich zum Familienoberhaupt geworden war. Ich sah hinüber zu Molly und Ute, die schnatterten und kicherten wie die besten Freundinnen, die sie waren, und es war ein netter Zug von Normalität in einer ernsthaft verrückt gewordenen Welt. Es hob meine Lebensgeister ein wenig, zu sehen, dass solche kleinen Freuden noch möglich waren. Aber ich war immer noch nicht sicher, was ich von Utes Weg der Verdammnis halten sollte. Der Name weckte wirklich nicht gerade Vertrauen. Aber wenn er uns direkt in Trumans Bunker führte - nun, ein kräftiger Erstschlag konnte immer noch den Turm ausschalten und dem Ganzen ein Ende machen. Keine Nester mehr, keine Türme mehr, keine Abscheulichen mehr. Außer dem einen, der noch in Molly lebte. Sich immer noch in ihren Körper, ihren Verstand und ihre Seele fraß. Was war gut daran, die Welt zu retten, wenn ich die Frau nicht retten konnte, die ich liebte? Wenn es Molly nicht mehr gab, dann würde ich nur noch meine Familie haben, und ein Leben voller kalter Pflichten und Verantwortlichkeiten. Es musste einen Weg geben, sie zu retten. Es musste einfach. Weil ich in einer Welt, in der es Molly nicht gab, nicht leben wollte. Sie sah sich um, sah, wie ich sie ansah und lächelte strahlend. Ich lächelte zurück. Sie umarmte Ute schnell und kam zu mir. Sie umarmte mich und ich hielt sie fest. Ich wollte sie nie wieder gehen lassen, aber ich tat es doch. Ich konnte nicht riskieren, dass sie erfuhr, was ich dachte. »Du sahst so aus, als könntest du einen großen Knuddler brauchen«, sagte Molly rundheraus. »Zum Teufel, beinahe jeder hier sieht so aus. Aber so eine bin ich nicht. Ich habe gerade mit Ute gesprochen. Sie sagt, sie kann einen Eingang zum Weg der Verdammnis beschwören, sobald du so weit bist, aber … Eddie, sie ist erschöpft. Ich meine, sie ist total von der Rolle. Da ist nur noch Mut und Entschlossenheit, die sie aufrecht halten. Ich weiß nicht, wo sie war oder mit wem sie verhandeln musste, um die Geheimnisse des Weges in die Finger zu kriegen, aber sie hat einen hohen Preis gezahlt.« »Dann müssen wir so bald wie möglich los«, sagte ich. »Molly, Ute muss mit uns kommen. Schafft sie das?« »Sie sagt ja«, meinte Molly und zuckte mit den Achseln. »Ich kann's ihr nicht verbieten. Und du würdest es auch nicht, oder, Eddie?« »Wir brauchen sie«, sagte ich bestimmt. »Die Welt braucht sie.« »Lustig«, sagte Molly. »Die hat Ute noch nie gebraucht.« Sie sah mich nachdenklich an. »Was ist mit mir? Brauchst du mich dabei? Kannst du mir so nah an einem Turm vertrauen, wenn man meinen Zustand bedenkt?« Ich lächelte sie an. »Ich brauche dich immer, Molly. Glaubst du wirklich, ich würde ohne dich irgendwohin gehen?« »Du warst schon immer ein großes Weichei, Eddie Drood.« Und sie küsste mich leidenschaftlich, hier vor allen anderen. Einige klatschten, ein paar jubelten. Molly ließ mich schließlich los und lächelte den anderen süß zu. Glücklicherweise kam Mr. Stich in diesem Moment herein und schlenderte so gelassen in den Lageraum wie eine tickende Bombe, der Seneschall direkt neben ihm. Der Seneschall hatte eine Waffe in einer Hand und seinen Blick starr auf Mr. Stich gerichtet, der höflich vorgab, das nicht zu bemerken. Nach seinen vielen Ausflügen aufs Schlachtfeld sah der Seneschall zerschlagen und verletzt aus. Er war hier und da dick verpflastert, aber sein Rücken war immer noch durchgedrückt und der Kopf hoch erhoben. Für ihn war Schwäche immer etwas, das nur bei anderen vorkam. Und wenn man fair war, sah er immer noch so aus, als könne er mit einer ganzen Armee im Alleingang fertig werden und die Überlebenden heulend zu ihren Mamis schicken. Mr. Stich, das musste man zugestehen, sah aus … wie er immer aussah. Ruhig, kalt, und vollkommen unerschüttert. Nicht ein Blutfleck war an ihm zu sehen, oder der kleinste Riss an seiner viktorianischen Abendkleidung. Selbst sein Zylinder glänzte auf eine elegante und selbstgefällige Art. Ich wollte etwas danach werfen, einfach so aus Prinzip. Stattdessen winkte ich beide zu mir herüber und erklärte ihnen die Situation. Mr. Stich runzelte leicht die Stirn, als ich den Weg der Verdammnis erwähnte, als würde der Name in ihm eine Saite zum Klingen bringen, aber er hatte nichts zu sagen. Der Seneschall allerdings war sofort Feuer und Flamme. Bei dem Gedanken daran, noch mehr Stress machen zu können, leuchteten seine Augen auf. »Alles für die Familie!«, sagte er. »Und ich muss sagen, die Familie macht wirklich viel mehr Spaß, seit du wieder zurück bist, Junge.« Er ist vielleicht ein Psychopath, dachte ich. Aber er ist unser Psychopath. »Diese neue Mission«, meinte Mr. Stich. »Werde ich noch mehr Leute töten können?« »Das ist beinahe sicher«, sagte ich. »Und gibt es eine Chance, dass ich auch getötet werde?« »Das ist auch beinahe sicher.« »Umso besser«, meinte Mr. Stich. »Ich bin dabei.« »Da kommt etwas rein!« Der Ruf hallte durch den ganzen Lärm im Lageraum und wir sahen uns alle sofort nach dem um, der ihn ausgestoßen hatte. Einer vom Kommunikationsstab stand über seiner Arbeitskonsole und wies mit zitterndem Finger darauf. Sein Vorgesetzter war sofort an seiner Seite, schubste ihn wieder in seinen Stuhl, um dann über seine Schulter auf das zu sehen, was da über den Bildschirm zuckte. Der Rest des Kommunikationsstabs kontrollierte panisch die eigenen Computer, Kristallkugeln und Wahrsagebecken und alle redeten fieberhaft aufeinander ein. Ein heulender Alarm ging plötzlich los und die Matriarchin befahl, ihn sofort abzustellen. »Ich kann mich selbst ja nicht einmal mehr denken hören«, sagte sie scharf. »Ah ja, das ist besser. Also, was ist hier los? Redet mit mir, Leute! Was ist es denn genau, was hier reinkommt?« »Wird das Herrenhaus angegriffen?« »Sieht so aus«, sagte der Kommunikationsoffizier. Es war Howard Drood, effizient wie immer. Er war aus dem Einsatzraum an die Spitze des Lageraums versetzt worden, um die Angriffe auf die Nester zu koordinieren. »Etwas versucht, sich in unsere Realität zu drängen, genau hier, durch alle Schutzschilde des Herrenhauses hindurch. Was ich für unmöglich gehalten hätte, wenn es nicht gerade jemand versuchte.« »Könnte es Truman sein, oder die Eindringlinge?«, fragte ich. »Die einen Präventivschlag gegen uns loslassen?« »Ja. Nein. Vielleicht. Ich weiß es nicht! Die Bildschirme können nichts mit dem anfangen, was da passiert.« Howards sonst schon finsterer Gesichtsausdruck verstärkte sich noch, als er die Monitore studierte. »Ich habe solche Daten noch nie gesehen. Was auch immer das ist, es kommt wie ein geölter Blitz auf uns zu. Es hat sich schon durch die äußeren Verteidigungen geboxt und es kommt direkt auf uns zu.« Ich ging im Geist schnell die Attacken durch, die es bereits aufs Herrenhaus gegeben hatte, als das Herz noch hier gelebt hatte. Wir hatten nie wirklich herausgefunden, was dahintersteckte. Hatten die Unbekannten sich diesen Moment ausgesucht, um wieder anzugreifen, wenn wir am schwächsten und verletztlichsten waren? »Seltsam, sag was«, meinte ich. »Weißt du, wer oder was das ist?« »Nein, Eddie.« Seine Stimme in meinem Kopf war überraschend angespannt. »Es kommt aus einer Richtung, die ich nicht orten kann. Es kommt von außerhalb allem, was ich als Realität bezeichnen würde. Es ist nicht sehr groß, aber es scheint sehr entschlossen. Und nein, Eddie, ich kann es nicht aufhalten.« Giles Todesjäger hatte sein Langschwert gezogen und sah sich nach einem Feind um. Um nicht zurückzustehen, zog der Seneschall mit jeder Hand eine Pistole. »Steckt das weg!«, bellte die Matriarchin sofort. »In meinem Lageraum trägt keiner eine Waffe! Wer weiß, was ihr mit dem Equipment anstellt.« Giles steckte sein Schwert in die Scheide und verbeugte sich. Der Seneschall ließ seine Waffen wieder verschwinden, verschränkte fest die Arme vor der Brust und setzte eine entschiedene »Seht-ihr-ich-schmolle-nicht-obwohl-ich-Grund-dazu-hätte«-Miene auf. Die Matriarchin seufzte hörbar. »Steh da nicht rum, Seneschall! Aufrüsten, los! Jeder rüstet auf!« Sie hatte recht. Wir alle sprachen leise die aktivierenden Worte und - schwupps - war der Lageraum voller glänzender goldener Gestalten. Es fühlte sich gut an, wieder das Gold zu tragen, sich stark zu fühlen und schnell und gefährlich. Manchmal fühlt sich das Aufrüsten an, als wache man aus einem langen Nickerchen wieder auf. Jeder, der nicht an einer Arbeitskonsole saß, spähte misstrauisch um sich herum, bereit, zuzuschlagen, goldene Klingen und andere Waffen schossen aus goldenen Fäusten hervor. Eine wachsende Spannung war im Lageraum zu spüren, ein starkes Gefühl von etwas Kommendem, das sich unerbittlich näher heranschob. Wir konnten es alle fühlen, es drang von allen Seiten auf uns ein. Molly stand dicht neben mir, ihre Arme wie für eine Beschwörung erhoben und bereit, wirklich grässliche Magie auf alles zu werfen, das nur im Entferntesten bedrohlich war. Mr. Stich sah … höflich interessiert aus. Und der Waffenmeister, nicht überraschend, hatte eine wirklich fies aussehende Waffe aus dem Nichts gezogen und schwang sie auf der Suche nach einem Ziel hin und her, während jeder andere versuchte, ihm möglichst schnell aus dem Weg zu gehen. Der Himmel möge allen helfen, die es wagen, die Droods auf ihrem eigenen Territorium anzugreifen. Ein Stimmengewirr erhob sich im Lageraum, als Techniker verschiedener Couleur zu verstehen versuchten, was da vor sich ging. Was auch immer da kam, es schlug sich durch eine Schicht der Verteidigungen nach der anderen und die Spannung in der Luft tat beinahe körperlich weh. Martha Drood, die ebenfalls das erste Mal, seit ich mich erinnern konnte, aufgerüstet hatte, ging von Station zu Station, spähte über Schultern und ließ hier ein Wort der Warnung, dort ein unterstützendes Murmeln hören, wie es gerade gebraucht wurde. Wenn es so weit kam, dass sie die Truppen anführte, dann saßen wir wirklich in der Tinte. Ein anschwellender Ton war jetzt von draußen zu hören, scharf und deutlich, als käme er von unschätzbar weit weg näher. »Es ist hier«, rief Howard. »Es materialisiert!« »Wo?«, fragte Martha. »Wo genau im Herrenhaus?« »Hier!«, schrie Howard. »Direkt hier in diesem verdammten Lageraum!« Der anschwellende Ton wurde noch schriller, eine zitternde Vibration, die in unseren Köpfen widerhallte, trotz der schützenden Rüstung. Wir alle hielten uns mit unseren nutzlosen Händen die Ohren zu und taumelten hin und her, und dann fuhren wir alle zurück, als die Welt selbst sich mitten im Lageraum spaltete - und Janitscharen Jane hereinstolperte. Sie warf sich durch den Spalt, ihr Tarnanzug angekokelt und schmutzig und stellenweise sogar noch qualmend. Explosionen und grelle Lichter und wütend erhobene Stimmen kamen aus dem Riss hinter ihr her und wurden plötzlich abgeschnitten, als der Riss sich mit einem Ruck schloss. Die Spannung in der Luft war sofort verschwunden und wir alle rüsteten etwas verlegen ab, während Janitscharen Jane zitternd und atemlos vor uns aufstand. Sie schluchzte heftig und sah aus, als hätte sie ihren Weg durch die Hölle selbst gekämpft, nur um zu uns zu gelangen. Sie hob ein zerschlagenes Gesicht, schnüffelte und unterdrückte ihre Tränen und sah mich triumphierend an. Dann setzte sie sich urplötzlich, als wäre mit einem Mal alle Kraft aus ihren Beinen verschwunden. »Okay!«, schrie ich und sah mich um. »Beruhigt euch alle wieder. Das ist kein Notfall. Ich weiß, wer das ist. Richtet eure Aufmerksamkeit darauf, den Verteidigungswall wieder aufzubauen und stellt sicher, dass ihr keiner gefolgt ist - wo zur Hölle auch immer sie herkam.« Ich kniete neben Janitscharen Jane nieder. Sie zitterte jetzt heftig und atmete schwer. Ihre Augen konnten keinen Fokus halten. »Jane?«, fragte ich. »Ich bin's, Eddie. Bist du okay?« Sie sah ziemlich schlimm aus. Ihr Kampfanzug war stellenweise verbrannt und mit Blut aus einem Dutzend hässlicher Wunden getränkt. Teile ihrer Kampfbewaffnung sahen halb geschmolzen aus. Ihr Gesicht wurde immer wieder schlaff, als würden Schmerz, Anstrengung und Erschöpfung sie überwältigen. Wenn das letzte bisschen Adrenalin in ihr sich abbaute, würde sie zusammenbrechen, und das vollständig. Ich musste die Antworten also aus ihr herauskriegen, solange ich noch konnte. Ich packte sie an den Schultern, zwang sie, mich anzusehen und nannte sie wieder beim Namen. Ihr Kopf schoss hoch, als hätte ich sie aus einem tiefen Schlaf geweckt. »Eddie, ich hab es geschafft. Ich bin wieder da. Verdammt …« »Ich habe den Zettel gefunden, den du mit einem Messer an deine Tür gepinnt hast«, sagte ich und bemühte mich um einen leichten Ton. »Also, hast du für uns eine richtig große Kanone gefunden?« »Die größte«, meinte Jane und versuchte sich vergeblich an einem Lächeln. »Erinnerst du dich, Eddie, dass ich dir vom letzten Dämonenkrieg erzählt habe, bei dem ich dabei war? Der eine, wo ein paar verdammte Idioten aus Versehen ein Tor zur Hölle öffneten und eine Armee von Dämonen rauskam?« »Ja«, sagte ich und mein Herz sank plötzlich. »Am Ende wurden die Dinge so schlimm, dass ihr eine Superwaffe benutzen musstet, um das ganze Universum zu zerstören, damit die Dämonen es nicht als Basis für die Eroberung anderer Universen benutzen konnten. Ich erinnere mich. Ich hab immer noch Albträume.« »Das war's«, sagte Janitscharen Jane. »Die Superwaffe. Die letzte Möglichkeit. Das Klägliche Ende.« Sie hielt mir die Handfläche hin und zitterte dabei bemerkenswerterweise nicht. Die Waffe sah ziemlich unauffällig aus. Aber auf der anderen Seite sieht man es den wirklich Widerwärtigen oft nicht an. Das Klägliche Ende war nichts weiter als eine flache Silberschachtel, langweilig und leblos, mit einem roten Knopf auf dem Deckel. Sie füllte kaum Janes Hand, aber dennoch … irgendetwas war dran. Je länger ich sie ansah, desto unbehaglicher fühlte ich mich, als ob ein großes und gefährliches Tier gerade den Raum betreten hatte. Ich betrachtete die Schachtel sorgfältig und war klug genug, nicht einmal zu versuchen sie anzufassen. Der Waffenmeister war gekommen und sah mir schwer atmend vor Aufregung über die Schulter. »Das ist ja mal beeindruckend«, sagte er. »So hohe Handwerkskunst und Geschicklichkeit sieht man heutzutage selten. Wie viele räumliche Dimensionen hat es? Ich verzähle mich ständig. Und die Energiesignaturen sprengen jede Skala. Du musst es mir geben, damit ich es in der Waffenmeisterei auseinandernehmen kann.« »Nein, Onkel Jack«, sagte ich entschieden. »Ach, komm schon, ich habe diesen richtig geilen Hyperhammer, den ich schon immer mal ausprobieren wollte -« »Nein, Onkel Jack! Was ist bloß los mit dir? Jane, was genau ist das? Was macht es?« »Es ist einfach zu bedienen«, sagte sie und ihre Stimme klang ton- und leblos. Ihre Augen fielen wieder zu und das letzte bisschen Kraft verließ sie. »Einfach den Knopf drücken und - bumm.« »Kein Turm mehr?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Gar nichts mehr«, erwiderte Jane und blinzelte wie eine Eule. »Kein Universum mehr. Und nein, es gibt keine Zeituhr. Das Klägliche Ende ist ein Alles-oder-Nichts-Ding. Was ich hier habe, ist das Original, der Prototyp. Wir haben eine etwas verbesserte Version verwendet, als wir den Dämonenkrieg beendet haben. Was ich euch hier mitgebracht habe, ist technisch gesehen, nicht getestet. Aber es sollte funktionieren. Ich wüsste nicht, warum es das nicht sollte.« Sie ließ die Hand sinken, als würde das schauerliche Ding auf ihrer Handfläche schwerer werden. »Ich hab's gestohlen, aus dem Schwarzen Museum für die Söldner des Multiversums. Ich hatte eine Menge Leute zu töten, um dir das zu bringen, Eddie. Einige von denen waren mal meine Freunde. Irgendwann. Aber jetzt habe ich das Buch geschlossen und alle Brücken hinter mir verbrannt. Ich kann nicht wieder zurück. Also gib mir keinen Grund, das zu bedauern, Drood.« »Wie funktioniert das?«, fragte ich, weil ich irgendetwas sagen musste. »Als ob du das kapieren würdest, selbst wenn ich's erkläre«, sagte Janitscharen Jane, und da war wieder etwas von ihrer alten Kraft in ihrer Stimme zu hören. »Ich muss nicht wissen, wie Waffen funktionieren. Ich bin Sölderin, keine Mechatronikerin. Aber mir wurde gesagt, dass es eine weitgehend konzeptionelle Waffe ist. Was wir hier haben, ist ein hyperräumlicher Schlüssel, der die eigentliche Waffe aktiviert, die in einer andersdimensionalen Falte verborgen ist und nur darauf wartet, entfesselt zu werden. Wenn man den Knopf drückt, sendet die Schachtel die Zielkoordinaten an die Waffe und - bumm! Dann hat man den Salat. Oder eigentlich hat man ihn nicht. Ein Universum weniger, um das Gott sich sorgen muss. Das Klägliche Ende, für alles und jeden.« »Aber grundsätzlich ist es ein ungetesteter Prototyp«, sagte ich vorsichtig. »Also ist da eine kleine, aber nichtsdestotrotz definitive Chance, das es vielleicht nicht so richtig funktioniert? Als solche?« »Es ist eine letzte Lösung«, meinte Janitscharen Jane müde. »Wenn man absolut alles versucht hat, und die Hungrigen Götter dennoch kommen, um alles, was lebt, zu verschlingen … Dann ist das Klägliche Ende die letzte Chance, alles zu rächen. Ein Weg, um die Bastarde mit in den Abgrund zu reißen und sicherzugehen, dass kein anderes Universum die Schrecken erleiden muss, die wir erleiden mussten.« Ihre Augen flatterten zu, als die Erschöpfung sie endlich übermannte. Ich nahm die glänzende Metallschachtel mit spitzen Fingern und ließ Jane wegbringen, damit sie sich ausruhen konnte. Wenn sie aufwachte, so hoffte ich, würde alles vorbei sein - auf die eine oder andere Weise. Obwohl, wenn es wirklich schlecht lief, wäre es natürlich eine Gnade, wenn sie nie wieder aufwachen würde … Ich hielt das Ende der Welt auf meiner Handfläche. Es wog fast nichts. Der Waffenmeister betrachtete es fasziniert, machte aber keinen Versuch, es sich zu nehmen. »Ich frage mich, wer es gemacht hat«, murmelte er sehnsüchtig. »Waffenmeister!«, sagte die Matriarchin und die scharfe Autorität in ihrer Stimme ließ ihn sofort herumfahren. Er ging schnell zu ihr hinüber und sie sah ihn mit einem kalten, unerbittlichen Blick an. »Waffenmeister, ich autorisiere dich hiermit, den Armageddon-Kodex zu öffnen. Wir brauchen die Verbotenen Waffen. Bring den Sonnenzerstörer, den Zeithammer, den Götzen-Overall und das Winterleid. Bereite sie für die Benutzung vor.« »Nein!«, sagte ich sofort und meine Stimme übertönte die der Matriarchin so deutlich, dass jeder im Lageraum aufhörte, das zu tun, was er gerade tat und uns beide ansah. Ich ging zum Waffenmeister und der Matriarchin hinüber und vermied dabei jegliche Hast. Ich erwiderte Marthas kalten Blick direkt und blinzelte nicht einmal. »Noch nicht, Großmutter. Wir können die Verbotenen Waffen erst dann benutzen, wenn die Hungrigen Götter in unserer Realität sind, denn der Ausbruch von so gewaltigen Kräften würde unsere Welt mit großer Sicherheit zerreißen. Und wir hätten noch nicht einmal die Garantie, dass die Waffen den Hungrigen Göttern überhaupt schaden. Wir heben uns den Armageddon-Kodex auf, bis alles andere versagt hat. Und ich bin noch lange nicht am Ende mit meinen Plänen.« »Das Klägliche Ende würde das ganze Universum zerstören und nicht nur diese Welt«, sagte die Matriarchin. Sie gab nicht einen Zentimeter nach. »Vertrau mir«, sagte ich. »Ich habe nicht die Absicht, das Universum in die Luft zu jagen. Ich hab eine viel bessere Idee. Wenn ich bei dieser Mission falle, dann kommt es auf dich an. Aber fürs Erste, vertrau mir - Großmutter.« »Nun«, meinte die Matriarchin nach einer kurzen Pause. »Nur dieses eine Mal, Edwin.« Sie brachte tatsächlich ein Lächeln für mich zustande und ich lächelte zurück. Und dann, als wären die Dinge nicht schon kompliziert genug, hatten der Geist von Jacob Drood und der lebende Jay Drood beschlossen, dass es an der Zeit sei, wieder aufzutauchen. Schon während ich mit der Matriarchin geredet hatte, hatte ich das Gefühl gehabt, dass mich jemand beobachtete. Endlich sah ich mich um und mein Blick fiel auf Merlins Spiegel, der im Moment eine Reflexion des ganzen Lageraums wiedergab. Aber da war irgendetwas falsch an dem Bild und ich ging hinüber, um es genauer zu betrachten. Es waren zu viele Leute darin. Im Spiegelbild standen Jacob und Jay hinter mir und grinsten mir über meine Schulter hinweg zu. Ich sah mich um, aber da stand niemand hinter mir. Ich bekam eine Gänsehaut. Besonders als die beiden um mein Spiegelbild herumkamen, nach vorn gingen und aus dem Spiegel in den Lageraum traten. Ich musste ihnen hastig Platz machen. Die Leute zuckten zusammen, schrien und kreischten sogar. Jacob und Jay grinsten einfach nur, kicherten und stießen einander mit den Ellbogen an, als ob ihnen ein besonders schlauer und kindischer Streich gelungen sei. Ich musste tief Luft holen, damit auch mein Puls sich wieder normalisierte. Jacob trug jetzt eine altmodische, flaschengrüne Lokomotivführer-Latzhose samt Schirmmütze. Seine mit Silberknöpfen besetzte Jacke stand offen und enthüllte ein T-Shirt mit der Aufschrift: Mit Ingenieuren sind Sie schneller. Er sah sehr konzentriert und hellwach aus, beinahe ohne die Streifen von blaugrauem Ektoplasma, die er sonst bei jeder Bewegung hinter sich herzog. Jay war wieder in die feine Kleidung seiner Epoche gekleidet und sah beinahe so begeistert aus wie sein zukünftiges, gespenstisches Ich … aber da war etwas in seinen Augen. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und starrte die beiden so böse wie möglich an. »Netter Trick«, sagte ich kalt. »Ich behalte ihn im Kopf für den Fall, dass jemand einen Herzkasper brauchen sollte. Ich wusste gar nicht, dass du das kannst, Jacob.« »Du wärst überrascht über das, was du alles kannst, wenn du erst mal tot bist, Junge«, sagte Jacob fröhlich. »Das ist wirklich sehr befreiend.« Jay sah sein zukünftiges Ich ernsthaft an. »Ich platze fast und ich wünschte, das würde ich nicht. Wir haben einen Plan, um die Welt zu retten, Eddie.« »Na klar habt ihr den«, meinte ich. »Hat den nicht jeder? Beinhaltet euer Plan zufällig, das ganze verdammte Universum in die Luft zu jagen?« »Ah, nein«, sagte Jay. »Nicht so richtig.« »Dann mag ich ihn jetzt schon«, erwiderte ich. »Ach, sag du's ihm, Jacob«, meinte Jay. »Du weißt, dass du unbedingt willst und du wirst mir bloß ins Wort fallen, wenn ich es erzähle. Ich bin offenbar nach meinem Tod ziemlich unleidlich geworden.« »Versuch du mal, ein paar Jahrhunderte mit dieser Familie rumzuhängen«, grummelte Jacob. »Sie bringen den Papst zum Fluchen und Tellerwerfen. Hör zu, Eddie, wir haben einen Weg gefunden, die Eindringlinge zu stoppen. Wir werden den Zeitzug benutzen.« »Ihr habt erst angefangen, euren Plan zu beschreiben und schon hasse ich ihn«, meinte ich. »In der Zeit zurückzugehen, um in der Gegenwart Dinge ungeschehen zu machen, funktioniert nie. Nie, nie, nie. Es endet immer damit, dass man mehr Probleme hat, als man lösen wollte.« »Reg dich ab, Eddie«, sagte Jay. »Dein Gesicht hat eine äußerst komische Farbe gekriegt und das kann wirklich nicht gut für dich sein.« »Wir gehen nicht in der Zeit zurück, um die Eindringlinge aufzuhalten, bevor sie anfangen, Pläne gegen uns zu schmieden«, meinte Jacob geduldig. »Ich weiß genug über Zeitreisen, um zu wissen, dass das nicht funktionieren würde. Ich sehe schließlich fern. Nein, wir haben eine viel bessere Idee. Wir werden den Zeitzug benutzen, um uns in die Heimatdimension der Eindringlinge zu schleichen und sie aus einer Richtung zu attackieren, die sie nicht erwarten: Der Vergangenheit!« »Wiederholt das bitte noch mal«, sagte ich. »Ich glaube, ihr habt mich an der letzten Ecke abgehängt.« »Es ist wirklich sehr einfach«, meinte Jay. »Nein, ist es nicht«, antwortete ich. »Keine Erklärung, die so anfängt, ist das.« »Schau mal«, sagte Jacob und stieß mir mit einem erstaunlich soliden Finger in die Brust. »Die Eindringlinge kommen aus einer höheren Dimension als wir, richtig? Das heißt für sie, dass Zeit nur eine Dimension ist, die sie räumlich begreifen. Wir können also den Zeitzug benutzen, um in ihre Dimension einzudringen und ihre Heimatwelt aus der Vergangenheit angreifen! Sie werden uns gar nicht kommen sehen!« »Sie werden ihre Heimatwelt sicher versteckt haben«, sagte Jay. »Entweder in einem Taschenuniversum oder einer Dimensionsfalte, völlig überzeugt, dass geringere Wesen aus einer niederen Dimension sie nicht finden können. Aber Jacob ist tot und ich lebe noch. Zusammen können wir Dinge sehen, die niemand sonst sehen kann.« »Nur wir können hoffen, die Anstrengungen einer Zeitreise dieser Art zu überstehen. Denn wir sind dieselbe Person in zwei verschiedenen Stadien der Existenz. Wir werden das tun müssen, Eddie. Tony hat die Lok umgebaut, sodass sie Zeitenergien aufsaugen kann, während sie reist. Damit wir, wenn wir in der Heimatwelt der Eindringlinge ankommen, den Zug mit voller Geschwindigkeit reinfahren und alle Zeitenergien gleichzeitig loslassen können. Dieser ganze widerliche Ort wird wie ein Knallfrosch in einem Apfel explodieren!« »Ende der Heimatwelt, Ende der Eindringlinge!«, sagte Jay. »Ein interessanter Plan«, musste ich zugeben. »Auch wenn er meinem Verstand immer aus den Fingern gleitet, wenn ich ihn zu fassen versuche. Aber seid ihr sicher, dass ihr die Heimatwelt der Eindringlinge finden könnt?« »Man kann vor den Toten nichts verstecken«, sagte Jacob. Er sah Molly an und dann mich, aber er sagte nichts. »Du musst es uns versuchen lassen«, sagte Jay. »Denn so … so werde ich sterben. Jacob hat sich endlich erinnert. Es macht mir nichts aus, wirklich! Es ist ein guter Tod. Dem Feind ins Gesicht spucken und die Unschuldigen retten, für die Familie. Der Tod eines Droods.« »Und das ist es auch, worauf ich die ganze Zeit gewartet habe«, sagte Jacob. »Das ist mein Ende, endlich. Keiner von euch könnte das tun. Nur ich, und ich. Jay stirbt, indem er unsere Feinde besiegt und endet irgendwie hier, in der Vergangenheit, als Familiengespenst, und wartet darauf, es wieder zu tun. Und ich … werde endlich weitergehen können, was auch immer dann kommt. Und ich freue mich schon darauf. Ich bin über die Jahrhunderte ekelhaft dünn geworden, und ich bin wirklich sehr müde.« »Dann los«, sagte ich. »Der Zeitzug gehört euch.« »Du musst die Eindringlinge allerdings beschäftigt halten und ablenken, damit sie nicht darüber nachdenken können, ob wir kommen oder nicht.« »Ich denke, das kriegen wir hin«, meinte ich. Martha überraschte mich, denn sie trat nun vor, um Jacob direkt anzusehen. »Geh mit Gott, Jacob«, sagte sie. »Ich werde dich vermissen.« Er grinste schief. »Das wirst du dir sicher überlegen. Auf Wiedersehen, Ur-ur-ur-ur-Enkelin.« Er sah sich im Lageraum um. »Ihr alle seid meine Kinder, meine Abkömmlinge, und ich bin immer sehr stolz auf euch gewesen.« Er und Jay drehten sich synchron um und schlenderten wieder in das Spiegelbild. Für einen Moment bewegten sie sich auf unheimliche Weise zwischen unseren Spiegelbildern, dann änderte sich das Abbild und zeigte die beiden, wie sie durch den alten Hangar hinter dem Herrenhaus gingen. Sie kletterten in das glänzend schwarze Führerhaus der Zeitlok und winkten Tony zum Abschied zu, der mit Tränen in den Augen zurückwinkte, weil er wusste, dass er seinen geliebten Ivor nie wiedersehen würde. Jacob bediente die Kontrollen mit professionellem Können, während Jay mit grimmiger, nervöser Energie kristallisierte Tachyonen in den Ofen schaufelte. Er fuhr in seinen Tod und er wusste es; und vielleicht war es auch nicht sehr hilfreich, zu wissen, dass er als Jacob zurückkommen würde. Ivor ruckte plötzlich nach vorn. Der Zeitdruck erreichte einen Höhepunkt und Jacob zog am Hebel: Der Zeitzug schob sich vorwärts und verschwand schnell in einer Richtung, der kein menschliches Auge folgen konnte. Dann waren sie weg. Ich wartete einen Moment und sah mich dann um. Aber nichts hatte sich verändert. Also machte ich mit meinem eigenen Plan weiter. Was hätte ich auch sonst tun können? Molly und U-Bahn Ute führten meine kleine Gruppe in eine verhältnismäßig stille Ecke des Lageraums, damit sie uns den Weg der Verdammnis erklären konnten. Sie waren sich in bestimmten Details nicht ganz einig und beinahe hätten sie sich wegen irgendwelcher obskuren Hinweise und Quellen in die Haare gekriegt, bis ich sie trennte, im Wesentlichen schienen sie aber übereinzustimmen. So begannen Sie also am Anfang an, von dem sich herausstellte, dass er noch gar nicht der Weg der Verdammnis war. »Weißt du«, sagte U-Bahn Ute, »wenn du das alles verstehen willst, dann muss man mit dem Regenbogenweg anfangen.« »Der Regenbogenweg ist nur ein Begriff oder eine Manifestation der alten Wilden Magie«, sagte Molly. »Ein Rennen gegen Zeit und Schicksal, um die Welt zu retten. Es ist nicht vielen gegeben, es zu versuchen, und noch weniger überleben es lange genug, um das erfolgreiche Ende der Mühen zu erleben. Ich kenne keinen, der es seit König Arthurs Zeiten auch nur versucht hätte. Aber es heißt, dass jeder, der den geheimen Weg gehen kann und dem Regenbogen bis zu seinem Ende folgt, genau das findet, was er sich von Herzen wünscht. Wenn er stark genug ist; im Herzen, in der Seele und im Willen.« »Es geht nicht darum, wie schnell man ist«, sagte U-Bahn Ute. »Es geht darum, wie sehr man es braucht. Wie viel man bereit ist, zu ertragen. Es ist nicht jedem gegeben, den Regenbogen entlangzuwandern. Und es gibt Leute, die sagen, das, was man am Ende des Regenbogens findet, nicht unbedingt das sei, was man wollte, sondern das, was man braucht.« »Der Regenbogenweg ist ein altes Ritual«, sagte Molly. »Es ist … ein Archetyp, etwas Elementares, das Realitäten überwindet. Ein Ding, das aus Träumen, Ruhm, der Suche nach dem heiligen Gral und erworbener Ehre besteht. Eine letzte Chance, das Dunkel zu besiegen und den Sieg für das Licht zu sichern. Jedenfalls sagt man das.« »Wer hat ihn gemacht?«, fragte ich. »Wer weiß das schon?«, fragte Ute zurück. »Wir reden hier über alte Magie. Einige Dinge existieren einfach. Weil sie gebraucht werden.« »Warum können wir dann nicht den Regenbogenweg anstelle des Weges der Verdammnis gehen?«, überlegte ich. Molly und Ute sahen sich an. »Weil wir nicht wissen, wie wir ihn finden sollen«, sagte Molly still. »Wir sind nicht … gut genug, nicht rein genug.« »Der Weg der Verdammnis ist die Rückseite, der dunkle Spiegel des Regenbogenwegs«, meinte U-Bahn Ute. »Das andere Gesicht einer unvorstellbaren Münze.« »Schau«, sagte Molly. »Vergiss den ganzen spirituellen Kram und mach es einfach: Die Vielwinkligen, die Hungrigen Götter, kommen aus einer höheren Dimension, klar? Nun, wenn es höhere Dimensionen als unsere gibt, dann ist es nur vernünftig anzunehmen, dass es auch niedrigere, tiefere Dimensionen gibt. Die kaputten Universen, wo die Naturgesetze niemals richtig zusammengearbeitet haben. Der Weg der Verdammnis kann uns durch eine solche Welt bringen. Und man rennt dort nicht, man geht. Solange es dauert. Da geht's nicht um Schnelligkeit, sondern um Willensstärke.« Ich spürte, wie ich die Stirn runzelte. Kein anderer sagte mehr etwas. Alle blickten in meine Richtung. »Wir haben wirklich nicht viel Zeit«, sagte ich. »Trumans Turm ist so gut wie fertig und wahrscheinlich aktiviert er ihn schon, während wir hier sprechen. Die Hungrigen Götter könnten jederzeit durchkommen.« »Und du hast keine andere Möglichkeit, in Trumans Basis zu kommen«, sagte Molly. »Seine Verteidigungen werden alles draußen halten, außer dem Weg der Verdammnis.« »Zeit hat in den niederen Universen eine andere Bedeutung«, sagte U-Bahn Ute. »Theoretisch sollten wir genau zu dem Zeitpunkt in Trumans Basis rauskommen, in dem wir hier weggegangen sind.« Ich spürte, wie sich die Runzeln auf meiner Stirn vertieften. »Klar, das hat beim Zeitzug richtig gut funktioniert.« »Das war Wissenschaft, das hier ist Magie«, sagte Molly schnell. »Der Weg der Verdammnis folgt alten Regeln, die ins Fundament der Realität selbst gemeißelt sind.« »Ach, was soll's, zum Teufel«, sagte ich. Ich musste aufhören, mit der Stirn zu runzeln, ich bekam schon Kopfschmerzen davon. »Wir müssen zu diesem Turm und ich sehe keine andere Möglichkeit.« Ich sah zu den anderen hinüber: Mr. Stich, der Seneschall und Giles Todesjäger. »In Anbetracht der unsicheren Natur dessen, was wir da tun wollen, fände ich es falsch, euch die Teilnahme zu befehlen. Ich würde nicht gehen, wenn ich nicht überzeugt wär, dass ich muss. Also, das hier ist definitiv nur was für Freiwillige. Jeder, der Nein sagt, oder sogar zum Teufel … Nein - ich würde es verstehen.« Ich sah von einem zum anderen, aber alle starrten ruhig zurück. Giles sah aus, als wolle er gleich loslegen, wie immer, der Seneschall sah aus, als wäre er bereit zum Kampf und Mr. Stich sah aus … wie immer. »Also los«, sagte ich. »Wieder mal Zeit, die Welt zu retten.« Es stellte sich heraus, dass man, um den Weg der Verdammnis zu betreten, erst einmal hinunter musste. Ganz hinunter. Molly und U-Bahn Ute wirkten zusammen an einer alten Magie, wiegten sich hin und her und intonierten einen alten Gesang in einem Kreidekreis. Der Waffenmeister sah aufmerksam und fasziniert zu. Giles Todesjäger sah es mit geschürzten Lippen, als ob er nicht erwarte, dass sich irgendetwas täte. Ich war nicht sicher, was man erwarten konnte, aber selbst so war ich überrascht, als ein handelsüblicher, sehr gewöhnlicher Aufzug langsam vor Molly und Ute aus dem Boden fuhr. Das Ding pingte wichtig, um seine Ankunft anzukündigen und dann glitten die Türen auf und enthüllten das gewöhnliche Interieur eines Aufzugs. Ich ging ein paar Mal um die Tür herum. Von vorn war es ein wartender Aufzug. Von hinten war er nicht da. Giles ging ebenfalls ein paar Mal drum herum und murmelte etwas von Subraummechanik und Taschendimensionen. Was auch immer ihn glücklich machte. Martha starrte den Aufzug geradezu böse an, der da in ihrem schönen, normalen Lageraum aufgetaucht war. »Warum hat dieses Ding da unsere Alarmanlagen nicht ausgelöst?« »Weil es so gesehen gar nicht hier ist«, erwiderte Molly. »Ich meine, es ist ein magisches Konstrukt, das nur wie ein Aufzug aussieht, weil das ein Konzept ist, mit dem unser begrenzter Verstand fertig wird.« »Eure Sinne sind nicht ausgerüstet, um Dinge wie dieses zu erkennen«, sagte U-Bahn Ute. »Also zeigen sie euch das Nächstbeste.« »Genau!«, erwiderte Molly. »Das ist wirklich alte Magie, erinnert ihr euch? Wilde Magie, aus einer Zeit, in der wir alle noch auf Bäumen lebten.« »Ich sehe immer noch nicht ein, warum es so aussehen muss wie ein Aufzug«, nörgelte ich, ein bisschen beleidigt darüber, dass ich damit überfordert war. »Verstandestechnischer Gruppenkonsens«, sagte Molly kurzangebunden. »Seien wir dankbar. Es hätte auch als Rolltreppe erscheinen können. Die Dinger hasse ich.« Ich seufzte tief und bedeutungsvoll. Dann trat ich vorsichtig in den Aufzug. Der Stahlboden war fest unter meinen Füßen und die verspiegelten Wände zeigten, dass ich schon wieder die Stirn runzelte. Ich versuchte angestrengt, das nicht mehr zu tun, damit ich die Truppen nicht demotivierte. Sie folgten mir, mit unterschiedlich hohem Vertrauen, und wir alle füllten das Ding von Wand zu Wand, mit kaum Platz, uns zu bewegen, außer jemand holte gerade tief Luft, um zu atmen. Molly drückte absichtlich ihre Brüste an mich, wofür ich im Stillen dankbar war. Die Türen schlossen sich bedächtig, und ohne Hinweis oder Warnung ging der Aufzug nach unten. Es schien, als ging es lange, lange Zeit hinunter. Ich konnte die Bewegung fühlen, spürte sie in meinen Knochen und im Urin, auch wenn der Aufzug kein Geräusch machte und keine Kontrollen oder Anzeigen aufwies. Es wurde langsam heißer, bis jeder von uns Schweißausbrüche hatte und vergeblich versuchte, vom anderen abzurücken. Und dann verschwand die Hitze einfach, war innerhalb eines Augenblicks verschwunden und die Temperatur in dem begrenzten Raum sackte ab. Es wurde kälter und kälter und wir alle drückten uns eng aneinander, um unsere Körperwärme zu teilen. Und dann war das auch verschwunden und ich fühlte weder Hitze noch Kälte, als ob wir solch lebendige Dinge hinter uns gelassen hätten. Dann die Geräusche. Von außerhalb der Stahlwände kam Lärm, erst von ganz weit weg, dann kam er unerbittlich näher. Brüllende Wut, Heulen und Kreischen, dann etwas, das ganz so klang wie ein Lachen, aber unwirklich. Einfache, primitive Emotionen bekamen eine Stimme, ohne die Last oder die Gebundenheit an bewusste Gedanken. Das waren schrecklich leere Stimmen, wie jene, die wir in unseren kindlichen Albträumen gehört haben; Stimmen von Dingen, über die wir wussten, sie würden uns wehtun, wenn sie uns nur fänden … Aus den Stimmen sanken Wörter, und das war schlimmer, als ob Seuchen oder das Schicksal oder das Böse gelernt hätten, zu sprechen. Sie kreisten um den sinkenden Aufzug, kamen erst von der einen, dann von der anderen Seite, rauschten heran und wieder fort, drohten und bettelten, spotteten und flehten, versuchten, uns zu überzeugen, die Aufzugtüren zu öffnen und sie hereinzulassen. Ich kann mich nicht genau daran erinnern, was sie sagten und ich bin froh darüber. Ein paar von uns versuchten, die Hände auf die Ohren zu legen, um die Stimmen draußen zu halten, aber es funktionierte nicht. Wir hörten sie nicht mit den Ohren. Wir ließen die Stimmen hinter uns, ihre hinterhältigen Schreie zogen sich in die Ferne zurück und danach gab es nur noch Stille und den Abstieg und das Gefühl von etwas wirklich Schlimmem, das langsam immer näher kam. Als wir ankamen, gab es kein Gefühl des Stoppens. Die Aufzugtüren glitten einfach auseinander und das gewöhnliche, farblose Licht strahlte hinaus auf eine furchtbar düstere Ebene. Keiner von uns rührte sich. Es fühlte sich nicht sicher an. Was wir von der Welt draußen sehen konnten, war dunkel und jämmerlich, die einzige Beleuchtung war von einem dunklen, öden Violett, wie eine Prellung. Ich tat widerwillig einen Schritt nach vorn und trat aus dem Aufzug heraus. Die anderen folgten mir einer nach dem anderen. In dem Moment, in dem ich das beruhigend normale Licht des Aufzugs verließ, legte sich ein schrecklicher, nervenzerreißender Druck auf mein Gemüt, als trüge ich mit einem Mal alle Last der Welt auf meinen Schultern. Nirgendwo war ein Geräusch zu hören, wie man es kannte, aber so etwas wie nicht enden wollender Donner grollte trotzdem auf irgendeine Weise in der Luft. Man vernahm ihn wie einen langen Basston, den man nur mit der Seele vernehmen konnte; wie ein drohendes Gewitter, von dem man schon seit Ewigkeiten weiß, dass es kommen wird. Wir standen alle zusammen und hielten uns dicht beieinander, um uns gegenseitig den Trost lebender Gesellschaft in einer toten oder sterbenden Welt zu spenden. Wir gehörten nicht an einen Ort wie diesen, und das wussten wir alle. Dann schlossen sich die Aufzugtüren und schnitten das helle, gesunde Licht ab. Wir wirbelten gerade rechtzeitig herum, um zu sehen, wie der Aufzug in den steinigen Boden sank. Er ließ uns allein an diesem schrecklichen Ort, an den er uns gebracht hatte. Eine schmutzig-purpurfarbene Ebene, die sich in jede Richtung, in die ich auch sah, endlos bis zum Horizont erstreckte. Ich fühlte mich, als sei ich am Ende der Welt angekommen. Eine düstere Ebene in endloser Nacht. Über uns hing ein niedriger, blutroter Mond am Himmel, an dem die Sterne einer nach dem anderen ausgingen. Es gab bereits große, dunkle Lücken in den unbekannten Sternbildern. Die endlose Ebene bestand aus nacktem Stein und ab und an einem großen Krater, langen gezackten Spalten und tiefen Rissen. Es wirkte wie der Boden eines Ozeans, nachdem das Wasser verkocht war. In der Nähe lag eine Felsspalte; eine langer, gezackter Riss mit bröckligen Kanten und ich ging hinüber, um hineinzuschauen. Der Abgrund schien bodenlos zu sein. Ich gab irgendein Geräusch von mir, aber Molly war schon da, um mich am Arm zurückzuziehen. Als ob der Klang meiner Stimme etwas ausgelöst hatte, kroch auf einmal eine fremdartige, verdrehte Pflanze mit rauen Kriecharmen und großen, dunklen Blättern, die mit pulsierenden roten Adern überzogen waren, langsam aus dem Abgrund. Molly und ich traten zurück. Die zuckenden Pflanzen versuchten, uns zu folgen, aber sie verrotteten schon und zerfielen. Lebendig und tot gleichzeitig, als ob sie nicht weit genug entwickelt waren, um eine Form ordentlich beizubehalten. In anderen Rissen und Spalten befand sich träge siedendes, feuerrotes Magma. Aber auch wenn sie nicht sonderlich tief waren, kam die Hitze der Lava nicht an die Oberfläche, als ob sie nicht die Kraft hätte, so weit zu reichen. Die Luft selbst war dünn und seltsamerweise fehlte jeglicher Geruch darin. Ich klatschte fest in die Hände, aber es hallte nicht. Ich war sicher, dass Geräusche ebenfalls nicht weit kamen. Wir blieben dicht beieinander und sahen uns immer wieder um, auch wenn wir die einzigen lebendigen Wesen in einer sterbenden Welt waren. »Das ist der Ort, an dem Missionen ins Leere laufen«, sagte U-Bahn Ute leise. »Wo die Liebe immer unerwidert bleibt, wo Versprechen gebrochen werden und nur die schlechten Träume in Erfüllung gehen.« »Und wie sollen wir dann verdammt noch mal Erfolg bei unserer Mission haben?«, fragte der Seneschall. Er klang, als wolle er eigentlich ärgerlich sein, das dann aber zu anstrengend finden. »Wir haben etwas von unserem Universum mitgebracht«, sagte Molly. »Genug, um eine Chance im Kampf zu haben. Aber je länger wir hierbleiben, desto schneller wird sich dieser Effekt verlieren. Wir müssen uns wirklich beeilen.« »Das ist eine gebrochene Welt«, sagte Ute schon fast hypnotisiert. »Das minderwertige Land, das verlassene Territorium …« »Schon gut«, sagte ich. »Du gehst mir langsam auf die Nerven, Ute. Das hier ist ein mieser Ort, ich hab's verstanden. Jetzt komm damit klar, und sag mir gefälligst, in welche Richtung wir gehen sollen.« Sie sah mich mit großen, verschleierten Augen an. »Sag den Namen, Eddie Drood. Sag den Namen des Ortes, zu dem du gehen willst.« »Tu's einfach, Eddie«, flüsterte Molly in mein Ohr. »Sie ist mit dieser Welt eher auf einer Wellenlänge, als ich es bin. Sie versteht die geheimen Wege, sie reden mit ihr.« »Wir müssen ins Innere von Trumans Basis unter Stonehenge«, verkündete ich und sprach dabei laut und deutlich in die Stille hinein. Dabei kam ich mir ein wenig dumm vor. Meine Worte hatten kein Echo. Sie schienen einfach matt und leblos in die stille Luft zu fallen. »Da!«, sagte U-Bahn Ute und wies mit ausgestrecktem Finger auf eine Seite. »Das ist unsere Richtung.« In der Ferne flammte auf einmal ein Licht in den sterbenden Himmel auf, wie ein Scheinwerfer. Es war hell und klar und glänzend und ganz sicher kein natürlicher Teil dieser Welt. Es schien wie die Hoffnung, wie ein Versprechen und wie ein Weg hinaus. »Das ist eine sterbende Welt«, sagte Giles Todesjäger ganz unerwartet. »Wo die Entropie regiert.« »Fang du nicht auch noch an«, sagte ich bestimmt. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir unter diesem blutigen Mond und den erlöschenden Sternen hergingen und über diese verdorrte und verfluchte Ebene wanderten. Die Nacht endete nicht, es gab nur wenige Landmarken in großem Abstand voneinander und wir entdeckten schon bald, dass unsere Uhren nicht funktionierten. Aber es fühlte sich an, als würde es ewig dauern. Ich tat mein Bestes, stetig voranzugehen, die anderen zu führen, die tiefen Krater herumzugehen und über die Sprünge und Risse im Boden zu springen. Der Boden war festgetreten und gab unter meinen Füßen nicht nach, aber seltsamerweise hatte man nicht das Gefühl, als würde man auf etwas treten, egal, wie fest man auftrat. Wir machten kein Geräusch beim Gehen und unsere paar kurzen Gespräche schienen nirgendwohin zu führen, bis wir in der überwältigenden Stille sogar den Impuls verloren zu reden. Also trotteten wir über die endlose Ebene, während sich die nervenzerreißende Stille in unsere Gedanken, Gefühle und Pläne fraß. Bis nur noch langsame, verbissene Hartnäckigkeit mich vorwärts trieb, die einfache Weigerung, von diesem schrecklichen Ort besiegt zu werden. Irgendwann kamen wir an einer langen Reihe von überwältigend hohen Strukturen vorbei, die vielleicht einmal Gebäude gewesen waren. Groß wie Wolkenkratzer, aus einem schwach schimmernden, unbekannten Stein errichtet. Sie ragten über uns auf wie brütende Riesen, fremdartige, beunruhigende Formen mit tiefen Hohlräumen in den Seiten, die aussahen wie eine Vielzahl wachsamer, dunkler Augen. Die unteren Abschnitte waren mit langen Reihen verschnörkelter und unleserlicher Schriftzeichen bedeckt. Drohungen vielleicht oder Warnungen, oder vielleicht hieß es auch nur Vergesst uns nicht. Wir lebten hier und haben dies trotz der Natur unserer Welt gebaut. Dennoch vermittelten diese handfesten Zeichen von Leben keinen Trost, am Ende blieb nur ein Gefühl von kalter Bosheit um sie herum, als wenn das, was auch immer an üblem Ungeziefer in diesen hässlichen Strukturen gelebt hatte, unsere Gegenwart zurückwies, unseren Zweck, unser Leben. Wir gingen weiter und ließen die Steinstrukturen tatsächlich hinter uns. »Ist das die Hölle?«, fragte ich Molly irgendwann. »Nein«, sagte sie. »Die Hölle ist lebendiger als das hier.« Als ob er erst vom Klang unserer Stimmen dazu ermutigt worden wäre, verkündete Mr. Stich plötzlich: »Wir werden beobachtet.« Ich hielt an und die anderen taten es mir nach. Wir sahen uns um. Nur Felsspalten und Risse und Krater. »Bist du sicher?«, fragte Molly und schauderte. »Er hat recht«, sagte der Seneschall. Je mehr wir redeten, desto leichter fiel uns die Kommunikation. »Ich spüre schon seit Ewigkeiten, dass uns wachsame Augen folgen. Ich habe allerdings nichts gesehen.« »Wir werden ganz sicher beobachtet«, sagte Mr. Stich. Seine Stimme war völlig ruhig und leicht, als ob er vorschlüge, den Tee auf dem Rasen einzunehmen. »Ja«, sagte U-Bahn Ute. »Da ist etwas in unserer Nähe, ich kann es fühlen. Ich habe euch gesagt, dass etwas gekommen ist, um hier zu leben, und dass es sich von Reisenden ernährt. Deswegen benutzt niemand mehr den Weg der Verdammnis.« »Vielleicht hätte man einfach nur den Namen ändern sollen«, sagte ich. »Werbung ist heutzutage alles.« »Nicht jetzt, Eddie«, meinte Molly. Giles Todesjäger zog sein Langschwert und drehte sich einmal langsam im Kreis. »Sie sind hier. Nah. Nah und tödlich.« »Aber wer zur Hölle würde an so einem Ort leben wollen?«, fragte Molly. Wir bildeten Schulter an Schulter einen Kreis, die Gesichter nach außen gewandt. Mir kam es vor als sei ich plötzlich wachsamer und aufmerksamer, als ob ich ein langes Nickerchen abschüttelte. Ich starrte hinaus in die endlose Ebene, den öden und langweiligen violetten Stein, aber nichts bewegte sich irgendwo. Was auch immer hier war, es musste ziemlich mächtig und ziemlich gefährlich sein. Nach allem, was U-Bahn Ute erzählt hatte, hatten einige erfahrene Leute diese Route benutzt und waren am anderen Ende nicht wieder aufgetaucht. Ich hielt nach etwas Großem Ausschau, etwas Beeindruckendem und ganz offensichtlich Tödlichem - aber ich hätte es besser wissen müssen. Immerhin war das hier eine sterbende Welt. Und was ziehen Tote und sterbende Körper an? Aasfresser, Parasiten und Schmarotzer. Sie kamen aus den Spalten und Kratern, kriechend und krabbelnd, auf zwei Beinen oder allen Vieren bewegten sie sich über den toten Boden auf uns zu. Sie waren überall um uns herum, rennend, mit großen Schritten, eine Welle nach der anderen, sich windend wie Maden in einer offenen Wunde. Ich wusste nicht, ob dieser Ort ihre Heimat war oder ob sie von woanders herkamen, aber die Natur dieser Existenzebene war in sie übergegangen. Sie sahen aus, als hätten sie sich bemüht, menschlich auszusehen, aber es nicht geschafft. Sie sahen grob aus, unfertig, die Details ihrer Körper waren ungenau oder missgebildet oder fehlten ganz. Sie hatten nicht einmal Gesichter, nur phosphoreszierende, verfaulende Augen und runde Münder mit scharfen Zähnen wie Neunaugen. Sie drangen von allen Seiten her auf uns ein, und sie schienen zahllos zu sein. Ich sprach leise die Worte, um aufzurüsten, aber nichts passierte. Ich versuchte es wieder, aber meine Rüstung antwortete nicht. Ich wandte mich zum Seneschall um, und sein schockierter Gesichtsausdruck war alles, was ich wissen musste. Er griff mit seinen Händen ins Leere, offenbar versuchte er, seine Waffen zu ziehen, aber nichts passierte. Molly hob ihre Arme, als wolle sie etwas beschwören, aber dann sah sie mich verdutzt an, als nichts passierte. »Es ist diese Welt«, sagte U-Bahn Ute. »Komplizierte Magie kann hier nicht wirken. Oder komplizierte Wissenschaft. Die desintegrierenden Gesetze dieser Realität können sie nicht unterstützen. Das ist der Grund, warum so viele erfahrene Leute es nicht hier herausgeschafft haben. Wir sind hilflos. Ohne Schutz.« »Für dich gilt das vielleicht«, sagte Giles. Er schwang sein Langschwert vor sich hin und her. »Ein starker rechter Arm, eine gute Klinge und ein aufrechtes Herz werden immer funktionieren.« »In der Tat«, meinte Mr. Stich und hielt plötzlich sein langes Messer in der Hand. Molly griff nach unten in ihre Stiefelschäfte und zog zwei schlanke, silberne Dolche heraus. »Athamen«, sagte sie knapp. »Hexendolche. Ich benutze sie meist für Rituale, aber sie sind trotzdem scharf und gefährlich genug für sowas hier.« Sie gab mir einen. Es fühlte sich überraschend schwer an für etwas, das so zierlich aussah. Der Seneschall zog ein langes Messer mit gezackter Klinge aus seinem Ärmel. »Ein Albanischer Stoßdolch«, sagte er. »Ist immer gut, so eine kleine Überraschung in Reserve zu haben. Wenn man etwas Lebendiges, dass einen ärgert, unbedingt töten muss.« »Messer werden nicht funktionieren«, meinte U-Bahn Ute hohl. »Schwerter werden nicht funktionieren. Es sind einfach zu viele. Wir werden hier alle sterben. Wie jeder andere.« »Ich glaube, du bist schon zu lange auf dieser Welt«, sagte Molly. »Bleib hinter mir und alles wird gut.« »In der Überzahl zu sein, ist keine Garantie für einen Sieg«, sagte Giles. »Jeder erfahrene Soldat weiß das. Behaltet euren Boden, sorgt dafür, dass jeder Streich trifft, erinnert euch an die Übungen und alles wird gut. Ein geübter Soldat mit einer Klinge ist jedem unbewaffneten Mob gewachsen.« Wir standen Schulter an Schulter, unsere Waffen gezückt. U-Bahn Ute setzte sich plötzlich im Inneren des Kreises auf den Boden und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Die Schmarotzer rannten von allen Seiten gleichzeitig mit großen Schritten über den rissigen Boden auf uns zu. Eine Welle nach der anderen, zu viele, als dass man sie hätte zählen können. Wenn es einen Ort gegeben hätte, zu dem ich hätte fliehen können, ich hätt's getan. Aber die helle Lichtsäule schien so weit weg wie nur je und wir waren umzingelt. Also blieb uns nur übrig, zu bleiben und zu kämpfen und - wenn es nötig wurde - gut zu sterben. Hoffentlich konnte jemand anderes noch rechtzeitig einen Weg zum Turm finden und ihn zerstören. Ich wünschte … na ja. Es gab so vieles, von dem ich mir wünschte, es noch getan oder gesagt zu haben. So viele Dinge, die ich noch tun wollte - aber ich vermute, das will man immer, auch wenn man gerade nicht stirbt. Ich warf einen kurzen Blick auf Molly und wir tauschten ein letztes, süßes und wildes Lächeln. Und dann waren die Schmarotzer da. Sie erreichten Giles zuerst und er hieb sie mit müheloser Leichtigkeit nieder. Sein Langschwert schwang vor und zurück, als wäre es schwerelos, die unglaublich scharfe Klinge fuhr durch Fleisch und Knochen gleichermaßen. Dunkles Blut sprudelte und die Schmarotzer fielen, ohne ein Geräusch von sich zu geben. Giles lachte glücklich; er tat, was er am besten konnte und war dabei in seinem Element. Mr. Stich benutzte sein Messer beinahe beiläufig und durchschnitt mit elegantem Können Kehlen, stach in Bäuche und Augen. Er lächelte ebenfalls, aber in seinen Augen lag keine Emotion, nur ein dunkles, verzweifeltes Bedürfnis, das nie befriedigt werden konnte. Der Seneschall stampfte und warf sich mit brutaler Effizienz in den Kampf und tötete alles, was ihm zu nahe kam. Er runzelte dabei die Stirn, als sei er mit etwas Notwendigem, aber Abscheulichem beschäftigt. Molly und ich kämpften Seite an Seite, hackten und stachen auf die schrecklich unfertigen Kreaturen ein, die nach wie vor auf uns eindrangen. Die Schmarotzer hatten keinen Sinn für Taktik oder gar Selbstschutz. Sie gingen einfach mit zu Klauen geformten Händen auf uns los, die brüchig wie tote Zweige waren; glühende, verfaulende Augen schauten blicklos, und dunkler Speichel, troff aus ihren runden Mäulern. Ihnen war nichts außer der Gier zu töten und zu fressen geblieben. Sie versuchten, uns herabzuziehen und auseinanderzureißen, ohne zu wissen oder sich auch nur darum zu kümmern, was sie da zu zerstören suchten. Die Toten häuften sich um uns herum auf, das Fleisch zerfiel bereits, das dunkle Blut wurde von dem zersprungenen Steinboden gierig aufgesogen. Mein ganzer Körper schmerzte von der Anstrengung, das silberne Messer pausenlos zu benutzen, durch Fleisch wie durch Schlamm zu schneiden und zu hacken, Fleisch das an dem Messer hängen blieb und es langsam zersetzte. Ich trug Prellungen und Schnitte davon, meine Kleider waren zerrissen und Schweiß und Blut liefen mein Gesicht herunter. Ich konnte Molly hören, wie sie laut neben mir atmete, und Giles, wie er ein obskures Schlachtlied sang. Irgendwie lag etwas Unmenschliches in seiner fröhlichen Weigerung, sich von den unglaublichen Massen, die sich ihm in den Weg stellten bremsen oder gar aufhalten zu lassen. Er tötete und tötete und er war immer bereit für mehr, wie ein Verhungernder bei einem Festmahl. Mir kam der Gedanke, dass Giles in einiger Hinsicht furchterregender war als Mr. Stich. Und dann plötzlich, als hätte jemand ein unhörbares Signal gegeben, zogen sich die Schmarotzer zurück. In einem Moment griffen sie mit all ihrer schweigsamen Wut an, im nächsten krabbelten sie über die ausgetrocknete Ebene davon, wie das Meer bei Ebbe. Giles schüttelte das Blut von seinem Langschwert und lehnte sich dann darauf. Er sah sich um und lächelte angesichts der Leichenhaufen, die sich um uns herum türmten. Er nickte kurz, als begutachte er die wohlgetane Arbeit nach einem langen Tag. Molly und ich lehnten uns aneinander und rangen nach Luft. »Sie werden wiederkommen«, sagte U-Bahn Ute hinter uns. Ich drehte mich um und sah sie böse an. »Wir müssen hier weg. Es muss einen Weg geben. Finde ihn!« »Ja«, sagte Ute langsam. »Ich stehe mit diesem Ort in Verbindung. Er spricht zu mir. Einer von uns muss hierbleiben, damit die anderen zum Licht kommen können.« »Was?«, fragte Molly. »Wieso das denn auf einmal?« »U-Bahn Ute sah sie müde an. »Ich kenne die Geheimen Wege. Ich kann die Regeln hier lesen, die in diese sterbende Welt geschrieben sind. Wenn wir alle bleiben, sterben wir alle. Einer von uns muss hierbleiben und sich selbst opfern für die anderen. Damit sie gehen können.« »Wir sollten Lose ziehen«, sagte Giles. »Nein«, sagte Ute sofort. »Es muss ein freiwilliges Opfer sein. Ein positiver Akt, der gegen die Entropie dieser Welt gesetzt wird. Hier geht es nicht darum, wie weit man gehen muss. Wir könnten für den Rest unseres Lebens gehen und würden das Licht doch nicht erreichen. Aber man kann es durch einen Akt der Liebe heranziehen. Also, wer von uns ist bereit zu sterben, damit die anderen leben können?« »Es muss einen anderen Weg geben«, sagte Molly. »Wir lassen unsere Leute nicht im Stich. Sag's ihnen, Eddie!« »Ich werde bleiben«, sagte ich. »Was?« Molly starrte mich wie betäubt an. »Ich bleibe«, wiederholte ich. »Das war meine Mission, meine Idee. Meine Verantwortung.« »Nein, das ist sie nicht.« Molly warf böse Blicke um sich. »Sagt es ihm!« »Du kannst nicht bleiben, Edwin«, sagte der Seneschall ruhig. »Die Familie braucht dich, um Truman und den Turm zu zerstören. Du bist jetzt der Held. Also bleibe ich. Ich sagte, alles für die Familie und die Welt und ich meinte es so. Ihr werdet alle gebraucht, da, wo ihr hingeht. Ihr seid etwas Besonderes, ich nicht.« »Seneschall -«, fing ich an, doch er unterbrach mich mit einem Blick. »Eddie, ich will es so. Ich will einmal das Zünglein an der Waage sein. Ein Held sein und nicht der, der sie trainiert und sie wegschickt. Ich habe immer davon geträumt, einmal so etwas wie das hier zu machen, der Letzte zu sein, der noch bleibt und eine verlorene, edle Sache gegen jede Wette durchzustehen. Um die Familie und die Welt zu retten. Also, bring sie hier raus, Eddie. Mach Schluss mit Truman und dem Turm. Mach die Familie stolz.« Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten und direkt auf die erstbeste Gruppe von Schmarotzern zu. Sie sahen ihn von ihren Spalten und Kratern aus kommen und wurden unruhig. Ich sammelte die anderen. Wir ließen ihn zurück, als wir auf die Lichtsäule zuliefen, die schon auf uns zuschoss. Ich hörte, wie die Schmarotzer hinter uns aus ihren Verstecken krochen, aber ich sah mich nicht um. Die Lichtsäule fuhr durch die Schmarotzer hindurch, angezogen von der Kraft eines freiwilligen Opfers. Sie flammte vor uns auf und versprach Hoffnung und Leben und einen Weg hier raus. Aber nicht für den Seneschall. Molly und U-Bahn Ute tauchten ein in das helle Licht und verschwanden, gefolgt von Giles und Mr. Stich. Und nur ich hielt noch einmal inne und sah mich zum Seneschall um, der unerschütterlich gegen eine lebende Welle von mit ihren Klauen wild um sich schlagenden Schmarotzern stand. Er wehrte sich heftig gegen sie, warf mit der Kraft seiner Schläge Leichen in jede Richtung. Er stand aufrecht bis zu dem Moment, in dem sie alle über ihn kamen und ihn zu Boden zerrten und er aus meiner Sicht verschwand. Er schrie nicht einmal auf. Und erst dann trat ich in das Licht. Und so starb Cyril Drood: gegen seine Feinde bis zum Ende kämpfend, so, wie ein Drood sterben sollte. Für die Familie. Und für die ganze, verdammte Welt, die sich nicht darum kümmerte. Als das Licht erstarb, war ich wieder in meiner eigenen Welt. Es war Nacht, aber der Mond war voll und strahlte hell. Der Himmel hing voller Sterne, die noch mindestens ein paar Äonen leuchten würden. Meine Wunden hatten sich spurlos geschlossen und ich fühlte mich wieder stark. Die Luft war angenehm kühl, voller Gerüche - es war eine Freude, darin zu atmen. Ich trat auf das feuchte Gras und erfreute mich am festen Grund unter mir. Die ganze Nacht fühlte sich lebendig an, wie auch ich. Erst als ich mich umsah, erkannte ich, dass die anderen mich nicht einmal bemerkten. Sie standen um einen Körper herum, der auf dem Boden lag. Ich hastete zu ihnen herüber. Molly kniete auf dem Gras neben U-Bahn Ute. Sie war tot. Sie hatte keine Verletzungen, die Schmarotzer hatten sie nicht in die Finger gekriegt. Aber sie war trotzdem tot. Molly sah zu mir auf. »Ute hat es nicht geschafft«, sagte sie dumpf. »Zu viel Anstrengung, zu viel Magie, sie war nie sehr stark.« »Es tut mir leid«, sagte ich. »Nicht deine Schuld«, erwiderte Molly. »Sie hat sich ja freiwillig gemeldet.« Sie kam wacklig wieder auf die Beine. »Wir werden zu dir zurückkommen, Ute. Später. Noch haben wir eine Aufgabe zu erledigen.« »Ihr wird es hier gut gehen«, sagte ich, weil man in so einer Situation ja irgendetwas sagen musste. Molly funkelte mich an. »Ute war meine Freundin. Sie war nicht immer so wie vorhin. Du hast sie nie zu ihrer besten Zeit gesehen, reich und glamourös und jemand, mit dem man rechnen musste.« »Ich weiß«, antwortete ich. »Sie war meine Freundin«, sagte Molly. »Sie ist nur in das alles reingezogen worden, weil ich sie drum gebeten hatte.« »Ja«, sagte ich. »Das scheint ansteckend zu sein.« »Der Seneschall war ein guter Mann«, sagte Giles Todesjäger. »Er kannte seine Pflicht und er hielt stand bis zuletzt.« »Natürlich«, meinte ich. »Er war ein Drood.« Ich sah mich wieder um. Wir befanden uns auf einer Wiese ungefähr eine halbe Meile von Stonehenge entfernt. Von Harry oder Roger oder irgendeinem von Trumans Beschleunigten war nichts zu sehen. »Wir sind nur einen Moment nach unserem Aufbruch hier angekommen.« »Woher willst du das wissen?«, fragte Molly. »Nicht mal ich kann den Nachthimmel so akkurat lesen.« »Ich weiß es, weil die implantierte Uhr in meinem Kopf gerade wieder angefangen hat zu arbeiten«, sagte Giles. »Klugscheißer«, sagte Molly. Sie sah mich an. »Ich frage mich, wie Jacob und Jay vorankommen.« »Ich bezweifle, dass wir das je erfahren werden«, antwortete ich. »Es war ein ganz schöner Schuss ins Blaue. Aber wie auch immer, wir können uns nicht auf sie verlassen, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen, also kommt's jetzt auf uns an.« »Es gibt einen Eingang zu dem unterirdischen Bunker, nicht weit von hier«, verkündete Mr. Stich auf einmal. Er wies zuversichtlich in die Dunkelheit. Als er bemerkte, dass wir ihn alle anstarrten, lächelte er kurz. »Ich habe viele Fähigkeiten«, sagte er ruhig. »Ich verrate sie nur nicht unnötig. Sollen wir gehen?« »Auf alle Fälle«, meinte ich. »Bitte nach Ihnen.« Er nickte, schritt über die weite Ebene und wir alle folgten ihm. Ich war froh, dass er die Führung übernommen hatte. Ohne den Seneschall wollte ich Mr. Stich nicht hinter mir wissen. Er war vielleicht ein Teil der Mission, aber ich würde ihm nie wieder vertrauen. Nicht nach der Sache mit Penny. Plötzlich hielt er an und starrte herunter auf ein Stück Wiese, dass sich nicht vom Rest unterschied. Dann stampfte er zwei Mal fest auf den Boden und trat zurück. Ein großes Stück des Rasens hob sich langsam und gab einen dunklen Tunnel frei, der nach unten führte. Mr. Stich wollte ihn betreten, doch ich hielt ihn zurück und übernahm nach einem bedeutungsvollen Blick auf Molly wieder die Führung. Wenn das wirklich ein Weg in Trumans Bunker war, wollte ich nicht, dass Mr. Stich voran ging und Entscheidungen für uns alle traf. Molly konnte ihn im Auge behalten. Elektrische Lichter flammten auf, als wir den Tunnel betraten, wahrscheinlich ausgelöst durch einen versteckten Sensor. Die Wände bestanden aus gewölbtem Stahl und schimmerten dumpf. Truman hatte es mit Stahl. Persönlich war ich der Ansicht, dass er einfach zu viele James-Bond-Filme gesehen hatte. Aber das hatte ich auch. Wir gingen den Stahlkorridor entlang, bis er auf einen anderen traf, genauso breit, genauso nackt und schlicht. Unsere Schritte hallten laut auf dem geriffelten Boden und ich erwartete fast, dass jeden Moment bewaffnete Wachleute auftauchten. Aber niemand kam, um zu sehen, was los war. Kein Alarm, keine erhobenen Stimmen - nichts. Der ganze Ort war unnatürlich still. Molly stupste mich in die Seite, sah sich finster um und blieb jetzt so dicht bei mir, dass ich die Spannung in ihr ebenfalls spüren konnte. »Da stimmt was nicht«, sagte sie leise. »In Trumans letzter Basis wimmelte es nur so von Leuten. Wo sind die alle?« »Gute Frage«, erwiderte ich. »Wir dürfen nicht vergessen, dass das hier nicht nur ein Quartier des Manifesten Schicksals, sondern auch ein Nest der Abscheulichen ist.« Sie sah mich nicht an. Sie musste wissen, was ich dachte. Sie hatte einen Abscheulichen in sich, der wuchs und größer wurde. Wer wusste schon, was das Ding tat, jetzt, wo es sich endlich unter seinesgleichen befand. Ich begann zu hoffen, dass wir bald auf ein paar bewaffnete Wachen träfen. Ich hatte wirklich den Eindruck, ich müsste meine angestaute Frustration an einer ganzen Meute von armen, hilflosen, bewaffneten Wachen auslassen. Aber als wir um eine letzte Stahlecke bogen und endlich in den ersten offenen Raum in diesem Bunker spähten, fiel auf einmal ein massives Stahlschott von der Decke und versperrte den Korridor. Es blockierte unseren Weg mit bestimmt zwei Tonnen Stahl und traf mit einem so lauten Knall auf den Boden, dass ich tatsächlich das Gesicht verzog. Aber immer noch wurde kein Alarm ausgelöst, kein Stimmengewirr war zu hören, das zu wissen verlangte, was zur Hölle hier los war. Wo zum Teufel waren die alle? Was machte Truman hier unten nur? Ich sprach leise die aktivierenden Worte und boxte dann vor Freude in die Luft, als die goldene Rüstung glatt über mich hinwegfloss. Es war ein gutes Gefühl, sie wieder zu haben. Ich schlug auf das Stahlschott und legte meine ganze gerüstete Kraft hinein. Meine goldene Faust sank knapp zehn Zentimeter in den Stahl, aber das war's auch schon. Ich musste meine Hand Zentimeter für Zentimeter wieder herauszerren. Ich kauerte mich hin und rammte beide Hände in den unteren Teil des Schotts, grub meine goldenen Finger tief hinein und strengte mich mit aller Kraft an, das massive Schott zu heben. Es zitterte ein wenig, aber hob sich kaum mehr als ein paar Zentimeter vom Boden. Ich konnte einfach nicht genug Hebelwirkung aufbringen. Meine goldenen Finger glitten langsam durch den Stahl wie durch dicken Schlamm und waren nicht in der Lage, ihn ordentlich zu fassen zu bekommen. Ich zog meine Hände wieder heraus und trat einen Schritt zurück, um das Schott böse anzufunkeln, verblüfft und frustriert. »Ich habe eine Strahlwaffe«, sagte Giles Todesjäger schüchtern. »Nein«, sagte ich sofort. »Keiner weiß, welche Arten von Verteidigung oder Fallen Truman da drin installiert hat. Lasst uns die Dinge nicht schlimmer machen, als sie schon sind.« Molly schnaubte und stieß mir ihren Ellbogen in die Seite. »Männer«, sagte sie verächtlich. »Wenn ihr's nicht zerschlagen oder erschießen könnt, dann wisst ihr nicht weiter.« Sie stach mit dem Zeigefinger herrisch nach der Stahlplatte, sagte zwei sehr alte und kraftvolle Worte der Macht und das Schott schüttelte sich tatsächlich einmal kräftig durch, bevor es sich widerwillig wieder zurück in seinen Schacht an der Decke hob. Molly grinste Giles und mich herablassend an, zweifellos lag ihr schon etwas sehr Bissiges auf der Zunge, doch da gingen auf einmal die Maschinengewehre los. Giles schnappte Molly und warf sie auf den Boden und bedeckte ihren Körper mit seinem. Er ignorierte ihre erstaunlichen Flüche. Ich beeilte mich, den Flur zu blockieren und jeden mit meiner goldenen Uniform zu schützen. Kugeln sprühten durch den ganzen Gang, aber die goldene Rüstung absorbierte sie einfach. Ich spürte nicht einmal die Einschläge, während ich langsam mitten in den Kugelhagel hineinging. Ich bemerkte schnell, dass es gar keine Wachen gab, nur zwei automatische Maschinengewehre, die dorthin gesetzt worden waren, um das Ende des Korridors unter Feuer halten zu können, schwangen langsam und methodisch auf ihren Halterungen hin und her. Es sah so aus, als hätten sie ihre Munition bald verschossen, aber ich war in der Stimmung, etwas kaputtzumachen, also riss ich sie aus ihren Verankerungen und zerknüllte sie in meinen goldenen Händen. Beide gaben zufriedenstellende Quiekgeräusche von sich und ich warf sie beiseite. Eine wunderbare Stille breitete sich im Gang aus. Nur Molly war immer noch damit beschäftigt, Giles nach Leibeskräften zu beschimpfen, als er ihr aufhalf. »Ich kann mich selbst beschützen, besten Dank!«, schnaubte sie. »Ich muss nicht von einer übereifrigen und viel zu muskulösen Drama Queen auf den Boden geworfen werden!« »Von mir aus«, meinte Giles. »Das nächste Mal lasse ich dich mit Freuden sterben.« »Sollte ich vielleicht auch tun«, fügte ich hinzu. »Wäre auf lange Sicht weniger Arger.« »Mir geht es übrigens gut«, sagte Mr. Stich. »Das hab ich nie bezweifelt«, erwiderte ich, ohne mich umzudrehen. Wir gingen weiter, durch das Innere von Trumans unterirdischer Basis. Alles war chaotisch: Umgeworfene Möbel, herumfliegendes Papier, offene Türen zu Sicherheitsbereichen. Nirgendwo waren Leute. Nur leere Räume und verlassene Korridore. Die Hälfte der Lichter arbeitete nicht und seltsame Schatten schienen überall zu lauern. Als wir weiter vordrangen, fanden wir Arbeitskonsolen, an denen Computer und andere Technologie herausgerissen und ausgeweidet worden waren. In den Stahlwänden fanden wir jetzt große Risse vor, lang und gezackt, als hätten Klauen hineingeschlagen, Draht und Kabel hingen dabei wie Eingeweide aus offenen Wunden heraus. Und die einzigen Geräusche, die wir in der gesamten Basis hören konnten, waren die, die wir selbst mitbrachten. Endlich, als wir uns dem Operationszentrum näherten, fanden wir allmählich Leichen, die man achtlos aufgehäuft hatte, als wären sie einfach zusammengezerrt und aus dem Weg geräumt worden. Jetzt gab es Anzeichen von Kämpfen, offenbar waren die Leute nicht freiwillig in den Tod gegangen. Kugellöcher in den Wänden, verkohlte Einschläge von Granaten, die Überreste von improvisierten Barrikaden. Sie hatten einen Kampf geliefert, nur um wie ihre Computer zu enden: zerrissen, aufgeschlitzt, ausgeweidet. Aufgebrochen, um an die Teile zu kommen. Ganze Organe fehlten, und Hände und Augen. Blut und Eingeweide lagen überall herum, dampften immer noch und stanken in der kalten, stillen Luft. Mr. Stich inspizierte einige der Leichen. Kein anderer wollte näher herangehen. »Sie wollten den Turm vervollständigen«, sagte ich, weil es jemand aussprechen musste. »Technologie und organische Elemente, um ihn fertigzustellen. Weil sie in Eile waren. Weil sie wussten, dass wir kommen.« »Wag es nur ja nicht, dir die Schuld dafür zu geben«, sagte Molly sofort. »Nichts davon ist deine Schuld. Das Manifeste Schicksal ist ganz allein dafür verantwortlich, indem sie sich mit den Abscheulichen eingelassen haben. Also los, lasst uns Truman finden.« »Woher willst du wissen, dass er immer noch am Leben ist?«, fragte Giles. »Weil Ratten wie er immer ein Loch finden, in dem sie sich verstecken können«, erwiderte sie. Wir brauchten nicht lange, um ihn aufzuspüren. Wir folgten einfach den Anzeigen an der Wand zu seinem Privatbüro und wie zu erwarten, waren die Leichenhaufen vor seiner verschlossenen und verbarrikadierten Tür höher als überall sonst. Eine grüne Lampe über der Tür leuchtete und zeigte an, dass sich der Führer darin befand. Und eine einzelne Überwachungskamera fuhr hin und her und scannte uns mit einem kleinen roten Licht. Ich schlug mit der Faust an die Tür. »Du weißt, wer hier ist, Truman. Und stell dir vor, ich will dich nicht umbringen. Eigentlich bin ich sogar deine beste Chance, diesen Schweinestall hier lebend zu verlassen. Mach auf, damit wir mit dir über die Abscheulichen reden können.« »Verschwinde!«, kreischte eine Stimme von drinnen, schrill und gebrochen. »Du kannst mich nicht reinlegen. Ihr seid keine Menschen! Nicht mehr!« »Hier ist Edwin Drood, Truman. Und jetzt lass mich rein, oder ich reiße die Tür mitsamt den Angeln raus!« Es entstand eine lange Pause, gefolgt von etwas, das ein Kichern hätte sein können. »Ein Drood ist gekommen, um mich zu retten. Dass es mal so weit kommt.« Man hörte das Geräusch von Möbeln, die weggezogen wurden und dann, nach einer kleinen Weile, ging das Schloss der Tür von selbst auf. Ich stieß sie auf und wir gingen in Trumans Büro hinein. Es war vielleicht einmal luxuriös gewesen, eventuell sogar beeindruckend, aber jetzt sah es aus wie ein Rattenloch. Das Zimmer war ein Saustall, es stank nach Schweiß und Furcht. Truman saß steif hinter seinem Schreibtisch, vor ihm lag ein halbes Dutzend Pistolen, die Mündungen auf uns gerichtet, auch wenn er Verstand genug besaß, die Hände davonzulassen. Er hielt seinen Kopf aufrecht, ohne Zweifel war der voller Implantate, die alles, was er sich selbst und seinem Kopf angetan hatte, unterstützten. Truman glaubte an die Vorzüge der Schädelbohrung, oder anders gesagt, daran, sich den Kopf durch eine Menge Löcher zu ventilieren, damit das Gehirn sich ausweiten konnte. Also hatte er rund ein Dutzend Löcher in seinen gebohrt und dann lange Stahlnadeln tief in sein Hirn eingeführt. Die großen Stahldornen ragten aus seinem Kopf und der weite Bogen, den die Spitzen bildeten, umgab seinen Kopf wie ein metallener Heiligenschein. Er hoffte, damit klüger zu werden als ein normaler Mensch, aber ich konnte nicht behaupten, dass ich je einen Beweis dafür gesehen hatte. Truman sah blass und erschöpft aus, mit Augen wie ein gehetztes Tier. Er brachte ein schwaches Lächeln für Molly und mich zustande. »Immer, wenn ich denke, die Dinge können gar nicht schlimmer werden, taucht ihr beide auf.« »Sag' uns, was passiert ist«, meinte Molly kurzangebunden. »Dann werden wir entscheiden, ob dein jämmerlicher Arsch es vielleicht wert ist, gerettet zu werden. Was hast du hier angestellt, Truman?« »Ich wollte nie, dass das Manifeste Schicksal mit den Abscheulichen kooperiert«, sagte er und sah auf seine Hände, damit er uns nicht ansehen musste. »Sie stehen für alles, was ich hasse und verachte. Aber nachdem ihr meine alte Organisation zerstört hattet, musste ich in den Untergrund gehen und meine Berater bestanden darauf, dass wir mächtigen Beistand brauchen, um uns selbst zu schützen, solange wir restrukturierten. Die Abscheulichen kamen zu mir und sie sagten die richtigen Dinge und versprachen mir die Welt und alles darin, wenn ich sie nur einen ihrer verdammten Türme hier bauen ließe. Ich kannte die Gefahr, das kann man nicht anders sagen, aber ich war so sicher, dass ich sie kontrollieren und benutzen und dann den Turm zerstören könnte, bevor sie irgendetwas damit tun könnten … Ich war ein Idiot. Sie infizierten meine Leute einen nach dem anderen. Bei meinen Beratern haben sie angefangen, sodass ich nur hörte, was sie wollten, dass ich höre. Das erste Mal, dass ich merkte, dass etwas falsch lief, war, als die infizierten Drohnen plötzlich den Rest meiner Leute angriffen, hier, in meiner eigenen Basis.« Er lächelte auf einmal, ein seltsames, schiefes Lächeln. »Sie haben sogar mich infiziert. Oh ja. Einer meiner ältesten Freunde hat es getan, ihre dreckige Präsenz in mich gepflanzt. Aber ich hab ihn getötet und dann habe ich ES umgebracht. Langsam, bis es tot war. Mein vergrößertes Hirn war dem winzigen, schwachen Ding, dass sie mir in den Kopf gepflanzt haben, mehr als gewachsen. Ich hab's gegessen und seine sterbenden Schreie mit meinem Hirn verschlungen.« An dieser Stelle lachte er tatsächlich laut auf und genoss die Erinnerung in vollen Zügen. Er wurde erst wieder nüchtern, als er die Mienen auf unseren Gesichtern sah. »Natürlich war es da schon zu spät. Meine Leute waren übernommen oder abgeschlachtet und meine Basis auseinandergenommen worden, um mit dem guten Material ihren verdammten Turm bauen zu können. Aber ich werde trotzdem zuletzt lachen! Oh ja! Ich habe eine geheime Waffe, die ich im Verborgenen für den Tag vorbereitet habe, an dem sie sich gegen mich erheben. Die Seelenkanone! Nur ich habe die Zugangscodes. Kein anderer kommt da dran oder kann sie abfeuern! Lasst sie ihren Turm aktivieren! Ich werde meine Seelenkanone abfeuern, mit aller Macht, die die Seele Albions hergibt und sie verwenden, um die Abscheulichen für immer aus dieser Welt zu verbannen!« Er funkelte uns triumphierend an, aber Molly und ich schüttelten schon mit den Köpfen. »Wird nicht funktionieren«, sagte ich. »Zu deinem Pech hast du dir nie die Mühe gegeben, wirklich zu kapieren, was es mit der Seele Albions auf sich hat. Das ist nicht nur ein Ding, etwas, das du benutzen kannst. Die Seele fiel aus einer höheren Dimension auf die Erde, genau wie das Herz der Droods. Vielleicht ist es sogar ein Teil des Herzens, das bei dessen Abstieg verlorenging. Um genau zu sein, ist die Seele ein winziger Kristall mit einer Babyintelligenz, nur wenige Jahrhunderte alt und zu jung, um eine volle Persönlichkeit entwickelt zu haben. Es beschützt England, weil es glaubt, dass das seine Heimat ist. Wenn du versuchst, ihm seine Kraft zu nehmen und dabei alles Leben aus ihm herauszusaugen, dann wird es nur dich und deine Basis zerstören und wieder schlafen gehen.« »Und selbst wenn du diesen Plan umsetzen könntest«, sagte Molly, »glaubst du dann wirklich, dass ein Babykristall hoffen könnte, die Eindringlinge zurückzuhalten? Die Vielwinkligen, die Hungrigen Götter? Weißt du, dass der Turm gebaut wurde, um sie herzubringen?« »Nein«, sagte Truman. »Nein, nein - ihr wollt mir nur Angst machen …« »Vertrau mir«, sagte ich. »Wir haben schon Angst genug. Wir müssen den Turm zerstören, bevor die Eindringlinge durchkommen. Wo ist er?« Ein Alarm ging los, ohrenbetäubend laut in dem kleinen Büro. Wir fuhren alle zusammen. Truman hieb auf die Kontrollen seines Schreibtischs ein und ein Bildschirm flammte an der Wand auf. Er zeigte Harry und Roger Morgenstern, die vorsichtig durch die unterirdische Basis schlichen. Endlich waren sie hier. Ich musste lächeln. Harry würde es so hassen, nur der Zweite hier zu sein. »Verdammt«, meinte Molly. »In all der Aufregung habe ich die beiden glatt vergessen.« »Ich habe keinen vergessen, auch nicht die Droods, die sie mitgebracht haben«, sagte ich. Ich sah Truman kalt an. »Deine Beschleunigten und deine verdammte Seelenkanone haben Hunderte meiner Familie getötet.« Er lächelte mich verächtlich an. »Ich wünschte, es wären mehr gewesen. Du hast mich doch erst so weit gebracht, mich so tief sinken zu lassen, dass ich mich mit Abschaum aus einer anderen Dimension einlassen musste! Alles, was hier passiert ist, ist dein Fehler, Drood!« »Ach, halt die Klappe, du Jammerlappen«, sagte Molly und der schiere Widerwillen in ihrer Stimme ließ ihn zusammenzucken, als habe sie ihn geschlagen. Sie ging um den Schreibtisch herum, fand die Konsole und rief Harry und Roger beim Namen. Beide sahen verwirrt auf und Molly grinste, während sie ihnen den Weg zu Trumans Büro beschrieb. »Entschuldigt«, sagte Giles Todesjäger leise. »Aber was ist dieses Ding da auf seinem Kopf?« »Hochmoderne Technologie«, meinte ich trocken. Giles hob eine Augenbraue. »In meiner Zeit finden wir es nützlicher, die Technologie im Kopf zu montieren. Und ich möchte darauf hinweisen, dass wir es ebenso nützlich finden, überehrgeizige Idioten wie den da bei Sichtung abzuknallen.« Harry und Roger hatten endlich Trumans Büro gefunden und kamen ohne anzuklopfen herein. Harry sah mich und schnaubte laut. »Ich hätte wissen müssen, dass du am Ende einen Weg hier hereinfindest und allen Ruhm für dich beanspruchst.« »Richtig«, sagte ich. »Da bin ich genau wie du, Harry.« »Jungs, Jungs«, meinte Molly. »Steckt die Dinger sofort wieder ein oder ich schneid' sie euch ab. Wir haben hier so was wie 'ne Deadline. Truman wird uns zum Turm bringen.« »Wisst ihr, dass er infiziert ist?«, fragte Roger. »Ich war es«, sagte Truman hoheitsvoll. »Ich habe es mit meinem verbesserten Hirn zerstört.« »Wie es aussieht, hast du das nicht«, sagte Roger und sah Truman gedankenverloren an. »Mit meinem wundersamen Röntgenblick kann ich sehen, dass es immer noch da ist. Meine Güte, ich kann's sogar riechen, so weit ist es entwickelt. Es hat dich nur denken lassen, es sei zerstört, damit es unbemerkt wachsen und dich beeinflussen konnte. Schade. Es gibt keine Heilung, wenn man erst infiziert ist.« »Keine?«, fragte Molly. »Nicht mal in der Hölle kennt man eine«, sagte Roger und sah dabei immer noch Truman an. Truman wollte etwas sagen und ließ es dann wieder. Er sah abgelenkt aus, als höre er auf eine innere Stimme. Und dann sah er uns mit entschlossener Miene an. »Tötet mich«, sagte er. »Ich will als Mensch sterben und während ich ich selbst bin. Und nicht als irgendein verdammtes Alien. Tötet mich!« »Ist mir ein Vergnügen«, sagte Roger Morgenstern. Er lehnte sich über den Tisch, schnappte sich den Stahlheiligenschein, der die Dornen in Trumans Gehirn miteinander verband und riss ihn ab. Truman kreischte bedauernswert, vor Schmerz und Schock. Dann packte Roger die Dornen und zog sie einen nach dem anderen heraus. Es ging nur ruckend, Zentimeter für Zentimeter und dank der dämonischen Stärke Rogers, und wurde begleitet von pulsierendem Bluten und Stücken von Hirnmasse und dem Krachen und Splittern von Knochen. Truman schrie jetzt die ganze Zeit, ein beinahe tierischer Laut, seine Arme zucken hilflos, aber keiner von uns trat vor, um Roger aufzuhalten. Ich wollte wegsehen, aber ich zwang mich, weiter zuzusehen, als Strafe. Als alles vorbei war, lag Truman über seinem Schreibtisch, sein Kopf war zerfetzt und er zuckte noch leicht, während das Leben aus ihm wich. Roger inspizierte den letzten Stahldorn gründlich, als beinhalte er irgendwelche Geheimnisse, dann zuckte er mit den Achseln und warf ihn beiseite. Harry funkelte ihn an. »Es war nicht nötig, so brutal zu sein!« »Oh nein, nötig war das nicht«, erwiderte Roger. »Aber es hat Spaß gemacht.« Er lächelte mich an. »Du kannst keinem von uns erzählen, dass du nicht selbst davon geträumt hast, Eddie.« »Nein«, antwortete ich. »Ich habe nie davon geträumt, irgendetwas derartiges zu tun, Höllengezücht.« »Na dann«, meinte Roger. »Lohnt sich nicht, sich über vergossenes Hirn aufzuregen.« »Ich könnte die Höllenbrut für dich umbringen, wenn du das möchtest«, bot Mr. Stich an. Er hätte auch eine Bemerkung über das Wetter machen können. Roger wollte etwas sagen, warf einen Blick auf Mr. Stich und überlegte es sich. »Danke fürs Mitdenken«, sagte ich. »Aber nein.« »Wir müssen zum Turm«, erinnerte uns Molly, ihre Stimme war klar und konzentriert. »Es ist nicht weit. Ich kann seine Gegenwart durch meine Magie spüren.« »Dann geh du voran«, meinte ich. Wir folgten Molly durch das Labyrinth der Stahlkorridore und hinunter in den tiefsten Teil des unterirdischen Bunkers, bis wir in ein großes Gewölbe aus Stahl kamen, das sich direkt unter den Steinen von Stonehenge befand. Und da war er, tief verankert in einer Grube, die aus der nackten Erde gegraben worden war, hoch und komplex und unnatürlich geformt - der letzte Turm der Abscheulichen. Es war kein Platz gewesen, ihn in die Höhe zu bauen, also hatten sie ihn nach unten gebaut. Wir konnten nur die obersten fünf, sechs Meter sehen, ein Durcheinander von Alien-Technologie, kombiniert mit Fleisch und Blut. Metall und Kristall schienen nahtlos in lebende Teile überzugehen. Wir alle umkreisten den offen stehenden Gipfel des Turms. Unsere Füße sanken in die nasse Erde. So dicht daneben gab es keinen Zweifel daran, dass das Ding auf seine eigene, ekelhafte Weise lebte. Es lebte und es war wachsam. Es wusste, dass wir da waren. Und es machte sich nichts daraus. Es war vollständig und es war aktiviert. Wir waren zu spät gekommen. Es bildete sich bereits ein Portal, eine Öffnung an einen anderen Ort. Ich konnte ihn weder sehen noch hören, ihn aber auf eine primitive, tiefe Art und Weise fühlen: Wie ein großes Auge, dass mich beobachtete, wie eine Wunde in der Welt, wie ein Tor in die Hölle. Wie kalter, heftiger Wind, der mich aus einer Richtung anblies, die ich nicht ausmachen konnte, und der mich bis auf die Seele frieren ließ. Langsam wurden mir auch Geräusche bewusst und ich glaube nicht, dass ich sie mit meinen Ohren hörte. Es waren Stimmen; heulend, kreischend, lachend, verbunden mit Lauten von zerreißendem Fleisch und großen Kriegsmaschinen, die bis in alle Ewigkeit aufeinanderstießen. Alle Geräusche der Hölle auf Erden. Molly packte mich am Arm. Sie schüttelte mich kräftig und ich kam wieder zu mir. Harry, Roger und Giles und selbst Mr. Stich standen immer noch mit großen Augen da und starrten gebannt auf das sich formende Portal und auf die seltsamen Energien, die um den Turm herum wirbelten und fluktuierten. »Wir müssen etwas tun!«, sagte Molly. »Das Tor öffnet sich! Sie kommen!« »Ich glaube, Jacob und Jay haben es wohl doch nicht geschafft«, murmelte ich wie betäubt. »Eddie …!« »Ich weiß!«, sagte ich. »Ich weiß.« Ich sah sie an. »Wie fühlst du dich, Molly?« »Ich bin immer noch ich«, sagte sie und erwiderte meinen Blick fest. »Aber ich weiß nicht, für wie lange noch.« »Dann los«, sagte ich. Ich griff in meine Jackentasche und holte Janitscharen Janes Waffe heraus, die für die letzte Lösung. Das Klägliche Ende. Es sah immer noch nach nichts Besonderem aus. »Haben wir das Recht, unser ganzes Universum zu zerstören, nur um die Hungrigen Götter zu vernichten?«, fragte Molly. »Verdammt, nein«, sagte Roger plötzlich. Er hatte seine Aufmerksamkeit vom Turm endlich abwenden können und sah auf das kleine Ding in meiner Hand. »Ist es das, was ich denke? Eddie, das kannst du nicht machen. Nicht, solange es noch eine Chance gibt. Irgendeine!« Ich musste grinsen. »Ein Dämon, der an die Hoffnung glaubt. Jetzt habe ich wirklich alles gesehen.« »Ich glaube an ihn«, sagte Roger und sah Harry an. »Ich muss hoffen - dass wir es zusammen schaffen. Nicht einmal ein Dämon ist automatisch für alle Zeiten verdammt. Du musst die Welt retten, Eddie, damit wir einen Ort haben, an dem wir zusammen alt werden können.« »Wenn die Hungrigen Götter durchkommen, dann werden sie diese Welt mit allem darin zerstören«, sagte Molly. »Und dann weitermachen, von Welt zu Welt, bis es nichts Lebendiges mehr gibt. Das ist es, was sie tun. Sie sind kosmische Parasiten.« »Ich habe nicht die Absicht, dieses Universum zu zerstören. Oder diese Welt«, sagte ich. »Hatte ich nie. Ich denke … ich warte, bis das Portal weit genug geöffnet ist. Dann werde ich durchgehen, in ihr Universum, in ihre Welt und es dann in die Luft jagen, bevor sie durchkommen können.« »Das kannst du nicht allein tun«; sagte Molly sofort. »Du wirst meine magischen Kräfte brauchen, nur um in ihrer Welt lange genug zu überleben, um den Knopf zu drücken. Ich werde dich nicht allein sterben lassen.« »Molly …« »Welchen Grund hätte ich schon zu leben ohne dich?«, sagte Molly. »Welchen Grund soll ich haben, zu leben, so wie ich bin?« »Und mich wirst du auch brauchen«, sagte Giles Todesjäger. Er hielt Harry und Mr. Stich an den Armen und zog sie vom Turm weg. Beide schüttelten den Kopf und kamen wieder zu sich selbst. Giles sah mich ruhig an. »Du wirst mich brauchen, um zu überleben und in einer Alien-Welt agieren zu können. Du bist das nicht gewohnt. Ich schon.« »In Ordnung«, sagte Harry, blinzelte heftig und bemühte sich, nicht in Richtung Turm zu sehen. »Roger und ich und Mr. Stich bleiben hier und überwachen die Lage.« »In der Tat«, sagte Mr. Stich. »Ich kenne meine Grenzen.« Er nickte mir kurz zu. »Du bist natürlich ein Drood und hast deshalb keine. Das weiß jeder.« Ich sah Giles an. »Ich habe dich nicht über Tausende von Jahren hierher gebracht, damit du für etwas stirbst, das dich nichts angeht.« Er zuckte leichthin mit den Achseln. »Ich bin ein Krieger. Ich kämpfe. Und außerdem, hier geht's neben der Rettung der Menschheit auch um Familie. Du hast mich ins Boot geholt und mir das Gefühl gegeben, einer von Euch zu sein. Das kannte ich vorher nicht. Ich hatte nie wirklich eine Familie. Du hast mir den Wert von Pflicht und Ehre und Verantwortung gezeigt. Du hast mir gezeigt, was es wirklich heißt, ein Mensch zu sein; ein Drood und ein Todesjäger zu sein. Also kämpfe ich und wenn es sein muss, sterbe ich auch für das, was du mir gegeben hast. Alles für die Familie.« Roger wandte sich zum Turm um und funkelte ihn böse an. »Es weiß, dass wir etwas planen. Es hat eine Art Ruf ausgesandt, oder eine Warnung. Es hat irgendetwas beschworen.« Wir fuhren herum, denn aus dem Inneren des Bunkers hörten wir Bewegungen. Das Geräusch von Leichen, die sich erhoben und langsam schlurfenden Schritten … und ich wusste sofort, was das war. Alle Toten in Trumans Basis erhoben sich dank der Macht des Turms, herbeibefohlen, um ihn zu verteidigen, um ihn in Zeiten der Not zu verteidigen. Die Toten wurden gerufen, um die Lebenden zu zerschmettern. Ich grinste Harry an. »Sieht aus, als käme es jetzt doch auf dich an. Bleib hier und halt diese Dinger in Schach, so lange du kannst. Nur für den Fall, dass wir drei wiederkommen. Man weiß ja nie.« »Ich werde hierbleiben und aushalten, bis du wiederkommst oder die Hölle zufriert«, meinte Harry. »Kann sein, dass ich ein Bastard bin, aber ich bin auch ein Drood. Solange es noch ein Stück Hoffnung gibt, warte ich hier auf deine Rückkehr.« Das Portal öffnete sich rund um den Turm, und faltete sich dabei so vielfach auf wie eine monströse außerirdische Blume. Seine Form ergab überhaupt keinen Sinn, aber ich konnte etwas dahinter und jenseits davon sehen. Etwas, das mit jeder Sekunde realer wurde. Ich ging in die ausbrechenden Energien hinein, mit Molly Metcalf an einer Seite und Giles Todesjäger an der anderen. Die Welt blieb hinter uns zurück. Kapitel Sechzehn Hochspannung Der andere Ort traf mich wie ein Hammer und ließ mich in die Knie gehen. Allein das Gewicht dieser Welt war viel mehr als ich aushalten konnte. Es war, als wäre ich in einer Ghoulstadt, nur viel stärker und viel schlimmer. Der Himmel leuchtete in einem grellen Licht, blendend hell, als wäre das ganze Firmament eine einzige Sonne. Die Luft war mit Hunderten von Gerüchen übersättigt, so duftend und faulig und intensiv, dass sie darum zu kämpfen schienen, in meinen Kopf zu kommen. Überall Geräusche; scharf und schneidend, tief und beunruhigend durchdrangen sie mein Fleisch und hallten in meinen Knochen wider, als kratze jemand mit seinen Nägeln über meine Seele. Ich umarmte mich selbst, um mich davor zu bewahren, auseinanderzufallen. Ich schlug die Augen nieder, um mich vor dem weißglühenden Himmel zu schützen, doch der Boden unter mir hob und wand sich, war mit überkomplizierten Formen bedeckt, die Pflanzen hätten sein können oder Insekten oder etwas vollkommen anderes. Es gab so viele Details, dass meine Augen bei dem Versuch tränten, das alles zu verstehen. Alles in dieser neuen Welt quoll über vor Leben, als wären selbst der Boden und die Steine lebendig und aufmerksam. Alles pulsierte mit einer beunruhigend aggressiven Lebendigkeit. Überall war Bewegung um mich herum, schnell und flink, als würde nichts je stillstehen, nicht einmal für einen Moment. Willkommen in der höheren Dimension. Willkommen in einer besseren Welt. Willkommen in der Heimat der Hungrigen Götter. Alles, was ich tun konnte, war, nicht zu kotzen. Ich fühlte und sah gleichzeitig, dass Molly neben mir ebenfalls in die Knie ging, zitternd und schaudernd aufgrund des Übergangsschocks. Ich griff blind nach ihr und sie nach mir und wir klammerten uns fest aneinander, um uns zu trösten. Überwältigt von einer Welt, für deren Sinneseindrücke wir nie richtig ausgerüstet worden waren. In dieser höheren Dimension war alles zu groß, zu real, zu wahnsinnig kompliziert. Wir wären verloren gewesen, wenn da nicht Giles Todesjäger gewesen wäre. Genau wie er gesagt hatte, hatte ihm seine Erfahrung mit der Überwindung fremder Welten genug an die Hand gegeben, um mit dieser hier fertig zu werden. Er kroch zu uns hin und sprach leise und beruhigend auf uns ein. Seine Stimme wirkte wie das einzig Vernünftige und Normale in dieser neuen Existenz. »Es ist nur ein anderer Ort«, meinte er. »Die Details ändern sich, aber das ist es auch schon. Damit könnt ihr fertig werden. Ihr könnt euch anpassen. Weil ihr Menschen seid und es das ist, was Menschen tun. Wir rollen uns ab, wenn wir getroffen werden und dann kommen wir kämpfend zurück. Wenn ihr mit dem, was ihr seht, nicht zurechtkommt, dann überlasst es eurem Verstand, es in etwas zu übersetzen, das ihr versteht. Ihr seid stärker als ihr glaubt, Eddie, Molly. Egal, wie seltsam die Dinge hier wirken, erinnert euch: Es ist nur ein anderer Ort.« Seine Stimme und seine ruhige Vernunft waren eine Rettungsleine, an die ich mich klammern konnte. Etwas, das ich benutzen konnte, um festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Langsam baute ich eine Schale aus Widerstand um mich herum auf. Ich weigerte mich, vom Lärm des Ortes besiegt zu werden und Stück für Stück erlangte ich die Kontrolle über meinen Verstand zurück. Schließlich war ich in der Lage, wieder aufzustehen, und Molly ebenso. Wir atmeten beide immer noch schwer und hielten uns nach wie vor aneinander fest, um uns zu stützen, aber wir waren wieder voll da. Vielleicht lag wirklich etwas Jämmerliches darin, in dieser größten aller Welten menschlich zu sein, aber selbst das kleinste Insekt kann einen tödlichen Stich versetzen. Einen ›kläglichen‹ Stich gewissermaßen. »So lange das Tor offen bleibt und wir in der Nähe sind, bringen wir etwas von unserer Welt mit in diese«, sagte Molly. »Wie beim Weg der Verdammnis. Wir sind gewissermaßen vor der vollen Wucht dieser Erfahrung geschützt.« »Nun, dafür wollen wir dem lieben Gott dankbar sein«, sagte ich. »Ich denke wirklich nicht, dass ich mit einer Vollerfahrung fertig werden würde. Alles hier ist vollkommen überdreht.« »Es ist ziemlich anstrengend«, sagte Giles. »Und ich habe schon einiges hinter mir.« »Wir müssen tun, wozu wir gekommen sind und solange wir in der Lage dazu sind«, sagte ich. »Molly, ich glaube - … Molly?« »Ach, scheiße«, sagte Molly. Ich zwang mich, meinen Blick vom Boden zu heben und in die Richtung zu sehen, in die sie blickte. Ich hörte Giles nach Luft schnappen, als er sie ebenfalls sah. Sie waren überall um uns herum. Die Eindringlinge, die Vielwinkligen, die Hungrigen Götter. Große, immense und lebende Dinge, riesig wie Berge. Sie existierten in mehr als nur drei räumlichen Dimensionen gleichzeitig, sodass mein Verstand ihre Erscheinung als eine Reihe sich überlappender Bilder begriff, die sich immer wieder ein wenig veränderten und nie ganz einheitlich waren. Ihr Anblick flimmerte in meinem Kopf, ihr Eindruck ebenso wie ihr Bild. Es waren Kreise, endlose Reihen, eine unmögliche Anzahl von Anblicken, die sich bis in weite Ferne erstreckten, so weit, wie ich mich nur trauen konnte, zu sehen. Abwartend. Sie ragten bis in den Himmel und alle bewegten sich langsam, aber unerbittlich vorwärts. Zu dem Portal, das vor uns immer noch pulsierte und sich auffaltete. Mir wurde schwindlig, wenn ich zu ihnen aufsah, so als würde ich von meinen Füßen gerissen und nach oben in den unerträglichen Himmel gewirbelt. Ich hatte keine Ahnung, woraus die lebenden Berge bestanden, nur, dass es etwas Niederträchtiges und Ekelhaftes war, wie Krebszellen, mit Folgen, die mein Gehirn sich nicht ausmalen mochte. Sie hatten keine sichtbaren Glieder oder Sinnesorgane, aber ich wusste, dass sie wussten, das wir hier waren. So klein wir im Vergleich waren, sie sahen uns und sie kannten uns und sie hassten uns. Da war so viel mehr um sie als mein begrenzter, menschlicher Verstand hätte erfassen können; als ich je hätte verstehen können. Ich wusste das. Ich zwang mich, mich auf das zu konzentrieren, was meine Augen mir zeigten. Sie waren groß und sie waren uralt und sie waren Monster. Ihre Natur wirkte über ihre Form hinaus und wurde auch nicht von irgendeinem falschen Schamgefühl versteckt. Sie wussten, was sie waren, was sie aus sich gemacht hatten, und genossen es. Sie waren bösartig, boshaft wie das beinahe reine Konzept davon und hassten alles, was nicht wie sie selbst war. Weil das Einzige, was sie nicht verschlingen konnten oder verschlingen würden, sie selbst waren. Sie fraßen Leben und das nicht nur als Nahrung, sondern um der reinen Freude willen, es zu zerstören. Antigötter, die nur damit beschäftigt waren, die Schöpfung zu verschlingen. »Wie sollen wir das da bekämpfen?«, fragte ich. »Gar nicht«, sagte Molly. Ich sah mich schnell zu ihr um. Etwas in ihrer Stimme machte mich nervös und ich sah, wie mich etwas Fremdes aus Mollys Augen anblickte. Sie sah … anders aus, ihr ganzes Gesicht strahlte eine andere Persönlichkeit aus. Sie hielt sich sogar anders, als würden sich neue Dinge in ihr bilden, die ihre Gestalt und ihr Gleichgewicht änderten. Giles fluchte leise hinter mir und griff nach seinem Schwert. Ich bedeutete ihm eilig, damit aufzuhören und richtete meine Aufmerksamkeit ganz auf Molly. Ich wusste, was passiert war. Die Abscheulichen waren nur Auswüchse der Hungrigen Götter und so nah an ihrer eigenen Realität war die Drohne in Molly erwacht und hatte die Kontrolle übernommen. »Richtig«, sagte Molly. Sie klang nicht wie sie selbst. Sie lächelte, wie Molly nie gelächelt hätte. In ihrem Blick lag Hass und Verachtung. »Ich habe jetzt das Steuer übernommen. Molly gönnt sich ein kleines Nickerchen, während ich mit euch rede. Ich habe das schon einmal getan, wisst ihr, als ich U-Bahn Ute getötet habe. Oh ja, das war ich. So einfach und leicht war es, und keiner hat es gemerkt. Kam es euch nicht ein wenig verdächtig vor, dass sie so plötzlich starb? Ohne guten Grund? Nein? Na ja, gib dir nicht die Schuld, Eddie. Du hast so viel im Kopf.« Sie streckte sich langsam und lustvoll, in einer nicht ganz menschlichen Art. »Es tut gut, wieder draußen anstatt in einem so kleinen und begrenzten Ding gefangen zu sein, die Welt durch ihre Augen zu betrachten und nur Pläne zu schmieden. Ich bin noch nicht stark genug, um sie ganz zu übernehmen, ihren Verstand und ihre Seele zu durchdringen und zu meiner zu machen. Ich habe mehr Potenzial, als ich derzeit nutzen kann. Aber du hättest mich nie hierher bringen dürfen, Eddie. Du hättest mich nie nach Hause bringen dürfen.« »Wie lange … schaltest du sie schon aus und übernimmst sie?«, fragte ich. Mein Mund war trocken, aber ich rang um eine feste Stimme. »Nicht lange. Es war nicht leicht, Molly von innen zu korrumpieren, so geschützt wie sie ist von ihrer Magie und den Bedingungen der ganzen unerfreulichen Verträge und Abkommen, die sie für ihre Macht eingegangen ist. Du würdest einige Sachen nicht glauben, die sie getan hat, und einige der Dinge, die sie versprechen musste, damit sie die Hexe der Wilden Wälder werden konnte. Ich denke, du verdächtigst mich, Eddie, stimmt's, aber du hast nicht gefragt, weil du's gar nicht wissen wolltest. Trotzdem: Keine Sorge deshalb. Ich werde zu ihr werden und sie wird nichts weiter als eine Drohne sein, um den Meistern zu dienen, solange sie durchhält.« »Warum U-Bahn Ute umbringen?«, fragte ich. »Sie war deine Freundin.« »Nicht meine Freundin, Eddie. Die liebe Ute musste weg, weil sie vielleicht erkannt hätte, dass ihr den Weg der Verdammnis benutzen könntet, um in die höheren Dimensionen zu gelangen. Und wir mögen keine Besucher hier. Wirklich nicht.« »Und warum hast du Sebastian getötet?« »Das war ich gar nicht, Liebelein«, sagte das Ding in Molly. »Warum sollte ich einen von uns töten? Also, gib mir die Waffe. Das Kästchen, das Klägliche Ende. Deine Mission ist vorbei, die Jagd vergeblich und dein Krieg verloren.« »Das kann ich nicht tun«, sagte ich. »Molly würde das nicht wollen.« Eine silberne Klinge erschien in Mollys Hand und sie legte die Klinge an ihre eigene Kehle. Es war das Athame, seine übernatürlich scharfe Klinge schnitt ihr bereits die Haut ein, sodass Blut ihren Hals herunterfloss. Molly lächelte mit Schadenfreude in den Augen. »Tu, was man dir sagt, kleiner Mensch, oder ich schneide mir die Kehle durch. Und wenn sie tot ist, dann nehme ich mir das Kästchen so.« »Bist du wirklich bereit zu sterben?«, fragte Giles. »Ich kann nicht sterben. Ich bin Teil von etwas Größerem. Du würdest das nicht verstehen. Ich existiere nur zu einem Zweck. Gib mir die Box, Eddie, und du bekommst Molly zurück. Für eine kleine Weile.« »Sie würde lieber sterben, als sich in dich zu verwandeln«, sagte ich. »Sie würde glücklich sterben, wenn das hieße, dass sie dich und deine Meister mit sich nehmen könnte.« Ich hob langsam meine rechte Hand, um ihr das silberne Kästchen mit dem roten Knopf zu zeigen. »Wenn ich diesen Knopf drücke, verschwindet dieser ganze Ort hier auf immer und ewig. Ein zweiter Urknall, einer, um ein Universum zu beenden. Kein Hier mehr, kein du, keine Hungrigen Götter. Molly würde ihren Tod als einen Triumph sehen, wenn sie das erreichte.« »Bist du sicher?«, sagte das Ding mit einer Stimme, die so nach der echten Molly klang, dass es mir ins Herz schnitt. »Ja«, sagte ich. »ich bin verdammt sicher, dass sie in der Erwartung zu sterben hierher kam. Und ich glaube, mir ging es ebenso. Wir haben nie wirklich daran gedacht, wieder zurückzukommen. Und wenigstens können wir auf diese Weise zusammen sterben.« »Und wann genau wolltet ihr mir das sagen?«, fragte Giles. Ich sah ihn an. »Du kannst immer noch gehen«, sagte ich. »Das Portal ist immer noch da und steht offen. Du hast alles getan, was man von dir erwarten konnte, und hast Molly und mich so lange unterstützt, dass wir tun konnten, was nötig war.« »Nein«, sagte Giles. »Es gibt einen besseren Weg. Gib mir das Klägliche Ende.« »Was?« »Ich werde es tun«, sagte Giles. »Entschuldigt«, sagte die Drohne in Molly. »Aber ich halte immer noch ein sehr scharfes Messer an meine Kehle.« »Nimm Molly mit dir durch das Portal«, sagte Giles. »Ich werde das mit dem Knopfdrücken erledigen, die Hungrigen Götter in die Luft jagen und den Vorhang fallen lassen. Wenn sie zerstört sind, sollte das mit den Abscheulichen ebenfalls erledigt sein, einschließlich dem in Molly. Ihr beide könnt zusammen leben, Eddie. Mein Geschenk an euch.« Er lächelte kurz. »Dafür, dass ihr mir Dinge gezeigt habt, die ich nie für möglich gehalten hätte. Dafür, dass ihr mich in eure Familie aufgenommen habt. Und weil - weil ich nie das erlebt oder gekannt habe, was ihr beide, du und Molly, miteinander habt und erlebt.« »Ich dachte … du sagtest doch, du hättest in deiner Zeit Arger wegen einer Frau gehabt?« »Oh, es gab immer Frauen«, sagte Giles Todesjäger. »Das gehört zum Job, wenn man Oberster Krieger ist. Aber niemand Besonderes. Niemals eine, die etwas bedeutet hätte. Also nimm deine Molly und hau ab. Ich kann das erledigen. Eigentlich muss ich es sogar tun. Irgendeiner muss das Tor von dieser Seite aus schließen, um sicherzugehen, dass die weltenzerstörenden Energien nicht durch das Tor in eure Welt rückkoppeln. Ich habe ein paar Energiegranaten, die reichen müssten, die Energiematrix zu unterbrechen und das Portal zu schließen.« »Ich hab dich doch nicht all die Jahre zurückgehen lassen, nur damit du stirbst«, sagte ich. »Vielleicht hast du genau das«, sagte Giles. »Wer weiß? Die Zeit spielt uns allen komische Streiche.« »Ich habe einen Dolch an meiner Kehle«, kreischte Molly. Giles Arm schoss nach vorn und riss Molly den Dolch einfach aus der Hand. »Nein, hast du nicht. Und jetzt benimm dich.« Molly funkelte erst ihn, dann mich böse an. Ihre Augen wurden gefährlich dunkel. »Glaubst du wirklich, dass man den Göttern mit einem Mechanismus Angst machen kann? Mit eurer kleinen Schachtel Technik?« »Da gibt's nur einen Weg, das rauszufinden«, sagte Giles. »Jetzt gib die Box schon her, Eddie.« »Das wird nicht funktionieren«, sagte Molly. »Wir werden es nicht funktionieren lassen. Nichts passiert hier, das wir nicht erlauben.« Und dann sahen wir alle hoch, verwirrt, als ein neues Geräusch in die höhere Dimension hereinbrach, ein triumphierendes Heulen wie ein riesiges Dampfventil, das wie ein Dopplerton aus einer unendlichen Entfernung zu uns herübertönte. Die Himmel brachen auseinander und der Zeitzug donnerte über den überhellen Himmel. Er stampfte direkt über die berghohen Hungrigen Götter hinweg. Ein großes, schwarzes Monster von einer altmodischen Dampflok, mit röhrender Maschine und seltsamen Energien, die um sie funkelten und fluoreszierten. Sie zog einen Schweif von regenbogenfarbenen, ausgestoßenen Tachyonen hinter sich am Himmel her. Jacob und Jay Drood, der lebende und der tote, hatten es doch geschafft. Die Hungrigen Götter kreischten auf, ein schrecklicher, unerträglicher Schrei, voller Zorn, Bosheit und Verachtung. Empört darüber, dass etwas aus einer geringeren Welt es wagte, in ihr verstecktes Heim einzudringen. Ivor ließ sein Dampfventil trotzig pfeifen, ein klares, helles Geräusch. Der Zeitzug kam jetzt mit kontrollierter Geschwindigkeit herunter und hielt dann einfach in der Luft an, als wäre die Zeit selbst stehengeblieben. Nichts bewegte sich um uns herum, alles war still und plötzlich stand der Geist von Jacob Drood direkt vor mir und lächelte sein altes, verschmitztes Lächeln. Er streckte einen Zeigefinger aus und stupste Molly an die Stirn. Sie schwankte plötzlich und schüttelte den Kopf. »Was? Was ist passiert?«, fragte sie. »Eddie, warum siehst du mich so an? Und Jacob, was machst du denn hier?« »Ich rette die Welt«, sagte Jacob großartig. »Ich habe gerade den Reset-Knopf für euch gedrückt. Ich weiß allerdings nicht, wie lange das anhält, also passt auf. Ich muss euch ein paar Sachen sagen.« »Was machst du hier?«, fragte ich. »Ich meine, warum bist du nicht oben im Zeitzug?« »Das bin ich«, meinte Jacob. »Ich bin oben und gleichzeitig hier unten. Es ist erstaunlich, was man alles lernen kann, wenn man tot ist. An zwei Orten gleichzeitig zu sein, ist ein Kinderspiel, wenn man keinen materiellen Körper hat, um den man sich sorgen muss. Na, eigentlich muss ich das ja schon, aber das übernimmt Jay gerade.« Sein uraltes Gesicht wurde ernst. Er warf einen Blick auf Ivor, die Zeitlok, die jetzt still am furchtbaren Himmel über den lebenden Bergen stand. »Hör zu, die Zeit wird jeden Moment weiterlaufen. Ivor kann sie nicht lange aufhalten, nicht gegen den kombinierten Willen der Hungrigen Götter, selbst mit all der Extrakraft, die er während der Reise gesammelt hat. Oh, Mann, Eddie, wir waren an Orten … das Universum ist so viel größer, als jeder von uns glauben würde! Also, wenn die Zeit weiterläuft, werde ich wieder oben in Ivor sein. Jay und ich werden den Zeitzug dann zum Zweck eines höchstwahrscheinlich apokalyptischen Aufpralls mitten in die Hungrigen Götter steuern. Alle zeitlichen Energien, die Ivor in sich hat, wird er in einer einzigen Explosion freigeben. Der Knall wird nicht groß genug sein, um die Hungrigen Götter zu zerstören, aber doch genug, um das Klägliche Ende starten zu können, egal, wie sehr die Vielwinkligen versuchen, es zu unterdrücken. Also, du darfst dann nicht hier sein, Eddie.« »Aber wenn das Portal offen bleibt …«, fragte Giles. »Wir können genug Energie zurückbehalten, um es zu schließen, kurz vor der Detonation«, sagte Jacob. »Ivor ist eine bemerkenswert gebildete Maschine, wenn man erst einmal gelernt hat, seine Sprache zu sprechen. Er ist zu viel mehr fähig, als man jemals von ihm wollte. Er will nicht sterben - aber er ist ein Drood und versteht, was Pflicht bedeutet. Er ist für eine Dampfmaschine übrigens auch sehr pragmatisch. Dass ich hier bleiben muss, versteht sich. Beide Ichs. Ich habe mit Ivor die Sache so arrangiert, dass er mit einem gewissen Betrag der Zeitenergie sicherstellt, dass mein Tod das Ergebnis zeitigt, das es sollte. Beim Aufschlag wird Jay sterben, aber sein Geist wird in der Zeit zurückgeschickt, um der Familiengeist zu werden. Und ich … werde endlich frei sein. Um weiterzugehen - und woanders Arger zu machen! Ich freue mich schon darauf.« »Muss es denn so kommen?«, fragte ich. »Gibt es keine andere Möglichkeit?« »Wir haben Glück, diese eine zu haben, Eddie«, sagte Jacob freundlich. »Die Hungrigen Götter werden zerstört, die Welt gerettet. Wir haben nicht das Recht, mehr zu erwarten.« Er sah Giles an. »Da ist sogar genug temporäre Energie übrig, um dich nach Hause zu schicken, Junge. Den ganzen Weg in die Zukunft. Halt einfach die Box fest und vertrau mir. Schließ die Augen, wenn es hilft.« Er wandte sich wieder an mich. »Auf Wiedersehen, Eddie. Du warst immer ein guter Freund. Und der Sohn, den ich nie hatte. Hör bloß nicht auf, der Familie Feuer unterm Hintern zu machen, nur weil ich nicht mehr da bin, um dich anzustacheln.« »Auf Wiedersehen, Jacob«, sagte ich. »Ich wünschte …« »Ich weiß«, sagte er. Er verschwand und Ivors trotziges Dampf-Pfeifen erklang wieder inmitten des aufbrandenden schrecklichen Krachs der Hungrigen Götter. Der Zeitzug schoss durch den weißglühenden Himmel und zog einen Schweif Tachyonendampf hinter sich her, als er unerbittlich auf die lebenden Berge zuflog. Giles streckte seine Hand nach dem Kläglichen Ende aus und ich gab es ihm. Er wog es in seiner Hand und lächelte kurz. »Auf Wiedersehen, Eddie. Auf Wiedersehen, Molly. Ich habe meine Zeit bei euch genossen. Es war … interessant.« »Auf Wiedersehen, Giles«, sagte ich. »Wo auch immer du hingehst und wo auch immer du endest, vergiss nie, du gehörst zur Familie.« Ich nahm Molly am Arm und ging in Richtung Portal. Es schnappte vor mir zu und war einfach weg. Molly riss auf einmal ihren Arm aus meiner Hand. Sie lachte jubelnd. Ihr Gesicht und ihr Körper gehörten nicht mehr ihr. »Du wirst nie hier rauskommen! Wir haben das Tor geschlossen, und du bist hier mit uns gefangen! Jacob wird diese Welt niemals zerstören, solange du hier bist!« »Natürlich wird er das«, sagte ich. »Er ist ein Drood.« »Stimmt«, sagte Giles. »Nichts spielt eine Rolle, nur die Familie, die Ehre und die Pflicht. Ich verstehe das jetzt.« Der Zeitzug fiel wie ein Hammer auf die Oberfläche zu und wurde dabei immer schneller. Wilde Energien explodierten aus der Dampfmaschine, als die lebenden Berge versuchten, sie zu bremsen oder aufzuhalten. Aber wo auch immer Ivor gewesen war, er war so stark geworden, dass die Hungrigen Götter ihn nicht berühren konnten. Er heulte aus dem Himmel hinab, und ich hätte schwören können, dass Jacob und Jay sich aus dem schwarzen Führerhaus lehnten und lachten und jubelten wie Schuljungen. Es musste einen Weg hier heraus geben. Es musste einen Weg geben. Wir waren doch jetzt nicht so weit gekommen, nur um hier zu sterben. Ich schubste Molly in Giles Arme und er hielt sie sicher fest, während sie sich wehrte und Flüche und Verwünschungen ausstieß. Ich durchsuchte beide Taschen mit meinen Händen nach etwas, irgendetwas, das helfen konnte. Ich hatte immer diese verrückten Spielereien, der Waffenmeister sorgte dafür. Aber nichts, das ich bei mir hatte, konnte mir hier helfen. Ich hätte Onkel Jack nach irgendetwas Besonderem fragen sollen, bevor ich ging, aber er sagte ja immer, dass ich sowieso nie benutzte, was er mir gab. Ich hielt inne. Und starrte auf mein Handgelenk. Da war es, das Teleport-Armband, das er mir gegeben hatte, und bei dem ich nie die Gelegenheit gehabt hatte, es auszuprobieren, weil immer etwas zu tun gewesen war. Es war nur ein Kurzstreckensprung, aber wenn ich in die übrig gebliebenen Energien des Portals trat, dann … Ich riss Molly aus Giles Armen, schrie ihm noch ein schnelles Auf Wiedersehen zu und warf dann sowohl Molly als auch mich in die Stelle, an der das Tor gewesen war. Gleichzeitig schrie ich die Worte, die das Armband aktivierten. Ein sehr kleiner Fleck öffnete sich und schluckte uns. Molly wurde steif in meiner Umarmung, ihre Stimme wurde plötzlich abgeschnitten. Ich warf einen Blick zurück auf Giles. Er winkte mit dem Stahlkästchen in der Hand zum Abschied. Hinter ihm sah ich Ivor, den Zeitzug, mitten in die lebenden Berge krachen. Seine Dampfpfeife blies frech bis zum letzten Moment. Die Hungrigen Götter schrien im Chor auf. Dann waren da ein unglaubliches Licht und ein noch lauterer Knall. Und eine Energiewelle drückte mich zusammen mit Molly aus dem Portal hinaus. Epilog Wieder in unserer eigenen Welt zu landen war, als komme man nach langen Jahren wieder nach Hause. Alles fühlte sich so richtig an, so normal und so willkommen. Trumans unterirdische Basis krachte um uns herum in unser Bewusstsein und Molly und ich trafen hart auf dem Boden auf. Wir rollten eine Weile in einem Chaos von Gliedern herum, wie Laub in einem andersdimensionalen Sturm. Schließlich hielten wir schlitternd am Rand der gewaltigen Grube an, die Truman für den Turm gegraben hatte. Eine Weile lagen wir einfach nur da, zerschlagen und mit blauen Flecken und schwer atmend. Molly war wieder sie selbst und sie klammerte sich an mich, als wolle sie mich nie wieder gehen lassen. Wir waren wieder zu Hause, da, wo wir hingehörten, und es fühlte sich so gut an, dass ich laut gelacht hätte, hätte ich nur die Energie besessen. Molly und ich kamen langsam wieder auf die Füße und halfen einander dabei. Wir sahen uns erst um, als wir hörten, dass Schritte nahten. Harry Drood und Roger Morgenstern rannten den Korridor hinunter. Sie sahen beide - wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt - froh aus, uns zu sehen. Sie blieben abrupt vor uns stehen, Harry schnappte sich meine Hand und schüttelte sie mit seinen beiden. »Ihr seid zurück! Endlich! Wo zur Hölle wart ihr?«, fragte Harry und behandelte meine Hand immer noch wie einen Pumpenschwengel. »Wir haben schon seit Ewigkeiten auf euch gewartet!« »Wir haben uns schon gefragt, ob ihr überhaupt wieder auftaucht«, fügte Roger hinzu. »Ach, verdammt«, sagte ich. »Nicht schon wieder ein Zeitsprung. Ich hätte damit rechnen müssen, wenn Ivor mit drinhängt. In Ordnung, wie lange waren wir diesmal weg?« »Beinahe zwölf Stunden!«, sagte Harry. »Wir haben angefangen, uns ernsthafte Sorgen zu machen«, meinte Roger. »Na ja, ich sage wir, aber …« »Zwölf Stunden?«, erwiderte ich. »Das ist für Ivor schon nicht schlecht. Mit zwölf Stunden kann ich leben. Harry, ich hätte diese Hand jetzt bitte gern zurück. Danke. Ich entnehme dem albernen Grinsen auf deinem Gesicht, dass wir Erfolg hatten. Was ist passiert, während wir weg waren?« »Jeder Abscheuliche auf dieser Erde ist tot«, sagte Harry. »Alle, in jedem Nest in jedem Land. Es war klar, dass ihr Erfolg gehabt hattet und dass wir jetzt sicher vor den Hungrigen Göttern sind, also haben wir hier eine Wache aufgestellt, um auf eure Rückkehr zu warten. Ich habe mich freiwillig für die erste gemeldet. Die Matriarchin sagte, hier würde immer jemand auf dich warten, egal, wie lange es dauert.« »Für immer, wenn nötig«, sagte Roger. »Die Matriarchin war da sehr entschieden. Sentimentale alte Schachtel.« »Großmutter hatte schon immer einen Sinn für große Gesten«, meinte ich. Ich sah zum Turm, in die Grube. Das Ding war ganz offenbar tot. Es schmolz langsam, der Stahl und die Technologie und die lebenden Teile rutschten und glitten langsam voneinander fort, vergammelten und fielen auseinander. Sie tropften in das Loch, das Truman dafür gegraben hatte und ich konnte mir keinen besseren Ort vorstellen, um es zu begraben. »Ich fühle mich scheiße«, sagte Molly plötzlich. Sie schüttelte den Kopf, als müsse sie ihn von Spinnweben befreien und zog dann eine Schnute. »Verdammt, es fühlt sich an, als hätte jemand seinen Abfall in meinem Kopf abgeladen. Habe ich richtig gehört, wir haben die Hungrigen Götter getötet? Scheint, als könnte ich mich an nicht viel von dem erinnern, was auf der anderen Seite passiert ist …« »Vielleicht nur der Stress interdimensionalen Reisens«, sagte ich schnell. »Das stellt immer großen Mist mit der Erinnerung an.« »Wenigstens bist du nicht mehr infiziert«, sagte Roger. »Der Abscheuliche, der in dir wuchs, ist völlig verschwunden.« Wir alle sahen ihn an. »Molly war infiziert?«, fragte Harry. »Wir lange hast du das gewusst?«, fragte ich. »Beinahe von Anfang an«, sagte Roger. »Man kann so was nicht vor meinen überlegenen Halbdämonensinnen verstecken.« »Warum hast du dann nichts gesagt?«, fragte Molly. »Ging mich nichts an«, sagte Roger leichthin. »Deine Magie hat es perfekt unterdrückt und es war klar, dass Eddie es wusste - und außerdem wollte ich wissen, was passieren würde.« »Und wann wolltest du mir davon erzählen?«, fragte Harry. »Keiner sagt mir je was.« »Also bin ich wieder ganz ich?«, fragte Molly. Sie grinste plötzlich. »Noch mehr in dieser Art und ich glaube an Happy Ends.« »Wo ist Giles?«, fragte Roger. »Hat er's nicht geschafft?« »Giles ist zu Hause«, sagte ich. »Jedenfalls hoffe ich das. Wo ist Mr. Stich?« »Hier«, sagte die ruhige, kalte Stimme des unsterblichen Serienkillers. Er kam hinter dem zerfallenden Turm hervor und nickte Molly und mir kurz zu. »Ich habe dem Turm beim Sterben zugesehen. Sehr faszinierend. Ich habe ein paar besonders interessante Stücke als Souvenirs herausgeschnitten. Seltsame Augenbälle und so etwas. Ich hoffe, keiner hat etwas dagegen.« »Hast du das die ganzen zwölf Stunden gemacht?«, fragte Molly. »Ich habe mir die Zeit vertrieben«, sagte Mr. Stich. »Ich wusste, ihr kommt zurück. Und ich wollte Lebewohl sagen, bevor ich gehe. Ich werde nicht mit ins Herrenhaus zurückkommen. Für mich gibt es dort nichts mehr, jetzt, wo Penny tot ist. Und ich bin sicher, dass der größte Teil der Familie einen Groll gegen mich hegt. Anwesende eingeschlossen.« »Ich habe dir vertraut!«, meinte Molly. »Ich habe für dich gebürgt!« »Du hättest es wirklich besser wissen sollen«, sagte Mr. Stich. »Besonders die Verdammten müssen ihrer Natur treu bleiben. Wenn ich dächte, dass man mich töten kann, dann würde ich vielleicht wieder mitkommen, aber so, wie es sich jetzt verhält … Ich werde wieder in die Welt zurückgehen, und in ihr herumwandern und schreckliche Dinge tun. Weil ich das muss. Bis ich irgendwann etwas so Furchtbares tue, dass ihr einen Weg finden müsst, um mich zu zerstören. Lebt wohl, alle miteinander. Bis wir uns wiedersehen.« Er verbeugte sich kurz, wandte sich um und ging fort. Wir ließen ihn gehen. Was hätten wir auch schon tun können? »Wenigstens gibt es jetzt kein Manifestes Schicksal mehr«, sagte Harry nach einer Weile. »Truman ist tot, zusammen mit all seinen Leuten hier, und seine Basis ist zerstört. Zumindest ein Böser weniger in der Welt, um den man sich Sorgen machen muss.« »Sei nicht so naiv, Harry«, sagte Molly müde. »Das Manifeste Schicksal ist eine Idee, eine Philosophie. Das wird es immer geben, in der einen oder anderen Form. Es wird immer die kleinen, verbitterten Leute geben, die bereit sind, einem charismatischen Führer zu folgen, der ihnen Frieden und Glück verspricht, um damit Gewalt und das Töten von Sündenböcken zu rechtfertigen.« »Aber das muss uns heute nicht kümmern«, sagte ich fest. »Also los, lasst uns nach Hause gehen.« Merlins Spiegel erschien plötzlich vor uns und öffnete sich in den Lageraum. Wir gingen der Reihe nach hindurch und schallender Applaus empfing uns. Jeder rief meinen und Mollys Namen. Der Waffenmeister wartete auf uns, um uns zu begrüßen. »Wusste ich doch, dass ihr wiederkommt«, sagte er schroff. »Hab ich nie bezweifelt. Wie war es in der höheren Dimension? Wie sahen die Hungrigen Götter aus? Habt ihr mir ein paar interessante Souvenirs mitgebracht?« »Hallo, Onkel Jack«, sagte ich. »Schön, wieder hier zu sein.« Natürlich musste es eine große Feier geben. Die Familie ist schon immer groß in Zeremonien und Festivitäten gewesen. Also ging - nachdem Molly und ich direkt ins Bett gefallen waren und einmal rund um die Uhr geschlafen hatten -, das Gerücht um, dass wir im Ballsaal erwartet wurden. Wir warfen uns in unsere besten Klamotten und machten uns auf den Weg. Nur um festzustellen, dass wahrscheinlich die ganze, verdammte Familie sich an einem Ort versammelt hatte und tanzte, trank und sich den Bauch vollschlug vor lauter Freude darüber, dass die Welt doch nicht untergegangen war. Es sah so aus, als hätten sie das schon eine ganze Zeit getan. Der Lärm war ohrenbetäubend. Seltsam hatte sein rosiges Leuchten oben an der hohen Decke angebracht und übertrug Tanzmusik aus dem Nichts. Die Leute tanzten wie verrückt, tranken großzügig und schwatzten laut miteinander, während sie die riesige Menge Essen vertilgten, das auf den Büffettischen an den vier Wänden aufgetischt war. Erst wurde alles still, als wir hereinkamen. Dann drehte sich jeder zu uns um, um uns zuzujubeln, klatschte in die Hände und trampelte mit den Füßen, und geriet bei unserem Anblick völlig aus dem Häuschen. Die schiere Lautstärke und das Gefühl waren so überwältigend, dass ich tatsächlich rot anlief. Ich nickte steif, lächelte und winkte zögerlich. Molly lächelte süß und badete in all dem. Ihr war noch nie in ihrem Leben etwas peinlich gewesen. Wir bahnten uns unseren Weg in den Ballsaal und jeder begann sofort wieder damit zu tanzen, zu trinken und zu essen. Wir sind schon immer eine sehr pragmatische Familie gewesen. Die Matriarchin hatte Molly und mich zu Ehrengästen ernannt, mit Reden und Präsentationen und all dem, aber ich hatte mein Veto eingelegt. Das war eine Feier von der Familie für die Familie. Wir hatten alle etwas dazu beigetragen. Wir alle hatten unsere Pflicht getan. Molly und ich wanderten einen Büffettisch entlang und versuchten etwas von diesem und jenem. Das meiste Essen im Angebot waren die bekannten Partysnacks im Familienstil. Molly liebte die mit Pastete gefüllten Babymäuse auf Cocktailspießchen, ich hielt mich lieber an den jungen Oktopus an Kaviar. Es gab Lemming-Mousse, Teufelshirn in Schwefelsoße und jede Menge gerösteten Schwan. Wir mögen es nicht, wenn der See zu bevölkert ist. Ihre Majestät die Königin hat uns eine Sondergenehmigung gegeben, Schwan essen zu dürfen. Als ob uns das interessiert hätte. Ich war immer noch müde trotz der vielen Stunden tiefen und traumlosen Schlafs. Selbst Molly fehlte noch das gewisse Etwas. Also schlenderten wir einfach ein wenig herum, sagten den Leuten Hallo und schüttelten Hände. Wir gestatteten uns, auf die Schulter geklopft zu werden, und ließen einfach alle erzählen, wie großartig sie uns fanden. Bekannte Gesichter tauchten hier und da auf. Die Bibliothekare William und Rafe nickten uns kurz im Vorbeigehen zu, zeigten aber sonst die feste Absicht, alles auf dem Büffettisch zu vertilgen, was nicht selbst von seinem Teller wegrennen konnte. Harry und Roger segelten vorbei, sie drehten sich zu den Klängen eines Strauß-Walzers. Sie sahen wirklich schneidig aus. Der junge Freddie Drood tanzte mit der Matriarchin, die beiden schwebten glatt und graziös über den Boden und für einen Moment konnte ich erahnen, was für eine prachtvolle Frau Martha in ihren besten Jahren gewesen sein musste. Callan humpelte zu uns herüber, in einer Hand einen großen Drink und eine noch größere Hähnchenkeule in der anderen. »Hallo, ihr beiden! Willkommen zurück! Was sollte das, zu glauben, dass ihr die Welt ohne mich retten könnt! Ich bin in einem Krankenhausbett aufgewacht und musste mir mit einer Bettpfanne und einer Krücke den Weg frei prügeln. Nur um zu sehen, dass ihr schon weg wart! Ich verpasse immer das Beste.« »Vielleicht das nächste Mal«, sagte Molly freundlich. »Hast du auf der Krankenstation Janitscharen Jane getroffen?« »Oh, aber sicher. Sie erholt sich. Langsam. Eine zähe alte Braut.« Callan holte tief Luft und sah plötzlich kleinlaut aus. »Eine ganze Menge anderer haben es nicht geschafft. Allein die Beerdigungen werden Wochen dauern. Die Familie wird eine lange Zeit brauchen, um darüber wegzukommen.« »Umso wichtiger ist es, dass gute Leute nach vorne treten und den Staffelstab übernehmen«, sagte ich. »Ich habe schon mit der Matriarchin darüber gesprochen, dich zu einem vollen Frontagenten zu machen.« Callan grinste. »Wurde auch Zeit. Ich werde euch allen zeigen, wie man das macht.« Und weg war er, um seine Persönlichkeit irgendwo anders glänzen zu lassen. Der Waffenmeister schlenderte vorbei. Er hielt eines seiner speziellen langstieligen Gläser, die er extra entworfen hatte, um nie auch nur einen Tropfen zu verschütten, egal, was man damit tat. Sah man auf die Weinflecken, die überall auf seinem Laborkittel zu sehen waren, war Version 15 nicht erfolgreicher als die Vorgängermodelle. Der Waffenmeister lächelte Molly und mir schwach zu, dann erinnerte er sich, warum er zu uns herübergekommen war und brachte uns schnell auf den neuesten Stand der Dinge. Er hatte noch nie viel für Small Talk übrig gehabt. »Dass die Hungrigen Götter tot waren, wussten wir in dem Moment, in dem es passiert ist, denn jede Drohne in jedem Nest auf der ganzen Welt starb oder verschwand exakt im gleichen Moment. Sie verschwanden sogar aus dem Inneren der armen besessenen Seelen, die wir in den Isolationszellen festgehalten haben. Alle Spuren der Infektion waren weg, einfach so. Die meisten der armen Teufel leiden immer noch unter den inneren Veränderungen und sogar Hirnschäden, aber die Mediziner können viel tun. Wenn nicht - nun ja, die Familie wird für sie bis zu dem Tag sorgen, an dem sie sterben, wenn es sein muss. Das Wichtigste ist, dass nicht ein Abscheulicher auf der weiten Welt mehr existiert! Da habt ihr beiden verdammt viel erreicht!« »Danke, Onkel Jack«, sagte ich. »Weißt du, wir hätten es nicht geschafft, wenn du nicht gewesen wärst. Dein Teleport-Armband war also doch noch nützlich.« »Ich wusste es!«, sagte er glücklich. »Ich bin froh, dass du es endlich geschafft hast, es für mich zu testen. Ich war beinahe sicher, dass es funktioniert.« Er wanderte wieder davon, bevor ich ihm eine reinhauen konnte. Beinahe sicher? Molly schauderte plötzlich neben mir. »Ich erinnere mich nicht genau daran, wie es war, infiziert zu sein. Etwas in mir zu haben, das meinen Verstand und meine Seele zerfraß. Vielleicht genau so.« »Ja«, sagte ich. Ich hatte ihr nicht erzählt, dass die Drohne zeitweise die Kontrolle über ihren Körper übernommen hatte und sie dazu benutzt hatte, um ihre alte Freundin U-Bahn Ute zu töten. Wozu wäre das gut gewesen? Manchmal besteht die Liebe darin, dem anderen etwas nicht zu sagen. »Haben sie schon herausgefunden, wer Sebastian umgebracht hat?«, fragte sie plötzlich. »Scheinbar nicht«, sagte ich. »Wahrscheinlich wurde er von dem eigentlichen Verräter getötet, der die Abscheulichen erst in unsere Welt brachte. Vermutlich wusste Sebastian etwas oder der Verräter glaubte das.« »Und du machst dir keine Sorgen darum, dass der Bastard immer noch hier ist?« Ich musste lächeln. »Wenn ich glauben könnte, dass es nur einen Verräter in der Familie gibt, dann wäre ich glücklich. Früher oder später wird er oder sie sich verraten. Das tun Verräter immer. Aber das - ist eine Geschichte für einen anderen Tag.« Die Matriarchin kam zu uns herüber, aufrecht und majestätisch wie immer und jeder beeilte sich, ihr aus dem Weg zu gehen. »Gut gemacht«, sagte sie, knapp wie immer. »Eine Krise erledigt, und so viele sind noch übrig.« »Für die Familie läuft also alles wie immer«, sagte ich. »So ziemlich.« Sie sah mich nachdenklich an. »Wenn du einverstanden bist, bin ich bereit, das tägliche Geschäft der Familie zu leiten, was dir Zeit lässt, um die Politik auszurichten und strategische Entscheidungen zu treffen. Du wärst immer noch verantwortlich, aber es gäbe auch eine Menge, das ich für die Familie tun kann.« »Natürlich gibt es das«, sagte ich. »Ich kann deine Erfahrung gut gebrauchen. Aber ich plane nicht, die Dinge für immer zu leiten. Ich habe kein Verlangen danach, Patriarch zu sein. Je eher ich eine Art demokratisches System in der Familie etabliere, damit wir unsere Führer wählen können, desto eher kann ich wieder Frontagent werden. Wo ich hingehöre.« Die Matriarchin zuckte mit den Achseln. »Die Familie hat so ziemlich alles ausprobiert, wie man am besten mit den Dingen fertig wird, aber wir sind immer auf die Matriarchin zurückgekommen. Weil das funktioniert. Aber du hast dir das Recht verdient, deine eigenen kleinen Experimente mit der Demokratie zu machen.« »Danke Großmutter«, sagte ich trocken. »Ist dir klar, dass ich die ganze Zeit Leute auf dich ansetzen werde, die dich für den Fall der Fälle beobachten werden?« »Aber natürlich«, sagte sie. »Ich erwarte nichts anderes.« Sie machte eine Pause und sah über die große Menge tanzender Paare, die sich im Ballsaal tummelten. »Ich vermisse Cyril. Er war als Junge ein so guter Tänzer.« »Er?«, fragte ich. »Der Seneschall? Der Mann war ein Schläger und ein Tyrann!« »Das war nur sein Job«, sagte die Matriarchin. »Cyril war immer so viel mehr als das. Er war so ein vielversprechender Schüler … Sag mir, Eddie, dass er gut gestorben ist.« »Ja«, sagte ich. »Er starb gut. Er stand gegen eine Übermacht, so dass wir anderen davonkommen konnten. Er hat der Familie Ehre gemacht.« »Natürlich«, sagte die Matriarchin. »Ich habe nichts anderes erwartet. Wir werden so bald wie möglich einen neuen Seneschall ernennen müssen. Er repräsentiert Disziplin und Hingabe an die Familie.« Sie sah mich streng an. »Aber was im Namen Gottes hast du dir dabei gedacht, einen Halbelben ins Herrenhaus zu bringen? Jetzt hat der Elbenrat einen eigenen goldenen Torques! Du musst ihn zurückholen, Edwin!« »Das steht auf meiner To-do-Liste ganz oben«, sagte ich. »Gut«, sagte die Matriarchin. Sie erlaubte sich ein halbes Lächeln. »Du hast dich gut geschlagen, Enkel. Du hast erreicht, wozu du aufgebrochen bist und hast die Macht der Droods in der Welt wiederhergestellt, indem du die Abscheulichen ein für alle Mal ausgeschaltet und gleichzeitig die Welt gerettet hast. Du hast die Familienehre wiederhergestellt und unseren Wert in den Augen derer, die eine Rolle spielen, bewiesen. Weiter so.« Und weg war sie, um sich weiter in der Familie zu zeigen und sicherzugehen, dass niemand zu viel Spaß hatte. Harry und Roger kamen vorbei und sprachen leise, aber angeregt miteinander. Molly und ich schlichen hinterher und lauschten schamlos. »Was meinst du damit, du wurdest geschickt, um mich zu verführen?«, fragte Harry. »Was ich sagte«, erwiderte Roger geduldig. »Ich wurde in diesem Pariser Nachtclub platziert, um dich mit meinem Charme einzuwickeln. Die Idee bestand darin, dass wenn wir ein Paar würden, du mich hierher bringen würdest, um die Familie zu treffen und dann hätte die Hölle ihren eigenen Agenten und Informanten hier. Mitten im Herzen der Droods. Die schiere Anzahl an Informationen, die ich hätte weitergeben können, all die Jahre …! Die Hölle denkt da immer gern langfristig.« »Aber … du hast dein Leben riskiert, um meins zu retten, indem du die Seelenkanone abgewehrt hast!«, sagte Harry. »Ja«, antwortete Roger. »Naja, scheint, als hätte auch eine Höllenbrut mal frei. Entspann dich, Süßer. Ich sage dir das nur, um dir zu zeigen, wie sehr ich dir vertraue. Die Dinge zwischen uns haben sich geändert. Eine getürkte Beziehung hat sich als echt erwiesen, sehr zu meiner Überraschung. Wer hätte auch ahnen können, dass eine Höllenbrut der Liebe fähig wäre?« »Ja«, meinte Harry. »Wer hätte das geahnt.« Sie gingen Arm in Arm weiter und Molly und ich ließen sie gehen. »Ich glaube, ich bin beleidigt«, sagte sie. »Er und ich waren Monate zusammen und in mich hat er sich nicht verliebt.« »Er war dich nicht wert«, sagte ich. »Oh, natürlich«, erwiderte sie. »Das versteht sich von selbst.« Wir sahen über die versammelte Familie, die den ganzen Ballsaal von Wand zu Wand füllte, der vor Fröhlichkeit und Feierlaune vibrierte. »Wenigstens ist jetzt alles vorbei«, sagte Molly. »Das weißt du besser«, erwiderte ich. »Es ist nie vorbei. Deshalb sind die Droods so nötig. Menschen sind sterblich, aber Dämonen wird es immer geben.« »Lass uns hier verschwinden«, sagte Molly. »Wieder ins Bett.« »Bist du müde?« »Nein«, grinste sie. »Na prima«, antwortete ich. »Ich glaube, die kommen hier ohne uns aus. Lass uns gehen. Ich muss dir was zeigen.« »Na, das hoffe ich doch«, sagte Molly. Als wir wieder in meinem Zimmer waren, oben im Herrenhaus, hatte ich meine Überraschung bereits installiert: Merlins Spiegel, aufrecht und an einem Ort am hinteren Ende des Zimmers platziert. Ich sprach die Worte. Unsere Spiegelbilder verschwanden und wurden von einem Portal in den Wilden Wald ersetzt, der Mollys Zuhause war. Sie schnappte nach Luft und klatschte entzückt in die Hände. Dann umarmte sie mich leidenschaftlich. »Ein permanentes Portal«, sagte ich. »Eine direkte Verbindung zwischen meinem Raum und deinem geliebten Wald, damit du kommen und gehen kannst, wie es dir gefällt und niemals weiter als eine Tür von mir entfernt bist. Das Beste aus beiden Welten. Wenn es das ist, was du willst …« »Oh, ich will es«, sagte Molly und schubste mich aufs Bett. »Ich will es.« Über den Autor New-York-Times-Bestsellerautor Simon R. Green hat an der University of Leicester Literatur und Geschichte studiert. Er schreibt für Film und Fernsehen ebenso wie fürs Theater, wo er ab und an sogar die Bühne als Schauspieler betritt. Den deutschen Lesern ist Green durch die erfolgreiche SF-Serie Todtsteltzer bekannt. Green lebt derzeit in England.